Auf einmal stehst du in deinem Lieblingsfilm

15.09.2014 - 10:00 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Throw Down
Panorama/moviepilot
Throw Down
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Bevor wir eure eingesendeten Texte zur Aktion Lieblingsszene vorstellen, ist die moviepilot-Redaktion gefragt. Wir schreiben über jene Filmmomente, die uns nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Eigentlich hatte ich nur Hunger. Nach 13 Stunden Flug, einer Odyssee durch die Großbaustelle New Kowloon und der Begutachtung meines fensterlosen Hostelzimmers hatte ich Hunger. Ein unruhiges Schlendern am Pier, um einen Blick auf die abendliche Skyline von Hong Kong Island zu werfen, änderte daran wenig. Wie das so ist mit dem Reisen. Da träumt man Jahre von einem bestimmten Ort, der dann mit jedem Klick auf "Buchung bestätigen" näher kommt und wenn man da ist, dröhnt erstmal der Kopf vor Müdigkeit und Reizüberflutung. Ich hatte also Hunger, wollte mich am liebsten hinlegen, konnte aber nicht, weil ich nun mal da war, endlich, und so weiter. Da ist jedes Nickerchen tote Zeit und außerdem musste dem Jetlag eisern widerstanden werden. Also weiterschlendern durch den Stadtteil Tsim Sha Tsui, der in den Hongkonger Filmen aus den 90ern von Machete schwingenden Teenie-Triaden und anno 2013 von Gucci-Pappbeutel schwingenden Shopaholics bevölkert wird. So der erste Eindruck. Vorbei an Restaurants und Imbissen, wobei der knurrende Magen vor jedem Etablissement von der eigenen Schüchternheit, wenn nicht gar Angst, überstimmt wurde, landete ich irgendwann vor einer Sackgasse. Und war endlich da.

Ein gelbes Neonschild hing von einer Häuserwand über der Straße: Jimmys Kitchen. Am Ende rote Schriftzeichen: La Taverna. Dazwischen viel Gewusel, Pärchen und Grüppchen, sicher gerade aus den Büros gekommen, die vor einem Kebap-Restaurant oder einer Pizzeria warteten, LKWs, aus denen Getränkelieferungen gehievt wurden. Eine ganz normale Straße eben: Ashley Road. Ich hatte mir diesen Straßennamen Wochen vorher ausgedruckt, weil ich einige Drehorte abklappern wollte und nun stand ich da und wartete darauf, dass irgendwo eine Gruppe Judoka aus einem Jazzclub stürzt und sich einen Kampf in dieser Sackgasse liefert. In Zeitlupe. Ich stand mitten in einem Johnnie-To-Film.

Mitten in dem Johnnie-To-Film: In Throw Down aus dem Jahr 2004 gibt es diese Szene. Da wird nicht geschossen, Judo ist das Mittel der Konfliktlösung, ein ehrenvoller Sport, in dem ein kleiner Mann einen körperlich überlegenen Gegner auf die Matte befördern kann. Es ist eine Fantasiewelt, deren einziger Bösewicht in einem selbst steckt. So muss der versoffene Jazzclubmanager Szeto seine Liebe zum Sport erst neu entdecken und auf dem Weg dahin versammelt Regisseur To alle Schuldner von Szeto und seinen Freunden Mona und Tony an vier Tischen in dieser Bar. Das ist das erste Drittel einer virtuos geschnittenen Sequenz, die von einer Dialogpartie in einen Chiropraktiker-Albtraum übergeht, den To wie eine seiner Markenzeichen-Schießereien inszeniert. Tische gehen zu Bruch, Staubwolken schießen in den Raum, Körper fliegen auf den Boden. Untermalt wird die Judo-Orgie vom Theme Song zu Sanshiro Sugata, einer japanischen Serie aus den 70ern, welche die Geschichte eines Judoka aus Akira Kurosawas gleichnamigem ersten Spielfilm aufnimmt, den Throw Down wiederum explizit als Vorbild nimmt. Es ist kompliziert. 

Irgendwann verziehen sich die Kämpfer nach draußen und ein Judo-Meister, der die ganze Zeit seelenruhig zugeguckt hatte, folgt ihnen. Auf die Ashley Road. Völlig leer ist sie, Neon-Schilder und sporadische Straßenbeleuchtung erhellen die Nacht, die Welt der Judoka. Es ist kein langer Kampf, denn besagter Meister wirft jeden einzelnen der jüngeren Herren auf den Rücken. Er war wegen Szeto gekommen, aber ein würdiger Gegner hatte ihn nicht erwartet. Also geht er seelenruhig davon, ein Schatten auf dem Asphalt, währen im Vordergrund der Schriftzug Jimmys Kitchen nach Gästen verlangt, die längst daheim schlummern.

Obgleich Throw Down von einer fiktiven Parallelgesellschaft erzählt, die in einer chinesischen Metropole einem japanischen Kampfsport fröhnt, ist es ein Film, der in keiner anderen Stadt funktionieren würde. Nie sah das nächtliche Hongkong märchenhafter aus als in Throw Down, selten wurden Geldgier und Spielsucht seiner Bewohner in Gestalt von sympathischeren Exzentrikern dargestellt. Einige Regisseure gibt und gab es, welche Hongkong als weiteren Charakter in ihren Filmen nutzten und manche Drehorte wurden noch nicht von Baustellen ausgelöscht. Auf den Rolltreppen aus Chungking Express zu fahren, mit der Büroarbeiter tagtäglich die Höhenmeter zwischen Apartment am Berg und Arbeitsplatz am Hafen überwinden, hat seinen Reiz; wobei ich trotz mehrerer Touren leider keine stalkende Faye Wong getroffen habe. Die "Central-Mid-Levels Escalators" finden sich aber auch in jedem Reiseführer.

Ashley Road schafft es bestenfalls wegen ein paar kulinarischen Attraktionen in den Rough Guide oder Lonely Planet (das älteste traditionelle italienische Restaurant Hongkongs!). Durch den Wettstreit der Judoka wird die Straße jedoch zur Schnittstelle zwischen Realität und Film. Trotz der stilisierten Weitwinkel-Aufnahmen von Kameramann Cheng Siu-Keung und der Judo-Fantasie, die sie belebt, bleibt Hongkong als Stadt in Throw Down und insbesondere dieser Szene erkennbar; mehr noch wird die reale Metropole durch ihr fiktives Gegenbild bereichert, dessen Wahrnehmung oder Einbildung jedem selbst überlassen ist. Unter dem Schild von Jimmys Kitchen zu stehen und das alltägliche Treiben zu beobachten, verwandelte sich durch Throw Down in ein magisches Erlebnis. Auf einmal stand ich mitten in einem meiner Lieblingsfilme, obwohl keine Judoka aus dem Nachtclub sprangen, um sich einander per Schenkelwurf oder Hüftschwung zu Boden zu schleudern. Gegessen habe ich dann auch noch.

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