Berlinale Tag 3 - Léa Seydoux erstickt in Kostümen

08.02.2015 - 08:50 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Im Uhrzeigersinn: Angelica, Diary of a Chambermaid, Die letzten Tage der Reichen, Victoria
Pierpoline Films, JPG Productions, Nanook Film Wien, Senator/Central
Im Uhrzeigersinn: Angelica, Diary of a Chambermaid, Die letzten Tage der Reichen, Victoria
12
13
Von Guatemala ging es am 3. Festivaltag der Berlinale ins verdorbene Frankreich, wo Léa Seydoux Nachttöpfe putzt und das Silbergeschirr poliert. Faszinierend.

Es war ein Tag der Frauen gestern bei der Berlinale 2015, entstanden entweder durch die cinephile Hand des Schicksals oder die Zufälle, die sich ergeben, wenn man 2 Uhr Nachts bei Crackern und Hüttenkäse entscheidet, was in zwei Tagen geguckt werden muss. Zwei zu vernachlässigende Wettbewerbsbeiträge, darunter Léa Seydoux in der Neuverfilmung Diary of a Chambermaid, und zwei erstklassige Argumente für die Sektion Panorama konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Samstag Sebastian Schippers nächtlichem Abenteuer Victoria gehörte, der in einer einzigen knapp 140-minütigen Plansequenz gedreht wurde. Wohl ohne digital nachzuhelfen, wie es bei einem derzeitigen Oscar-Kandidaten der Fall ist, dessen Titel in diesem Tagebuch nicht genannt werden darf. Das ist für alle besser so.

Now you can be richtig glücklich
Drei Monate lebt die Spanierin Victoria (Laia Costa) in Berlin, als wir sie in Sebastian Schippers Wettbewerbsfilm treffen. In einem Club, durch eine flimmernde, weiße Lichtwand beginnt es. Es dröhnt, es stampft und dann taucht dieser Haarschopf auf, an dem wir uns am liebsten festkrallen möchten, um endlich Boden unter den Füßen zu bekommen. Victoria tanzt allein, Victoria versucht in Gespräch mit dem Barkeeper anzufangen, vergeblich. Ein doppelter Vodka rauscht die Kehle hinunter, dann geht sie hinaus in die Nacht, trifft vier nichtsnutzige Kerle (Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yiğit, Max Mauff). Auf einmal ist Victoria nicht mehr allein in Berlin. Da hinter Victoria der Regisseur des End-90er-Klassikers Absolute Giganten steckt, erscheint Victoria zunächst umso mehr als Quarterlife-Crisis-Entdeckungstour mit fünf nicht sofort einnehmenden Figuren. Das Drehbuch dieses unglaublichen Echtzeit-Dramas bleibt indessen geduldig. Nächtlicher Rabatz auf Wohnblockdächern, in Spätis oder bei kalt werdendem Kakao gibt Anlass zur Annäherung, bis ein Anruf kommt und die Stimmung umschlägt. Als Victoria und ihre neuen Gefährten in einem mit Gewehren bewaffneten Parkhaus vor Gangster Andi (André Hennicke) halten, hängen wir an den Kleingauner-Twens, nicht unbedingt um ihrer selbst willen, wohl aber wegen ihrer Bedeutung für die einsame spanische Frau, die nun als Fluchtfahrerin einspringen muss. Andi ist so einer, der garantiert keinen Kickertisch im Parkhaus erlaubt.

Vielleicht verliert Sebastian Schippers Gangsterromanze bei mehrmaligen Sichtungen an Reiz. Das Echtzeit-Konzept führt wohl auch dazu, dass sich manche Szenen trotz mangelnder Ergiebigkeit lange hinziehen und auch die Kameraführung, so gut wie immer an den Schultern der Hauptfiguren, nähert sich manchmal einem verwackelten Found Footage-Look an. Wie auch nicht, spaziert, wendet und sprintet sie schließlich mit den Helden durch die Nacht. Doch Victoria bleibt eben nicht nur artifizielles Experiment. Der Film ist eine pulsierende Charakterstudie mit einer Titelheldin, die, aus der Einsamkeit befreit, außergewöhnliche Kräfte freisetzt, um diesen Zustand zu schützen. Victoria besitzt vieles von dem, was im deutschen Kino vermisst wird: künstlerische Ambition, Denken außerhalb der ästhetischen Norm, André Hennicke mit blonden Haaren.

Hervorquillende Triebe
Überspringen wir die grausam aufgesetzte Überleitung mit der Haarfarbe und kommen gleich zum Wesentlichen: Benoît Jacquot legt nur wenige Monate nach dem Cannes-Beitrag 3 Herzen nach und landet sogleich im Wettbewerb der Berlinale 2015. Léa Seydoux (Leb wohl, meine Königin!) spielt in Diary of a Chambermaid die um 1900 von Octave Mirbeau erdachte Kammerzofe Célestine. Eine Königin unter dem Gesinde tritt sie widerwillig eine Stelle auf dem französischen Land an, wo sie auf einen Hort der Verderbtheit trifft. Unter Jacquots Regie geriert die bissige Abrechnung mit der französischen Klassengesellschaft allerdings zum biederen Kostümdrama. Dabei scheint die Rolle für Seydoux wie geschaffen, die hintersinnige Erfahrenheit suggeriert, ohne ins Abgebrühte zu gleiten. Hie und das rast die Kamera auf Gesichter mit ihren hervorquillenden Trieben zu. Sich diesen hinzugeben, an der Wurzel der Niedertracht zu ziehen, davor wird in dieser Neu-Erzählung des altbekannten Stoffes zurückgescheut. Es sind eben nur Beleidigungen, durch die Mundwinkel gezischt, wenn sie schon längst niemand mehr hören kann.

Auf eine Kaffeeplantage in Guatemala entführt der Wettbewerbsbeitrag Ixcanul von Debütant Jayro Bustamante. Eine junge Maya-Frau soll verheiratet werden, wird von einem anderen Kaffeepflücker schwanger und Regisseur Bustamante nimmt diese Alltagssituation zum Anlass, das Leben der indigenen Bevölkerung in den Plantagen zu schildern. Etwas mehr als 40 Prozent der Einwohner Guatemalas werden indigenen Gruppen zugeordnet. Eine wichtige Rolle spielt im Verlauf des Film deswegen die sprachliche Grenze zwischen Maya und Latinos, die über den Verlauf eines ganzen Lebens entscheiden kann. Bei der für das Genre des Festivalfilms prototypischen Hauptfigur treffen sich Ausdruckslosigkeit und Passivität in erwartbar klaren Gesichtszügen, um zum Gefäß für die Umwelteindrücke der Macher degradiert zu werden, was in Ixcanul nur eines bewirkt: stoisch ertragenes Leid. "Interessant" ist wohl das aussagekräftigste Wort für diese ins Sozialdrama ausschlagende Studie.

Verdammt und aufgeschlitzt
Mit "Die Verdammten in der Wiener Wirtschaftsschickeria" lässt sich dagegen Der letzte Sommer der Reichen des österreichischen Schauspielers und Regisseurs Peter Kern umschreiben, der gestern im Panorama der Berlinale Weltpremiere feierte. Eine Sadomaso liebende Konzern-Chefin (Amira Casar), die in ihrer Freizeit Mädchen entjungfert, setzt einen Killer auf ihren dahinsiechende Altnazi-Opa an. Willkommen nochmal im Panorama! Eine Liebesaffäre mit einer Nonne sowie ein Sammelsurium moralisch verkommender Tratsch-Tanten und -Onkel oberster Provenienz gehören ebenfalls zu den Zutaten dieser wahnwitzigen Abrechnung mit den Krawattengöttern in den Aufsichtsräten. Wie bei Luchino Visconti folgt die Dämmerung auf dem Fuße, als zynische Entschlackungskur. Pluspunkte gibt es für Winfried Glatzeder als stillem Diener und einen Killer, neben dem selbst der Grüne Bogenschütze aussieht wie Anton Chigurh.

Nicht weniger abgefahren ging der Tag zu Ende mit einem im besten Sinne sonderbaren Frauenfilm von Mitchell Lichtenstein (Teeth). In Angelica wird eine Gothic Horror-Geschichte erzählt, in der Erreger als Dracula- oder Frankenstein-Ersatz herhalten. Auf unkonventionelle Art lädt die Adaption eines Romans von Arthur Phillips das männliche Verlangen destruktiv auf. Constance (Jena Malone) geht eine heißblütige Ehe mit dem Wissenschaftler Joseph (Ed Stoppard) ein. Doch als sie ihr Kind Angelica (in der Rahmengeschichte und älter: Jena Malone) nur unter größtem körperlichem Risiko bekommt, wird ihr sexuelle Enthaltsamkeit verschrieben. Joseph, ein ehrenwerter Mann, will seine Bedürfnisse nicht anderswo befriedigen und so wächst bei Constance die Furcht vor seiner Lust und besonders seinem Glied. Nach einem grauenerregenden Besuch an seinem Arbeitsplatz fliegen schleimige Krankheitserreger durchs Kinderzimmer. Es mag viele Regisseure geben, die mehr formalen Einfallsreichtum mitbringen als Liechtenstein. Seine Durchdringung der zeitgenössischen Sexualmoral gehört zu den Stärken des Films, war die Wissenschaft Frauen wie Constance schließlich verschlossen. Stattdessen dienen Religion und hier vor allem der Aberglaube in Gestalt von Magierin Janet McTeer als Deutungshilfe für die unaussprechbaren körperlichen Gelüste. Fehlt Angelica ein wenig das visuelle Flair anderer Genrevertreter, tröstet der originelle Ansatz darüber hinweg.

Berlinale-Lebensweisheit des Tages: "Erfolg macht langweilig, mein Liebling, die Geilheit liegt im Verzicht." (Der letzte Sommer der Reichen)

Alle Berlinale-Tagebücher auf einen Blick:

Tag 10 mit Kon Ichikawa und dem verschobenen Frühling
Tag 9 mit dem Kleid aus Cinderella
Tag 8 mit Elser und An American Romance
Tag 7 mit Fifty Shades of Grey und Eisenstein in Guanajuato
Tag 6 mit Nasty Baby und Every Thing Will Be Fine
Tag 5 mit Als wir träumten und Redskin
Tag 4 mit Knight of Cups und Der Perlmuttknopf
Tag 3 mit Victoria und Der letzte Sommer der Reichen
Tag 2 mit Queen of the Desert und The Forbidden Room
Tag 1 mit Nobody Wants the Night und Hedi Schneider
Berlinale-Prolog


Das könnte dich auch interessieren

Angebote zum Thema

Kommentare

Aktuelle News