Bis nichts mehr bleibt enthüllt Hintergründe der Scientology

31.03.2010 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
Gemeinsam unbekannte Hirnregionen entdecken
SWR/Christine Schroeder
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Glaubensgemeinschaft mit ungewöhnlichen Lehren oder gefährliche Psychosekte? Die SWR-Produktion Bis nichts mehr bleibt nähert sich dem heiklen Thema Scientology auf ungewöhnliche Art.

Niki Stein, alias Niki Stein, erstellte aus den Berichten mehrerer Scientology-Aussteiger ein komplexes Drehbuch, begab sich in Selbstversuche, und führte Regie in dem Film Bis nichts mehr bleibt, der zunächst unter Pseudonym gedreht wurde.

Das Familiendrama Bis nichts mehr bleibt schildert das Schicksal des Familienvaters Frank Reiners (Felix Klare) der zusammen mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter Mitglied bei Scientology geworden ist. Gerade noch rechtzeitig bemerkt er die Abhängigkeit, in die er sich da begeben hat, und kriegt die Kurve. Er kämpft um seine Tochter, die sich mit ihrer Mutter in der Gemeinschaft immer weiter von der Außenwelt isoliert.

Moviepilot blickt für euch wie immer hinter die Kulissen, und befragte Bis nichts mehr bleibt -Regisseur und -Autor Niki Stein. Das sehr anschauliche Interview lest ihr hier:

Als das Projekt an Sie herangetragen wurde, was hat Sie daran interessiert? Welchen Kern sahen Sie in dem Vorhaben? Spielte womöglich auch ein bisschen Abenteuerlust mit?

Ich war mehr als überrascht, dass sich ein Fernsehsender so etwas traut. – Eigentlich hatte ich überhaupt keine Zeit, weil ich gerade an einem großen, historischen Film für das ZDF arbeitete. Schließlich sollte ich nicht nur die Regie übernehmen, sondern auch noch das Buch schreiben, verbunden mit einer umfangreichen Recherche. Aber es gibt eben Dinge, die muss man einfach machen. Dass man in gewissen Hollywoodkreisen vielleicht danach nicht mehr so gefragt sein würde, ist ja für eine Zwischengröße wie mich kein wirkliches Problem.

Mit welcher Haltung haben Sie sich bei der Recherche der umstrittenen Organisation genähert? Hat sich diese Haltung verändert? Wie lief die Recherche?

Ich wusste zwar einiges über Scientology, hatte z.B. „Der Sektenkonzern“ von Billerbeck/Nordhoff gelesen. – Aber mir war nie klar, wie einigermaßen vernunftgesteuerte
Menschen da reingeraten konnten. Carl Bergengruen bot mir den Kontakt zu Aussteigern an. Das machte mich neugierig. Nach langen Gesprächen habe ich langsam verstanden, was sie anfangs so fasziniert hatte an Scientology. Gleichzeitig habe ich selbst Hubbard gelesen. Auch das eine Erfahrung, fast ein Selbstversuch, der eher kontrapunktisch wirkte. Ziel war ja, den Einstieg erklären zu können. Ich habe auch den „Anti Stress“-Test gemacht und meinen Ruinpunkt ermitteln lassen. Ein ehemaliger „Scientology-Trainer“ hat mit mir scientologische Übungen gemacht. Auch habe ich mich an das E-Meter gehängt und von ihm befragen lassen.

Überrascht war ich von der Perfektion des Vertriebssystems „Scientology“, denn im Grunde ist das ein Strukturvertrieb. Dieser Hubbard war wirklich ein genialer Verkäufer. Nicht wirklich bewusst war mir vorher die Situation der Kinder im System Scientology: Ein Aussteiger erzählte mir, ihm sei die Widerwärtigkeit von Scientology erst klar geworden, als er gesehen hat, was die mit Kindern machen. Hier hat der Staat, die Justiz in der Vergangenheit oft versagt, weggeschaut, wo er/sie hätte hinschauen müssen.

Ist es das erste Mal, dass reale Lebensgeschichten in einen Ihrer Filme eingeflossen sind? Hemmt das den Erzähler beim Schreiben oder später den Regisseur beim Inszenieren oder ist es ein Ansporn?

Ich muss hier widersprechen: Ich habe kein Leben nachgezeichnet. Ich habe vielmehr die Erfahrungen mehrerer Informanten zu einer, wie ich glaube, typischen Scientology-Karriere zusammengesetzt. So arbeiten wir ja immer. Ich nehme mir bei jeder meiner Geschichten Vorbilder aus dem Leben, ohne die geht es nicht. – Aber wir haben kein Leben „eins zu eins“ nacherzählt. Das konnten wir gar nicht, ohne unsere Informanten zu gefährden. Es ist Fiktion, die von realen Ereignissen inspiriert wurde. Auch Aussteigerliteratur, z. B. die Bücher von Potthoff und Träger, haben mir da wichtige Informationen gegeben.

Der Film erzählt, was Scientology in den Köpfen und Seelen von Menschen anrichten kann (und in den Geldbörsen). Wie fand diese Geschichte zu ihrer Dramaturgie?

Eine Hauptschwierigkeit war, die Masse an erzählenswerten, meist erschütternden Fakten zu einer neunzigminütigen Geschichte zu bündeln. Wir hätten auch einen Vierteiler machen können. So kommen z. B. die Bemühungen von Scientology, Firmen zu infiltrieren, über Beratungsfirmen Einfluss auf große Konzerne zu nehmen, überhaupt nicht vor. Oder die Versuche, nach der Wende den Osten zu erobern, „Clear Germany“, leider nur am Rande. Die Perversion des scientologischen Weltbildes, der zum Ausdruck gebrachte Sozialdarwinismus, „Unfähige“ auszusortieren, Krankheit nicht zu akzeptieren. Das alles bis in die letzte Verästelung begreifbar zu machen, dafür hätte ich mir manchmal mehr Zeit gewünscht.

Ein weiteres Problem ist die scientologische Sprache. Sie ist ja wesentlicher Bestandteil der scientologischen Gehirnwäsche, vergleichbar dem „Sprech“ aus Orwells „1984“. Dieses Phänomen wollten wir zeigen. Deswegen gibt es manchmal Dialogstellen, die dem Zuschauer kleine Rätsel aufgeben – was ist ein „R-Faktor“? Aber ich wollte das unbedingt erhalten,
um diese hermetische Welt nachvollziehbar zu machen. Die größte Schwierigkeit war, dass wir nicht nur Scientology erklären, sondern ja auch das Drama um das Kind erzählen wollten. Der Kniff, den Sorgerechtsprozess als dramaturgische Klammer zu nehmen, war dann der Königsweg, das alles in den Griff zu kriegen.

Am Beispiel von Frank und Gine wird erzählt, wie zwei Menschen auf durchaus verschiedene Weise den Weg in die Organisation nehmen?

Meist funktioniert es genau so: Jemand dockt an. Und dann wird auf ihn Druck ausgeübt, dass er die Familie mit reinzieht. Wenn ihm das nicht gelingt, muss er sich trennen oder die Organisation verlassen, wenn die Familie Scientology nicht akzeptiert.

Die dauerlächelnde Geschmeidigkeit der überzeugten Scientologen, das körperliche Getriebensein in den Kopenhagener Szenen, die Körperhaltung der Aussteiger vor Gericht, die uns fast ohne Worte zeigt, dass das Verlassen der Organisation allein noch nicht wieder ins seelische Gleichgewicht führt – haben diese Haltungen bei der Arbeit mit dem Ensemble eine besondere Rolle gespielt?

Das Schwierige für mich war, den Schauspielern immer wieder eine Haltung vergegenwärtigen zu müssen, die mir selber höchst widerwärtig war. Wir haben mit ihnen auch ein kleines Einführungsseminar gemacht, sie „scientologisch“ unterwiesen. Manchmal kam ich mir vor, wie David Miscavige, wenn ich die Kollegen „scientologisch“ konditionierte. Gott sei Dank haben wir auch viel gelacht.

Nach Ihrer Beschäftigung mit Scientology für diesen Film – wo sehen Sie die Gefahr bei der Organisation? Ist das auch auf andere ideologische Gruppierungen übertragbar?

In Deutschland ist „Scientology“ dank couragierter Gegner zwar nicht am Boden, aber angeschlagen. – Dennoch, es gibt sie. Und hinter ihnen steht eine Organisation, deren Arm so weit reicht, dass sie ein drohendes Verbot hierzulande immer hintertreiben konnten. Denn verbieten muss man sie. Hinter dem Deckmantel einer Psychosekte verbirgt sich eine totalitäre Organisation, die ihre Mitglieder entmündigt und die Gesellschaft „von Unfähigen“ reinigen will. Woran erinnert das denn?

Gleichzeitig gibt es überall in unserer Gesellschaft Tendenzen, die Organisationen, wie Scientology Tür und Tor öffnen. Gehen Sie mal in deutsche Großunternehmen, Behörden, wahrscheinlich auch Funkhäuser: Da herrscht ein „Coaching-Wahn“, die Mitarbeiter werden aufgefordert „Teambuilding-Prozesse“ zu durchlaufen, „Familien aufzustellen“, über glühende Kohlen zu laufen, kurz: an ihrer Persönlichkeit zu arbeiten, effektiver zu werden. – Die fremdbestimmte Beratergesellschaft ist ein idealer Nährboden für ein erneutes Aufblühen von Scientology.

(Mit Material der ARD erstellt)

Falls ihr auf Bis nichts mehr bleibt neugierig geworden seit, dann schaltet am Mittwoch, den 31.03., um 20:15 Uhr die ARD ein. Ist euch der Scientology-Hype dann doch egal, dann schaut einfach in unser Fernsehprogramm, ob sich noch etwas anderes findet.

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