Cannes 2014 - Abgerissene Typen & eine müde Frau

21.05.2014 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
The Homesman von Tommy Lee Jones
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The Homesman von Tommy Lee Jones
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Die Häfte von Cannes 2014 ist vorbei und ich bin müde. Zahlreiche Filme habe ich gesehen – gute und schlechte – zahlreiche Kaffees habe ich getrunken – alle waren bitter nötig. Mittlerweile sind einige Tendenzen und Favoriten auszumachen.

Ernsthaft, morgens um sechs Uhr aufzustehen, das ist für mich kein Spaß. Zumal, wenn im Apartment fünf weitere Menschen wohnen, die alle zur gleichen Zeit ins Badezimmer wollen. Schlaf kommt zu kurz, die Ernährung kommt zu kurz, viel Tageslicht habe ich im Grunde auch nicht gesehen. Trotzdem möchte ich auf keinen einzigen der Tage an der Croisette verzichten. Für moviepilot bin ich an die Côte d’Azur aufgebrochen, um das allererste Mal am Filmfestival von Cannes teilzunehmen. Mittlerweile ist etwa die Hälfte der Zeit ins Land gegangen und ich fühle mich wie in einem Paralleluniversum.

Das geht schon los, wenn ich meinen Facebook-Account öffne. Fünfzig Prozent meiner Kontakte posten Beiträge zum Thema Fußball, die andere Hälfte berichtet nonstop aus Cannes. Dass es irgendwo dazwischen noch ein anderes, ein normales Alltagsleben geben muss, habe ich schon fast vergessen. Entschädigungen für den Stress sind jedoch reichlich vorhanden. Das geht mit meinem morgendlichen Arbeitsweg los. Wer kann schon von sich sagen, dass er morgens einen halbstündigen Spaziergang am aquamarinblauen Mittelmeer zu seinen Gewohnheiten zählen kann? Mittagspausen werden hingegen gern durch die Sichtung von Menschen des unterschiedlichsten Prominentengrades aufgeheitert. Von Arnold Schwarzenegger über Mathieu Amalric bis hin zu blond gefärbten Produzentenehefrauen vom Typ Schmuckdesignerin ist alles dabei. Außerdem hat es sich zu einer netten Tradition entwickelt, dass jeden Abend mein neuer Nachbar Oliver Kahn an mir vorbeiläuft, wahlweise joggend oder mit Frau und Kind im Schlepptau.

Aber so richtig wichtig ist das alles eigentlich nicht. Gut, auch ich zücke bei solchen Sichtungen gern mal mein iPhone, aber wenn es gilt, sich in die Schlange einzureihen, um einen Platz in der Pressevorführung zu ergattern, ist es mir auch egal, wenn ein paar Meter weiter Channing Tatum über den roten Teppich läuft. 14 Filme habe ich bis dato gesehen und von herausragend bis grottig war durch die Bank weg jedes Qualitätsniveau vertreten. Der Start ins Festival entpuppte sich wie erwartet als ziemlich gruselig. Der Eröffnungsfilm Grace of Monaco von Olivier Dahan dürfte Zuschauern gefallen, die auf ihrem Küchentisch die Gala oder die Bunte zu liegen haben. Er ist schlicht ein Märchen, bei dem sämtliches zur Verfügung stehende Geld für Kostüme und Production Design ausgegeben wurde. Dass Dahan sein Handwerk grundlegend beherrscht, täuscht aber eben nicht darüber hinweg, dass Nicole Kidman einfach nicht Grace Kelly ist. Oder dass mir eine aufdringliche Musiksoße permanent vorgeben will, was ich jetzt gefälligst zu fühlen habe. Ein uninspiriertes Drehbuch vereint sich mit Kitsch und es wundert mich mittlerweile nicht mehr, dass die Fürstenfamilie von Monaco den Film als Farce bezeichnet.

Eine weitere Enttäuschung war definitiv der neue Streifen von Atom Egoyan, der mit The Captive – Spurlos verschwunden einen wahnsinnig atmosphärischen und intelligenten Thriller kreieren will, dessen Geschichte allerdings komplett unglaubwürdig daherkommt. Das wäre noch nicht einmal allzu schlimm, würde er sein extrem heikles Thema der Pädophilie und des Kindesmissbrauchs nicht so unerträglich zynisch angehen. Kaum ein Wort über die Leiden des Opfers; dafür ein Täter, der von Anfang an als exzentrisches Monster dargestellt wird und damit völlig an der zumeist viel komplexeren Realität vorbeigeht. Für mich persönlich war die wohl größte Enttäuschung aber eine ganz andere. In einen der am ungeduldigsten erwarteten Filme bin ich nämlich tatsächlich nicht hineingekommen: in Maps to the Stars von David Cronenberg. Noch ist die Hoffnung nicht ganz verloren, es gibt schließlich noch ein späteres Screening. Ein eng durchgeplanter Festival-Stundenplan kann durch solche Kapriolen aber heftig aus dem Takt geraten. Dabei hatte alles so gut angefangen.

Nachdem ich bei der Landung in Nizza die wohl heftigsten Turbulenzen meines Lebens ausgestanden und die Journalistenkutsche nach Cannes bestiegen hatte, war die Freude groß: Ein blauer Badge wartete im Palais de Festival auf mich. Sicher, das bedeutet noch immer längere Wartezeiten als beispielsweise im Team Pink, doch es lässt sich durchaus damit arbeiten. Der Presseraum war schnell gefunden und noch wichtiger: die ewig fließende Quelle des Kaffees. Dazu jeden Tag Sonne, Einlass in bislang alle Filme – irgendwann musste so ein Dämpfer wohl einfach kommen. Also was jammere ich? Schließlich konnte ich auch schon einige Favoriten ausmachen.

Sehr gut gefallen hat mir Mr. Turner – Meister des Lichts, das Biopic über den englischen Maler William Turner von Mike Leigh. Timothy Spall spielt darin sehr körperlich und mit zur Faust geballtem Gesicht einen bärbeißigen Exzentriker vor dem Herrn, anarchisch genial. Der Film ist nicht nur die Geschichte eines Malers, sondern auch ein aktueller Kommentar über die Wahrnehmung von Kunst und die wahnwitzige Industrie, die sich ihr anschließt – und wenn es nach mir geht, auch ein Anwärter auf die Goldene Palme. Mit ähnlich reichhaltiger Symbolik arbeitet Land der Wunder von Alice Rohrwacher, die ihre Kritik an der gegenwärtigen Europapolitik in einen intelligenten und doch wunderbar lockeren und gut verdaulichen Film verpackt. Wesentlich schwermütiger kommt da schon der Spätwestern The Homesman von Tommy Lee Jones daher, in dem Hilary Swank mit drei geisteskranken Frauen quasi den Rückweg aus dem Westen antritt und somit den amerikanischen Traum ad absurdum führt. Schuld an allem, was schief läuft, sind hier die Männer.

Und da sind wir auch schon bei der Tendenz, die sich auf diesem Festival zur Halbzeit herausstellt. Eine Kritik der letzten Jahre lautete, dass Frauen in Cannes sträflich unterrepräsentiert seien. Das stimmt zweifelsfrei und auch im Jahre 2014 hat sich daran nichts Wesentliches geändert. Im Kino scheint die Botschaft aber in gewisser Weise angekommen zu sein. Die Werke, die im Wettbewerb und in der Nebenreihe Un Certain Regard gezeigt werden, handeln zu einem nicht zu verachtenden Großteil von gescheiterten männlichen Existenzen. Da gibt es Schwerverbrecher wie im Neo-Noir-Thriller Das blaue Zimmer von Mathieu Amalric, suizidale Tendenzen im unerwartet vergnüglichen Amour fou von Jessica Hausner, einen selbstzerstörerischen Modemacher im wesentlich zu lang geratenen Biopic Saint Laurent von Bertrand Bonello oder einen schizophrenen Milliardär im Thriller Foxcatcher, der sich ein wenig schwer damit tut, in Fahrt zu kommen. Dann lieber doch auf Geheimtipps zurückgreifen: so wie den grandiosen Un Certain Regard-Opener Party Girl, dessen Hauptfigur Angélique sich beim besten Willen in keine Schublade einordnen lässt.

Mein Müdigkeitslevel hat mittlerweile ehrlich gesagt Besorgnis erregende Züge angenommen. Es ist, als trennte mich permanent eine benebelnde Wolke von den noch voll funktionstüchtigen Menschen um mich herum. Aber ich bin nicht totzukriegen, das habt ihr an dieser Stelle schriftlich. Auch in der zweiten Hälfte von Cannes 2014 gibt es viel zu sehen, viel zu erleben, und auf meinem Tumblr könnt ihr mitreisen. Schlaf gibt es dann zu Hause wieder. Ich werde ja ausreichend entschädigt.

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