Cannes 2018 - Netflix wurde bei diesem Festival nicht vermisst

20.05.2018 - 15:00 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Loslassen ist angesagt: Mirai of the Future von Mamoru Hosoda
Studio Shizu
Loslassen ist angesagt: Mirai of the Future von Mamoru Hosoda
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Die Goldene Palme wurde verliehen, der rote Teppich eingerollt, die 71. Filmfestspiele von Cannes sind vorüber. Ihr Programm entpuppte sich nach Startschwierigkeiten als eines der stärkeren der letzten Jahre.

In Cannes-Jahren bin ich zwar nicht einmal schulreif, trotzdem wurde gestern zum ersten Mal, seit ich das Festival besuche, eine Goldene Palme an einen Film verliehen, der diese verdient. Die Wettbewerbs-Jury um Cate Blanchett hat mit Shoplifters von Hirokazu Koreeda eine hervorragende Wahl getroffen in einem Programm, das seine echten Anwärter für die zweite Woche aufgespart hatte. Es wurde gemurrt im Vorfeld des Festivals von Cannes über die geringe Präsenz der Amerikaner, über den möglichen Bedeutungsverlust eines Festivals, das von Oscar- und Netflix-Filmen übersprungen wurde. Und es sollte weitergemurrt werden über die Betriebsblindheit in der Berücksichtigung von weiblichen Filmemachern und die enttäuschende, weil kaum vorhandene Repräsentation der Kinos aus Lateinamerika oder Afrika. Im 71. Jahr seines Bestehens zeigte Cannes in mitten der medialen Bedrängnis und Untergangsstimmung ein herausforderndes Programm und stellte eine Jury zusammen, die dem gewachsen war. Integraler Bestandteil dieses Festivaljahrgangs war diese Jury nicht nur für die Palmenvergabe, sondern auch als kontinuierliche Mahnung des Umbruchs, der zur Zeit in der Filmindustrie stattfindet. Ein Umbruch, der Cannes als Wirkungskreis der Täter entlarvt hat, das Festival aber auch als Bühne versteht, um gegen Missbrauch und Benachteiligung in der Industrie ein Zeichen zu setzen.

Cannes bot einige große Filme, man musste nur genau hinschauen

Cannes ist weit mehr ist als die 21 von der Programmatik gesegneten Filme im Wettbewerb. Immerhin beging die parallel laufende Quinzaine des réalisateurs, auch bekannt als Directors' Fortnight, dieses Jahr ihren 50. Geburtstag. Den wussten der scheidende künstlerische Leiter Edouard Waintrop und sein Team gebührend zu feiern. Gaspar Noé fand mit dem tänzerischen Alptraum Climax, wenn nicht seinen künstlerischen Höhepunkt, so doch zu alter Form zurück. Mamoru Hosoda (Summer Wars) stellte seine liebevolle Ode an das große Brüderchen mit Mirai vor. Dessen Annäherung zwischen einem Jungen und seiner frisch geborenen Schwester wird mit einer solchen visuellen Fantasie erzählt, dass in dem Anime die Grenzen von Raum und Zeit überwunden werden. Aus der intimen Miniatur entwächst eine Generationen umspannende, epische Geschichte einer Familie, eine Art Schmetterlingseffekt, der von einem schreienden Baby mit Crackern im Gesicht bis zum Finale von Interstellar führt.

Eröffnungsfilm der Reihe war ebenfalls eine Familiengeschichte, nämlich Birds of Passage über einen indigenen Klan und seinen Aufstieg im Marihuana-Schmuggel Kolumbiens, einer der besten Filme des Festivals, der manch prestigeträchtigeren Festivalbeitrag durch seine ästhetische Stringenz amateurhaft aussehen ließ.

Mirai

Aus Deutschland schaffte es immerhin Ulrich Köhler in die offizielle Auswahl von Cannes, der in der Reihe Un Certain Regard In My Room vorstellte. Darin wacht ein TV-Kameramann, der sich sein Alter mit Disconächten und One-Night-Stands wegtrinkt, eines Tages in seinem Auto auf und bemerkt, dass alle anderen Menschen verschwunden sind. Eine Art therapeutische Postapokalypse setzt ein, in der er in einem archaischen Lebensstil fern der Menschheit glaubt, sein Glück gefunden zu haben - bis er Besuch bekommt.

Nur so viel zu In My Room: Ich könnte eine Dissertation über den Einsatz von Schwenks in Ulrich Köhler-Filmen schreiben und würde trotzdem nur an der Oberfläche kratzen. Was andere in 90 Minuten erzählen, entfaltet sich bei Köhler wortlos durch die räumlichen Vektoren, die von der Kamera in einer Bewegung verbunden werden. Unzusammenhängende Gegenstände, Menschen, Häuser werden zu einer Erzählung geflochten, in wenigen Sekunden. Am Ende von In My Room gibt es wieder einen dieser Schwenks und mir stockte der Atem.

In My Room

Der stockende Atem fehlte in den ersten Tagen des Wettbewerbs, der zunächst Züge einer mittelmäßigen Berlinale trug. Kein Wunder, dass die Kritiker bei Noé in Verzückung gerieten, fehlte es anfangs doch an Herausforderungen der Sehgewohnheiten. In dieser ersten Phase war Ash Is Purest White von Jia Zhangke eine Art Vorhut des starken ostasiatischen Kinos, das noch kommen sollte. Was auch immer Jia als nächstes dreht - ich kann nur hoffen, jemand spielt ihm in der Zwischenzeit What is Love von Haddaway vor. Wenn es ein Electro-Pop-Song verdient hat, in die großen Fußstapfen von Go West (Mountains May Depart) und YMCA (Ash) zu treten, dann ja wohl dieser.

Godard repräsentierte ein Kino, das in Cannes kaum vorkommt

Die größte ästhetische Herausforderung bot schließlich nicht etwa der außer Konkurrenz laufende Provokateur Lars von Trier, sondern Jean-Luc Godard und sein The Image Book. Von der Jury mit einer extra gepflanzten Spezial-Palme belohnt, eröffnet Godard darin in drei größeren Kapiteln Ansätze einer Auseinandersetzung mit der Gewalt, die derzeit die Nachrichten über die arabische Welt dominiert. Im ersten Teil über Remakes findet Godard unerwartete Spiegelungen und Erweiterungen zwischen assoziativ verbundenen Filmausschnitten. Damit schaffte es übrigens auch Michael Bay nach Cannes, dessen 13 Hours: The Secret Soldiers of Benghazi prominent vorkommt. Da haben sich zwei gefunden... Im zweiten Abschnitt wird das mit Industrialisierung und industrialisiertem Mord verbundene Motiv des Zuges aufbereitet, das nach dem Remake-Teil eine Wiederkehr der Geschichte impliziert, und im dritten eine Art Essay über die Problematik der Repräsentation der arabischen Welt in hiesigen Medien zusammengesetzt.

Anders als beim 3D-Film Adieu au langage rückt die Sprache, wie der der Titel mehrdeutig zeigt, in The Image Book wieder ins Zentrum und damit ist nicht nur die Dekonstruktion der visuellen Sprache gemeint, die Godard betreibt. Wird man bei The Image Book von den Monologen intellektuell abgehängt oder verliert schlicht dass Interesse, ob der überlagerten französischen Sätze, die absichtlich nur sporadisch untertitelt sind, so liefert der Film in seinem visuellen Fluss mit steigender Laufzeit seltener Rettungsringe. Als Filme boten Audieu au Langage und stellenweise Film Socialisme schlicht weniger hermetisch versiegelten Zugang. Was ich aus The Image Book mitgenommen habe: Godard dreht mit einem iPhone 7. Die Sonderpalme für Godard stellte zudem die Frage, wer denn solche Arbeiten fern des Erzählkinos in Cannes präsentieren könnte, sollte Godard nicht mehr arbeiten. Experimentelle Filme wie The Image Book findet man schließlich eher in den Nebensektionen der Berlinale als in Cannes anno 2018.

Burning

Die stärksten Filme des Wettbewerbs fanden indes ein Gleichgewicht zwischen formaler Finesse und der Beobachtung von sozialen Gefällen, von Ausbeutung und Unterdrückung. Dem Gewinner-Film Shoplifters gelang dies und auch Jafar Panahi mit seiner Hommage an den verstorbenen Landsmann Abbas Kiarostami, Three Faces. Um drei Frauengesichter geht es darin, die über die Grenzen ihrer von der iranischen Gesellschaft vorgegebenen Rollen hinaus streben oder es zumindest versucht haben. Alice Rohrwacher empfiehlt sich mit dem Sozialmärchen Happy as Lazzaro für Größeres, ein auf 16 Millimeter gedrehter Mr. Chance, der ein Wunder von Mailand erlebt. Rohrwachers Gespür für das Milieu ihrer benachteiligten Helden fühlt sich derart plastisch an, dass man die von Heu und Wiesen getränkte Sommerluft im Kino ebenso zu riechen meint wie den Staub zwischen den Schienen einer darniederliegenden Industriestadt.

Mein persönlicher Höhepunkt in diesem Zusammenhang war Lee Chang-dongs Burning, der sich mit dem Preis der Kritikervereinigung FIPRESCI begnügen musste. Unterlegt mit einer schwitzigen sexuellen Anspannung, wird darin das Kunststück vollbracht, den sozialen Unmut seines Helden haargenau zu beobachten, und dem Film im selben Zug eine gewisse Undurchlässigkeit zu bewahren. Burning, man verzeihe das Wortspiel, schwelt auch nach der Sichtung weiter. Was kann man sich von einem Festival mehr wünschen?

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