Cannes-Prolog - Grüße aus dem Kino-Moloch

13.05.2015 - 08:50 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Journalisten in der Schlange vor dem Festivalpalast [Dramatisierung der Red.]
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Journalisten in der Schlange vor dem Festivalpalast [Dramatisierung der Red.]
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Zum 68. Mal finden ab heute die Filmfestspiele in Cannes statt und moviepilot ist vor Ort - also wenn Stau und Schlangen (viele Schlangen!) erst einmal überwunden sind.

Wenn sich Mad Max auf ein neues Abenteuer begibt, Woody Allen seinen jährlichen Film mit Emma Stone vorstellt und eine deutsch-französisch-äthiopische Koproduktion im Kino läuft, kann das nur Cannes sein. Das noch immer wichtigste Filmfestival wird heute zum 68. Mal eröffnet. Hier im Tagebuch werdet ihr jeden Morgen mit den neusten Eindrücken aus dem cinephilen Moloch des Weltkinos versorgt.

Denn genau so sieht Cannes für mich als Erstbesucherin aus: Eine Ansammlung von Edel-Boutiquen säumt das gigantische protzig-weiße Festival-Palais am Strand. In mehreren Kinos werden darin vom 13. bis zum 24. Mai die Schätze internationaler Kinematografien zum Buhen und Jubeln vorgeführt. Gleichzeitig befindet sich tief im Bauch und an den Flügeln des Palasts ein riesiger Umschlagplatz für Filme im Aufbau, von Produktion bis Verleih: der Marché du Film. Am Tag vor der Festivaleröffnung ist das Palais wunderbar leer gefegt. Der fluffige, noch mit Plastikfolie überzogene Teppich im Keller knistert unter den Füßen, an den Wänden und Ständen hängen erste Poster, für Katzenfilme mit viel Liebe, und für ganze Filmnationen: Investiert in den thailändischen Film! Investiert in den taiwanesischen Film! Usw. In den Obergeschossen vor dem Kino geistert hier und da eine Journalistenseele durch die Gänge. Das Palais gehört in diesen Stunden vor dem Sturm jedoch ganz den vielen Mitarbeitern des Festivals, die in Kürze wohl von einem "parlez-vous anglais"-Sturm heimgesucht werden.

Leider nicht im Wettbewerb: Cat AWOL aus Thailand.

Mit La tête haute wird das Festival in Cannes heute Abend eröffnet, erst zum zweiten Mal also von einer weiblichen Regisseurin. Zum ersten Mal wird zudem mit Agnès Varda einer Frau die Goldene Ehrenpalme verliehen, was zweierlei Grundvoraussetzungen für die Auszeichnung belegt: Erstens zertifiziert sie der Regisseurin von Mittwoch zwischen 5 und 7 einen "weltweiten Einfluss", zweitens hat die Nouvelle Vague-Veteranin Agnès Varda noch nie eine Goldene Palme gewonnen. Überfällig ist gar kein Ausdruck...

Auf dem Kaminsims der Gebrüder Joel Coen und Ethan Coen verstaubt schon seit 1991 (Barton Fink) eine Goldene Palme, daneben diverse Regie- und Jury-Preise. Als Vorsitzende der Wettbewerbsjury erwartet sie bei der 68. Ausgabe des Festivals ein erfreulich abwechlungsreiches Programm. Die für Cannes typischen großen Namen finden sich darunter. Paolo Sorrentino (La Grande Bellezza - Die große Schönheit) lässt Michael Caine in Youth über seine Vergänglichkeit (und hübsche Frauen?) schwelgen. Matteo Garrone (Gomorrha - Reise in das Reich der Camorra) geht in The Tale of Tales unter die Märchenerzähler, ebenfalls mit einem internationalem Ensemble um John C. Reilly und Salma Hayek. Das neue griechische Kino lockt mit The Lobster von Giorgos Lanthimos (Dogtooth) Hollywood-Stars wie Colin Farrell und Rachel Weisz in eine skurrile Zukunftsvision.

Dazwischen findet sich der ein oder andere gestandene amerikanische Filmemacher wie Gus van Sant, der mit seinem neuen Film The Sea of Trees endlich zum erlesenen Club der McConaissance gehört und hoffentlich mehr Elephant-Sant und weniger Promised Land-Sant abliefert. Oder vielleicht eine ganz neue Richtung? Unter den Oscar-Bloggern wird indes Cate Blanchett in der Patricia Highsmith-Verfilmung Carol von Todd Haynes heiß gehandelt. Weil Oscar-Blogger immer irgendwas heiß handeln, aber auch weil Todd Haynes sich mit Filmen wie Dem Himmel so fern die cinephile Vorfreude redlich erarbeitet hat. Der anscheinend arbeitswütige Frankokanadier Denis Villeneuve legt nach Prisoners und Enemy den Thriller Sicario mit Emily Blunt nach, der aussieht wie das, was die Poster der neuen True Detective-Staffel gerne wären. RoboBlunt in Cannes - fällt das Tagebuch aus, ist wohl eine spontane Schwärm-Attacke daran Schuld.

Am meisten freue ich mich aber über die Präsenz des asiatischen Kinos im Wettbewerb und den Nebenreihen. Wieder sind es einige große Namen, aber was für welche! Nach A Touch of Sin ist Jia Zhangke mit Mountains May Depart im Wettbewerb vertreten. Laut seinem Microblog  saß Jia noch vor wenigen Tagen am Schnitt. Was euch vielleicht einen Eindruck davon vermittelt, wie wichtig eine Weltpremiere in Cannes für Filme sein kann, die ohne die Kopfnüsse von Charlize Theron auskommen müssen. Andererseits: Ein Drama über soziale Ungerechtigkeit und Kälte im modernen China mit Imperator Furiosa als Racheengel.... Klingt nach dem nächsten großen Hit in China!

Einen entsprechenden Erfolg erhoffen sich vielleicht die Geldgeber des taiwanesischen Autorenfilmers Hsiao-hsien Hou (Three Times), der mit The Assassin ein in der Tang-Dynastie angesiedeltes Epos vorstellt. Mit Qi Shu stehen Muse und Superstar in Personalunion vor der Kamera. Seit zehn Jahren arbeitet Hou an diesem Werk und die Vorstellung, den Film als Teil einer exklusiven kleinen Gruppe zum ersten Mal sehen zu dürfen - das gehört auch zum seltsamen Reiz von Cannes, egal wie das Endprodukt aussieht.

Wobei, so klein ist die Gruppe doch nicht. 4000 Journalisten besuchten das Festival 2014, vor 50 Jahren waren es noch 700. Da heißt es Warten, das lässt sich schon bei der Anreise nicht verdrängen. Von Nizza braust der Shuttle-Bus hinüber, gefüllt von Gesprächsfetzen über das "fantastische Drehbuch" des äthiopischen Films und Selbstversicherungen der Jetlag-Kranken: "Noch fünf Stunden wach bleiben, dann, dann..." An der Stadtgrenze heißt es Fahren im Schritttempo. Aus einem Schaufenster lachen einen knusprig goldige Brathähnchen an, was an ihrer exzellenten Kruste oder einem Delirium aus Hunger und Hitze liegen mag. Das ist das andere, das vielleicht sogar bezahlbare Cannes, von dem im Umkreis des Festival-Palasts nichts zu merken ist. Aber wir sind ja auch nicht zum Essen da.

Mehr: Die Filme im Wettbewerb von Cannes 2015

Meine 10 am meisten erwarteten Filme des Festivals:

Mountains May Depart
The Lobster
Carol
Cemetery of Splendour
Macbeth
Alles steht Kopf
Yakuza Apocalypse: The Great War of the Underworld
The Assassin
The Tale of Tales
Dope

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