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Das Ohngesicht und der monströse Materialismus

19.10.2016 - 09:00 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
Chihiros Reise ins Zauberland
Universum/Ufa/moviepilot
Chihiros Reise ins Zauberland
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Maßlosigkeit, Korruption, Gier! Das schüchterne Ohngesicht mausert sich in „Chihiros Reise ins Zauberland“ zum verschwenderischen Monster mit bodenlosem Appetit.

Dieser Artikel entstand im Rahmen der Aktion Lieblingsmonster.

Chihiros Reise ins Zauberland zeigt die Geschichte der 10-jährigen Chihiro, die in eine magische Welt stolpert und sich, um ihre Eltern zu retten, durch den Arbeitsalltag in einem Badehaus für Götter und Geister schlägt. Hier trifft sie auf den Geist Ohngesicht (jap. カオナシ, Kaonashi) und lädt ihn bedenkenlos ins Badehaus ein. Bald darauf sieht sie sich einem schwarzen Ungetüm gegenüber.

Fett und aufgedunsen lauert das Ohngesicht im Chaos aus zerstörtem Mobiliar, Müll und Essensresten. Sein Körper wabert von den Massen an Wesen und Nahrung, die es verschlungen hat. Die Maske überhalb seines riesigen, krötenhaften Mauls zeigt ein Gesicht, das so gar nicht zur abstrusen Form dieses Ungeheuers passen will. Mit reptilienartigen, geschwollenen Gliedern bewegt es sich mühselig, spinnenartig durch sein Refugium. Wild und wütend verlangt es mehr und mehr, getrieben von unstillbarem Hunger. Die wuselnde Belegschaft, zuvor halb hysterisch vom Anblick des Goldes mit dem das Ohngesicht sie köderte, fährt panisch immer neues Essen auf.

Das Ohngesicht erreicht den grotesken Höhepunkt seines monströsen Daseins, als Chihiro ihm daraufhin einen Kräuterball ins nimmersatte Maul wirft. Wie ein Berserker rast es durch das Badehaus, fluchend und schreiend. Sein Körper zieht schleimige Fäden, fällt auseinander, das Ohngesicht muss literweise dunklen Schleim und ganze Teile der Belegschaft erbrechen.

Doch das Monströse am Ohngesicht ist nicht diese Form, die es während seines Aufenthaltes im Badehaus annimmt. Das Ohngesicht ist nur ein schüchterner, einsamer Geist, gänzlich ohne Stimme, Gesicht oder Identität, der sich nach einem Freund sehnt. Und was passiert, wenn dieser orientierungslose Geist mitten durch das Höllentor des Kapitalismus schreitet?

Er passt sich an und lässt sich durch die materialistische Konsumgesellschaft formen. Denn das Ohngesicht kapiert schnell, dass alle Wesen im Badehaus nur auf Gold aus sind. Was zunächst noch freundlich und hilfsbereit wirkt, ufert bald ins Extreme aus. Angetrieben von der Geldgier der Belegschaft, verschlingt das Ohngesicht gierig und maßlos alles, was ihm vor die nicht vorhandene Nase stolpert. Je mehr habgierige Wesen es frisst, umso mehr Hunger scheint es zu bekommen.

Und nichts, aber auch gar nichts scheint die innere Leere des Ohngesichts füllen zu können. Und das macht das Ohngesicht zu meinem Lieblingsmonster. Monströs auf der einen und menschlich auf der anderen Seite, ist es weder gut noch böse. Eigentlich ist es ein harmloser, einsamer Geist, für die meisten Augen unsichtbar, farblos in der bunten Menge. Seine Verwandlung spiegelt die materialistische Badehaus-Gesellschaft und ihre habgierigen, verschwendungssüchtigen Bewohner*innen. Das wahre Monster, und das lehrt Hayao Miyazaki in diesem Film erneut, ist das materialistische Denken. Von Gier und noch mehr Gier ernährt sich das Materialismusmonster und wächst unaufhaltsam. Gaukelt uns vor, sinn- und identitätsstiftend zu sein, während da eigentlich gar nichts ist, außer gähnender Leere.

Wir bedanken uns ganz herzlich bei den Sponsoren der Aktion Lieblingsmonster:

Aktion Lieblingsmonster


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