Der neue Pinocchio-Film würde Disney zu Tode erschrecken

28.02.2020 - 13:00 UhrVor 3 Jahren aktualisiert
Pinocchio
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Mit großartigem Make-up greift der neue Pinocchio-Film mit Roberto Benigni nach unserem Herz. Der bessere Pinocchio-Film heißt aber Die Last geboren zu sein und lief ebenfalls bei der Berlinale.

Die Berlinale quillt dieses Jahr vor - und das ist noch milde ausgedrückt - Dreckskerlen über. Im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Berlin geben sich Männer die Klinke in die Hand, die betrügen, schlagen oder foltern, ob in The Salt Of Tears, Berlin Alexanderplatz, Bad Tales, Siberia oder DAU. Natasha. Der Südkoreaner Hong Sang-soo war da in seinem Beitrag Die Frau, die rannte nur konsequent, als er sich ganz den Gesprächen der Frauen widmete, die mehr trotz als wegen ihrer kontrollsüchtigen (Ex-)Partner ihren Alltag bewältigen.

Was hat das mit dem süßen kleinen Pinocchio zu tun, dessen hölzernes Grinsekatzengesicht mit den blauen Äuglein wir noch allzu gut aus dem Disney-Film von 1940 in Erinnerung haben? Der neue Pinocchio hat es zwar nicht in den Wettbewerb geschafft. Dafür stellt die Adaption von Matteo Garrone die grundsätzliche Arschlochigkeit der Puppe wieder her, die man ihr verzeihen kann. Im Gegensatz zu den oben genannten weiß es das wandelnde Gehölz nicht besser.

Dieser Pinocchio ist in seiner Maserung gruselig und unheimlich, umgeben von herrlich skurrilen Gestalten, die mit einem exzellentem Make-up und Prothesen von Mark Coulier (Harry Potter-Reihe) zum Leben erweckt wurden. Als Film schlägt das Märchen allerdings keine Wurzeln. Eine deutliche Empfehlung geht hingegen für den besseren Pinocchio-Film im Programm raus: Die Last geboren zu sein von Sandra Wollner bietet herausragende Science-Fiction über ein Androiden-Kind.

Gruseliger als bei Disney: Der neue Pinocchio-Film

Pinocchio behandelt seinen Schöpfer Geppetto (Roberto Benigni) zunächst wie den letzten Dreck. Das tut bei Oscarpreisträger Roberto Benigni besonders weh, der Geppetto als liebenswerten Außenseiter spielt, also als das, was er am besten kann. Der arme Schreiner verkauft sein letztes Hemd, um seinem Sohn ein Schulbuch zu kaufen. Was macht Pinocchio? Der verscherbelt es, um den Eintritt einer Marionetten-Show zu bezahlen. So beginnt die Odyssee nach der Geschichte von Carlo Collodi, der 1881 erstmals über seinen lebendigen Stamm veröffentlichte.

Pinocchio

In der Version von Matteo Garrone (Gomorrha - Reise in das Reich der Camorra) und Massimo Ceccherini wird das Lügen strafende Näschen ebenso zurückgefahren wie Pinocchios Wunsch ein echter Junge zu werden. Betont wird hingegen die grausame Welt, die den unbändigen Pinocchio erwartet. Von Disney könnte dieses Märchen kaum weiter entfernt sein.

Schon in Das Märchen der Märchen hatte Garrone seinen Faible für das Groteske in der Fantasy gezeigt. Dieser Pinocchio steckt voller verstörend schöner Chimären. Eine Frau belustigt mit ihrem riesigen Schnecken-Körper (samt Schleimspur). Die sprechende Grille sieht aus wie ein hundertjähriges Benjamin Button-Double. Katze und Fuchs erinnern an die Figuren aus Garrones Milieustudie Dogman, nur eben mit wuscheligen Öhrchen und Schnurrhaaren.

Tim Burton liegt natürlich nah als Vergleich, würde es diesem Pinocchio nicht völlig an Herz und Dynamik fehlen. Unter der wunderbar plastischen filmischen Rinde verbirgt sich nämlich nicht viel. Was auch an dem Helden selbst liegt, der von allen menschlichen wie phantastischen Figuren am leblosesten wirkt.

Pinocchio

Pinocchio ist unheimlich, ausdruckslos und, ja genau, hölzern. Weshalb sofort jedes Interesse an seinem Dasein verpufft, sobald Geppetto zurückgelassen wird. Zum Glück gab es einen hervorragenden Pinocchio-Film im Programm der Berlinale...

Die Last geboren zu sein: Düsterer Sci-Fi-Film aus Österreich

Silikon ersetzt Holz. Die österreichische Regisseurin Sandra Wollner (Das unmögliche Bild) hat ganz sicher keinen Kinderfilm gedreht und auch manch Erwachsenem dürfte der Stoff von Die Last geboren zu sein aus dem Kino treiben. Ihr ist damit einer der besten Filme des Festivals gelungen. Dabei läuft er nicht einmal im Wettbewerb, sondern der neuen, herausfordernden Sektion Encounters.

Ein Android mit dem Aussehen eines zehnjährigen Mädchen lebt im Haus eines Mannes, den sie nur Papa nennt. Wäre da nicht die dumpfe, leblose Silikon-Nase, könnte man Elli (Lena Watson) für ein echtes Mädchen halten. Natürlich nur auf den ersten Blick. Ihre Bewegungen wirken unkindlich genau, ihre Gespräche einstudiert, oder besser: einprogrammiert. Als sie im Pool ertrunken scheint, muss der Vater sie mit dem Tablet neu starten.

The Trouble With Being Born

Die Last geboren zu sein ist ein enorm düsterer Sci-Fi-Film, nicht nur in der schummrigen Inszenierung der nahen Zukunft, sondern in seinem verstörenden Umgang mit dem Missbrauch des Androiden, der durch den Vater begangen wird. Michael trifft auf A.I. - Künstliche Intelligenz. Exploitativem Schrecken geht Sandra Wollner in der Inszenierung aus dem Weg und lässt trotzdem ein grauenhaftes Trauma aufflackern.

Überhaupt wirkt Elli, die ihren Besitzer im Verlauf des Films wechseln wird, wie der Hightech-Rahmen eines Nachbilds von Erinnerung. Erinnerungen an Schuld ohne Sühne. Der Vater erinnert seine verschwundene Tochter mit einem einprogrammierten Drehbuch, seine Selektion von Erinnerung vernebelt zunächst den Blick.

Doch Glitches und Bugs in dem künstlichen Körper werfen wie durch Zufall Schlaglichter auf die Wahrheit. Diese Androiden träumen nicht von elektrischen Schafen. Sie liegen nachts mit offenen Augen in ihren Kinderbetten und scannen ihre Festplatten voller menschlicher Alpträume.

Wollt ihr überhaupt noch einen Pinocchio-Film sehen?

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