Community

Die Reise zum letzten Frieden

14.10.2014 - 12:00 Uhr
Alvin und sein unorthodoxes Gefährt
Senator
Alvin und sein unorthodoxes Gefährt
0
7
Eine kleine Hommage an meine Lieblingsszene.

SPOILER-WARNUNG: Dieser Text enthält unvermeidlicherweise erhebliche Spoiler zu dem Film THE STRAIGHT STORY.

Meine Lieblingsszene ist die letzte Szene des Films THE STRAIGHT STORY von David Lynch. Wer andere Werke dieses Regisseurs kennt, wird den Titel für Ironie halten, denn viele von ihnen sind surrealistisch, verwirrend und alles andere als geradlinig. Doch THE STRAIGHT STORY hat tatsächlich den Prototypen eines Plots: Ein Protagonist lebt zunächst vor sich hin, bevor ein Ereignis auftritt, das ihm ein Ziel in den Kopf setzt. Er begibt sich auf eine Reise, um dieses Ziel zu erreichen, was ihm natürlich trotz diverser antagonistischer Kräfte gelingt.

Es liegt eine Schwierigkeit darin, eine einzelne Filmszene isoliert zu besprechen, denn große Momente des Geschichtenerzählens leben von ihrer Aufgeladenheit. Selbst die legendäre Verfolgungsjagd in TERMINATOR 2 mit dem Motorrad und dem LKW wäre nicht so mitreißend, wenn wir nicht wüssten, wer da wen warum verfolgt und was für die Beteiligten auf dem Spiel steht.

Meine Szene ist für sich allein betrachtet geradezu langweilig. Doch sie ist so aufgeladen, dass sie für mich eine der berührendsten Szenen der Filmgeschichte ist. Um also die Aufgeladenheit der Szene zu verstehen, in aller Kürze das Setup:

Alvin Straight ist 73 Jahre alt, lebt mit seiner Tochter in einer Kleinstadt in den USA. Seine Frau und anderen Kinder sind verstorben. Er kämpfte im 2. Weltkrieg gegen die Nazis. Ein Mann also, den so leicht nichts mehr schocken kann. Ein Mann, der die Dinge geradeaus anpackt.

Alvin hat einen Bruder namens Lyle. Sie wuchsen zusammen auf, waren unzertrennlich und kannten den anderen besser als sich selbst. Doch mit den Jahren vermischten sich Zorn und Alkohol und sie gingen im Streit auseinander. Als sie seit zehn Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten, erfährt Alvin, dass Lyle vor Kurzem einen Schlaganfall erlitt. Alvin ereilt das Gefühl, dass er seinen Bruder unbedingt noch mal sehen muss, bevor es nicht mehr möglich ist.

Das Problem: Alvin wohnt ca. 500 km von Lyle entfernt, kann wegen einer Sehschwäche keinen Führerschein machen und ist zu stolz, um sich von jemand anderem fahren zu lassen. Die einzige Chance sein Ziel zu erreichen, sieht er darin, auf seinem Aufsitzrasenmäher zu fahren. Dafür benötigt er keinen Führerschein. Mit knapp über Schrittgeschwindigkeit diese Strecke zurückzulegen ist eine verrückte Idee. Zudem noch in seinem Alter und mit seinen Gebrechen.

Doch wenn er es nicht tut und seinen Bruder sterben lässt, ohne ihn noch einmal gesehen und gesprochen zu haben, wäre ein Stück Frieden in ihm für immer verloren. Auch er hat nicht mehr allzu viele Jahre vor sich. Diese Reise ist aus seiner Sicht also etwas, dass er unbedingt tun muss.

Die Fragen, die Alvin und der Zuschauer den ganzen Weg mit sich herumschleppen, sind: Wird Alvin überhaupt bei Lyle ankommen? Wird Lyle dann noch am Leben sein? Wird er Alvin nach all den Jahren verzeihen oder trägt er immer noch zu viel Wut in sich?

Diese Fragen werden auf seiner Reise immer weiter aufgeladen, indem wir Alvin dabei zusehen, wie er auf Menschen trifft und mit ihnen über sich, das Älterwerden, den Krieg und seinen Bruder redet. Wenn Alvin dann nach mehreren Wochen auf den letzten hundert Metern vor Lyles Hütte einen Waldweg entlang tuckert, bin ich fast so nervös wie Alvin selbst.

Die letzte Szene

Alvins Aufsitzrasenmäher kommt vor einer heruntergekommenen Hütte im Wald zum Stehen. Die hölzerne Außenwand wirkt morsch, auf der Veranda scheint seit geraumer Zeit kein Handschlag mehr getan worden zu sein und um die Hütte herum regiert Wildwuchs. Alvin müht sich von seinem Gefährt herunter und geht mit seinen beiden Krücken langsam auf die Hütte zu. In einem vorsichtigen Abstand bleibt er stehen und ruft den Namen seines Bruders. Sein Gesicht ist voller Angst davor, keine Antwort zu erhalten. Er ruft erneut: „Lyle?!”. Nach einigen quälenden Sekunden erhält er endlich eine Antwort. Die Stimme eines alten Mannes ruft aus der Hütte: „Alvin?!”. Das erste Stückchen Anspannung fällt von Alvin ab.

Er geht weiter Richtung Hütte während Lyle mit einer Gehhilfe aus der Haustür tritt. Sie schauen sich an. Alvin steigt die vier Stufen zur Veranda hinauf. Sie stehen sich nun gegenüber. In Lyles Gesicht erkennen wir ablehnende Skepsis, doch er ringt sich ein „Sit down, Alvin.” ab. Beide lassen sich in Holzstühle fallen und schweigen sich eine Weile an.

Dann blickt Lyle auf den Aufsitzrasenmäher, der vor seiner Hütte steht. Es rattert in seinem Kopf. Er beginnt zu erahnen. Sein Bruder auf Krücken … der 500 km entfernt wohnt … mit einem Aufsitzrasenmäher …

Lyles Augen füllen sich langsam mit Tränen. Er runzelt die Stirn, um dieser Emotion zu widerstreben. „Did you ride that thing all the way out here to see me?”, fragt Lyle. Schnitt zu einer Nahaufnahme von Alvin. Wir sehen, dass er die Tragweite dieses Wortwechsels verarbeitet. Er holt tief Luft und antwortet: „I did, Lyle.” Auch seine Augen sind nun feucht. Wieder Schnitt zu Lyle. Seine Augen sind nun randvoll und er wehrt sich nicht mehr dagegen.

Mit der Geste dieses Besuches hatte Alvin vieles von dem Kalk weggespült, der sich zwischen den beiden Brüdern abgelagert hatte. Beide spüren das nun, während sie sich einvernehmlich anschweigen. All die Angst fällt langsam von Alvin ab und sie schauen gemeinsam zum Himmel. Wie sie es als Kinder immer getan hatten und wie es sich Alvin während seiner Reise immer wieder ersehnt hatte.


Hier präsentieren wir euch die Preise, die ihr gewinnen könnt und möchten uns damit auch bei all unseren Sponsoren und Medienpartnern bedanken, die sie gestiftet haben: 


Das könnte dich auch interessieren

Angebote zum Thema

Kommentare

Aktuelle News