Dreimal so viele Selbstmorde im Film seit 1950

07.09.2011 - 08:50 Uhr
The Virgin Suicides von Sofia Coppola
TiMe Filmverleih
The Virgin Suicides von Sofia Coppola
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Eine Studie stellt den Zusammenhang zwischen Selbstmord im Film und unter Jugendlichen in der realen Welt her und sorgt dabei mit einseitiger Betrachtung für viel Unmut.

Statistiken werden gerne von den Medien benutzt, um durch eine einseitige Beleuchtung oder Weglassen von Details falsche oder unvollständige Schlüsse zu präsentieren, gerade wenn es darum geht, einen Punkt zu untermauern. Eine neue Studie des Annenberg Public Policy Center sorgt daher für genügend Gesprächs- und Streitstoff unter Filmfreunden, da genau dieses Problem hier auftritt.

Die Organisation hat 855 Boxoffice Hits, die zwischen 1950 und 2006 veröffentlicht wurden, auf ihre Porträtierung von Suizid untersucht. Dabei stellte das APPC fest, dass in diesem Zeitraum die Darstellung brutaler Selbstmorde im Film um das Dreifache zugenommen hat. Gleichzeitig hat sich die Zahl der Selbstmorde unter Jugendlichen ebenfalls verdreifacht. Überraschenderweise wurde dabei entdeckt, dass es kaum Unterschiede gibt, ob es sich dabei um einen Film mit dem Rating R oder PG-13 handelt. In beiden Ratings taucht die Thematik in gleicher Häufigkeit auf und unterscheidet sich auch nicht darin, wie explizit die Darbietung ist.

PG-13 ist bekanntlich eine Empfehlung an Eltern, ihren Kindern die entsprechenden Filme nicht zugänglich zu machen, sofern diese jünger sind als 13 Jahre. Dabei wird der Grund für die Empfehlung (Gewalt, Drogenkonsum, Sprache …) als eine Art Warnung für die Eltern genannt. Jedoch, so kritisiert APPC, gibt es keine spezielle Warnung für filmischen Suizid, was in den USA laut dem CDC (Centers for Disease Control and Prevention) die dritthäufigste Todesursache junger Menschen zwischen 15 und 24 Jahren ist. Die Studie merkte an, dass nur 8.6 % aller Hauptcharaktere betroffen wären. Jedoch liegt das Alter der (potenziellen) Selbstmörder im Film zu 60,7 % zwischen 10 und 40 Jahre, was es jungen Leuten leichter machen würde, sich mit den Figuren zu identifizieren und somit eine Gefahr darstellt, vor der Eltern gewarnt werden sollten.

Daher schlagen sie vor, dass nicht nur jeder entsprechende Film automatisch ein R-Rating bekommen soll, sondern gleichzeitig auch die Telefonnummer einer Selbsthilfehotline vor der Vorstellung eingeblendet wird. Filmfans reagieren auf diesen Vorschlag wenig begeistert, da schon eine solche Warnung zu Beginn eines Filmes in einigen Fällen einen enormen Spoiler darstellen würde. Filme wie Full Metal Jacket oder Fight Club, in denen Suizid einen Teil, aber nicht die Haupthandlung darstellt, würden somit ihre Spannung verlieren. Vor Streifen wie The Virgin Suicides – Verlorene Jugend, deren Hauptthema es darstellt, würde es hingegen eher Sinn machen. Konsequenterweise sollten dann jedoch auch vor Vorstellungen von Requiem for a Dream oder Trainspotting – Neue Helden Broschüren über Drogenkonsum und vor Der Pate oder Attack the Block Aufklärungen über die Zugehörigkeit zu Banden stattfinden. Brechen wir das Warnungsspiel herunter, lässt sich sicherlich in jedem Film etwas finden, vor dem sich warnen lässt, und sei es nur belastend schlechte Schauspielkunst.

Die Schlüsse, die aus den Ergebnissen der Studie des APPC gezogen werden, sind fragwürdig, weil schon Fragestellung und Durchführung eher lückenhaft und einseitig beleuchtet scheinen. Nur in einem Nebensatz wird das Bevölkerungswachstum erwähnt, das prozentual gesehen natürlich Einfluss auf die steigende Anzahl an Suiziden unter Jugendlichen hat. Dass seitdem auch die Anzahl der Filmproduktionen gestiegen ist, was das Auftauchen von Selbstmord im Kino umso wahrscheinlicher macht, wird, wie auch die angestiegene Arbeitslosigkeit und andere Faktoren, komplett ignoriert. Egal wie wir den Artikel betrachten, schon dessen Existenz kann als bedenklich angesehen werden, da die Untersuchung des Zusammenhangs eine gewisse Voreingenommenheit fast voraussetzt und auch die Vereinfachung eines komplexen Themas. Es erinnert ein wenig an die Studien, die den Zusammenhang von Jugendgewalt und Killerspielen herstellen sollen, frei nach dem Motto „Wer suchet, der findet“.

Was APPC ebenfalls unbeachtet lässt, ist, dass das Leben nicht immer die Kunst imitiert. Die Kunst imitiert das Leben. Dabei ist es egal, ob es sich um Filme handelt oder Bücher, Videospiele oder Gemälde. Künstlerische Werke, zu denen bekanntlich auch Filme zählen, dienen als Reflexion der Gesellschaft. Wird ein Phänomen in der Öffentlichkeit immer wichtiger, schlägt sich dieser Trend natürlich auch in deren Werken wieder. Filme wie Durchgeknallt, dem Angelina Jolie ihren ersten Oscar zu verdanken hat, wären nie entstanden, wenn Susanna Kaysen, die Autorin der verfilmten Autobiografie, nicht versucht hätte, sich das Leben zu nehmen. Syliva Plaths Buch, das demnächst als The Bell Jar in die Kinos kommt, so wie das Drama Sylvia wurde ebenfalls durch ihre eigene Depression inspiriert. Kunst und Leben beeinflussen sich gegenseitig, daher lässt es kein korrektes Bild zu, wenn wir nicht beide Seiten der Medaille betrachten, was hier nicht geschehen ist.

Den vollständigen Artikel von Patrick E. Jamieson, Ph.D., findet ihr auf der Website des APPC. Dort könnt ihr die genauen Konditionen, unter denen die Studie durchgeführt wurde, nachlesen. Die unvollständige Zusammenfassung der Ergebnisse, die zurzeit für viel Wirbel sorgt, ist hier zu finden.

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