Ein Meilenstein von Ubisoft: Vielfalt, die niemandem schadet

23.10.2015 - 18:45 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Assassin's Creed: Syndicate
Ubisoft
Assassin's Creed: Syndicate
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Assassin's Creed: Syndicate erweitert die Serie nach über acht Jahren um einen neuen Teil. Die Kritiker sind sich unsicher, ob sie das Spiel empfehlen oder abschreiben sollen — und scheinen dabei die größte Errungenschaft von Syndicate zu übersehen.

Seit 2007 beginnt jedes Abenteuer des Assassinen mit dem gleichen Statement des Entwickler-Teams, das mittlerweile zur Tradition gereift ist:

Inspiriert von historischen Ereignissen und Charakteren. Dieses fiktive Werk wurde von einem multikulturellen Team verschiedenster Glaubensrichtungen und Weltanschauungen entworfen, entwickelt und fertiggestellt.

Erstmals seit acht Jahren hat Ubisoft mit Assassin's Creed: Syndicate dieses Credo verworfen und dem einführenden Hinweis einen neuen Aspekt hinzugefügt:

Inspiriert von historischen Ereignissen und Charakteren, wurde dieses fiktive Wert von einem multikulturellen Team verschiedenster Glaubensrichtungen, sexueller Orientierungen und Geschlechteridentitäten entworfen, entwickelt und fertiggestellt.

Diese Änderung der einleitenden Worte kündigt eine Erkenntnis mit den Ausmaßen eines Meilensteins an, den die Entwickler mit Assassin's Creed: Syndicate selbstbewusst in der Spielelandschaft platziert haben: Vielfalt schadet niemandem — auch nicht einem der konservativsten Franchises überhaupt.

Die Herausforderung "Evie Frye"

Evie Frye ist Teil des Assassinen-Duos und Schwester von Jacob Frye, der zweiten spielbaren Figur in Syndicate. Mit ihr gibt uns Ubisoft erstmals die Möglichkeit, als Frau durch das Franchise zu steuern und behandelt Evie als gleichberechtigtes Gegengewicht zu ihrem Bruder: Sie kann die gleichen Nebenmissionen annehmen und wird nicht von virtuellen Zeitgenossen wegen ihres Geschlechts belästigt oder verlacht.

Das Frauenbild in Syndicate ist differenzierter als jemals zuvor.

Ihre Kampfanimationen sind hart, kantig, koordiniert und frei von jeder sexualisierten Bewegung oder Geste, wie wir es eigentlich erwarten müssten. Zudem verfolgt sie in der Geschichte ganz eigene Ziele, die sie immer wieder in Konflikte mit ihrem Bruder geraten lassen. Evie wirkt wie eine von Grund auf eigenständige und charakterstark geschriebene Figur — und nicht etwa wie ein weiblicher Ganzkörperanzug für den klassischen, männlichen Helden.

Diese emanzipierte Stellung im Spiel steht in einem merkwürdigen Gegensatz zur Vermarktung von Assassin's Creed: Syndicate: Noch weit vor Release rückte das, vom Entwickler zur Verfügung gestellte, Material Jacob deutlich in den Vordergrund, der in den Trailern seine Schwester als "Frau für die Feinarbeit" und Unterstützung aus zweiter Reihe vorstellte. Erst mit dem näher rückenden Release-Datum öffnete sich diese Art der Vermarktung, spendierte dem Stand in der Gamescom-Halle ein riesiges Evie-Porträt und mündete schließlich in zwei Launch-Trailern für je beide Geschwister.

Die Werbung für Syndicate rückte Jacob lange Zeit viel deutlicher in den Vordergrund.

Hier wurde deutlich, wie vorsichtig das AAA-Entwicklerteam seine Zielgruppe an die neue Protagonistin heranführen wollte. Gleichzeitig scheint es in meinen Augen kein Zufall zu sein, dass der Gewaltgrad des Franchises mit Assassin's Creed: Syndicate einen neuen Höhepunkt erreicht hat: Beide Protagonisten schnetzeln sich mit sekundenlangen Hinrichtungen und Exekutionen durch die Gegnerscharen — ganz egal, ob ihr euch in einer Straßenschlacht in London oder im Trailer zum DLC befindet, der sich eigentlich um einen Biologen (!) und Autoren (!!) dreht.

Diese Gewalt, die gleichsam von Jacob wie auch Evie ausgeht, soll beide Charaktere auf eine Stufe stellen und nicht etwa die Schwester als zarte Frau oder reines, übersexualisiertes Lustobjekt präsentieren. Ubisoft nutzt stattdessen von schiefen Grinsen begleitete Explosionen und reichhaltige Blutfontänen, um das Geschwisterpaar gleichzustellen — und dies offensichtlich mit Erfolg.

Frauen: Die neue Normalität

Es fällt bereits innerhalb der ersten Spielminuten auf, wie präsent Frauen auch abseits des Geschwisterpaares im normalen Straßenbild Londons sind, das Ubisoft geschaffen hat: Weibliche Bandenmitglieder, Templer und Gang-Anführer gehören zur Normalität.

Gleichzeitig wurden die Gruppen der Prostituierten, die noch in Assassin's Creed Unity auf Knopfdruck als Ablenkung dienten, ersatzlos gestrichen. Diese Lücke wird durch ein Frauenbild gefüllt, das von seiner Spielwelt nicht als besonders oder ungewöhnlich hervorgehoben wird.

Frauen gehören gleichsam wie Männer zu den Straßenschlachten.

Natürlich widersetzt sich Ubisoft damit der historischen Realität, in der Frauen (wie auch heute) täglich Opfer von Übergriffen waren — doch in einem Videospiel, in dem ihr sonst unkommentiert vor Kinderaugen Massenmorde begeht oder strafbefreit auf öffentlichen Denkmälern herumklettern könnt, wurde hier an der exakt richtigen Stelle auf historische Authentizität verzichtet. Diese anachronistische Gleichstellung der Geschlechter schadet niemandem, sondern macht Assassin's Creed: Syndicate stattdessen zu einem modernen, offenerem Spiel.

Nicht Multi-Kulti, aber auch kein Einheitsbrei

Charaktere mit Migrationshintergründen waren seit jeher in den Spielen des Franchises vertreten. Auch Assassin's Creed: Syndicate verfolgt diese Linie weiter und konfrontiert uns schon in der ersten Spielhälfte mit Charakteren aus den fernsten Ecken der damaligen Welt.

Doch diese Charaktere bleiben leider auch in diesem Teil der Serie stark unterrepräsentiert — sowohl was ihre Anzahl betrifft als auch in Hinblick auf die Qualität und Tiefe ihrer Geschichten. Hier wird deutlich, wie das Franchise noch immer nicht ganz der Mentalität entkommen ist, als Projektionsfläche einer etwa vorwiegend weißen Zielgruppe dienen zu müssen. Dass Diversität ein lohnenswertes Ziel ist, scheinen die Entwickler nämlich eigentlich verstanden zu haben , wie diese Worte von Entwickler Marc-Alexis Côté zeigen:

Diversität bedeutet für mich, eigene Vorstellungen ganz aktiv zu verändern und zu überdenken. Denn normalerweise, und das ist eine weit verbreitete Grundannahme in der gesamten Videospiel- und Filmindustrie, denken wir beispielsweise beim Schreiben und Erfinden einer Rolle grundsätzlich zuerst an eine männliche Besetzung.

Nach einem ersten Versuch in einem Unterkapitel des Franchises  beweist Ubisoft mit Assassin's Creed: Syndicate, dass Diversität kein ins Leere hallendes Schlagwort der Kommentarbereiche mehr sein muss, sondern ein Spiel deutlich bereichern kann: Denn Vielfalt schadet niemandem und die Geschichte von Evie und Jacob Frye hat sich hierfür als Paradebeispiel herausgestellt.

Hut ab, Ubisoft.

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