Ich, Das große Fressen & der Überdruss

05.11.2013 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
Das Große Fressen
Arthaus
Das Große Fressen
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Marco Ferreris Das große Fressen aus dem Jahr 1973 ist eine herrlich bittere Parabel auf die Konsumgesellschaft der Nachkriegsjahre. Warum der Film noch heute Aktualität besitzt und zu den Klassikern des europäischen Kinos gehört, erfahrt ihr hier.

Die Story hat es in sich. Vier Bonvivants entscheiden sich im beginnenden Herbst ihres Leben zum gemeinsamen Suizid durch Überfressen. Der Flugkapitän Marcello (Marcello Mastroianni) ist ein wahrer Beau. In einer Zeit als das Fliegen noch ein privilegierte Art des Reisens war, tritt er als schneidiger Frauenheld und idealtypische Verkörperung eines durch und durch erfolgreichen Mannes auf. Restaurantbesitzer Ugo (Ugo Tognazzi) ist bekannt für seine nicht nur leichte französische Küche und hängt an nichts und niemand mehr als an seinen Kochmessern, die ihm in früher Jugend einst der Vater schenkte. Fernsehproduzent Michel (Michel Piccoli) hat die Nase vom Medienbetrieb gestrichen voll und lässt seine Ex-Frau und die bereits erwachsene Tochter ohne Zweifel hinter sich. Und Jurist Philippe (Philippe Noiret), der seine ersten sexuellen Erfahrungen mit seiner Amme erlebte und die ihm immer noch den Haushalt führt, stellt den Freunden eine verwaiste Jugendstil-Villa am Stadtrand von Paris zu Verfügung.

Die Vier beginnen von nun an den Tag mit einer Tasse Kakao – das soll den Magen öffnen –, um anschließend Pasteten, Nudelgerichte, Hühnchen, Schweine- und Rinderbraten zu zubereiten und sich einzuverleiben. Sie lassen Prostituierte kommen, um die leiblichen Genüsse noch zu erweitern. Das große Fressen kann beginnen.

Warum ich dem Großen Fressen mein Herz schenke
Die filmische Fressorgie von Regisseur Marco Ferreri lässt sich heute als beißende Kritik an der Genusssucht und dem Selbstverständnis eines machtbewussten Bürgertums verstehen. Anfang der 1970er Jahre wurde Frankreich von Georges Pompidou regiert, der die von Charles des Gaulle ausgerufene Fünfte Republik ab 1969 fortführte. Er wollte aus Frankreich ein technisch modernes Land machen und seinem Volk alles Sentimentale austreiben. Zur selben Zeit terrorisierten in Italien neofaschistische Kampfverbände die Zivilbevölkerung. Aus den Reihen der ultrakonservativen Parteien geplant, sollte der Terror das Land vor einem Linksruck bewahren und das Volk einschüchtern.

In Italien setzte sich Pier Paolo Pasolini in filmischer, schriftstellerischer und journalistischer Arbeit mit der politischen Situation seines Landes radikal auseinander. Sein Film Die 120 Tage von Sodom von 1975 war eine ätzende Studie über den Verfall von entgrenzter Macht hin zu roher Gewalt, wie es Pasolini in den Straßen Roms und ganz Italien beobachtete. Hier waren es vier Souveräne, die über das jugendliche nackte Fleisch ihrer entführten Opfer in einem entlegenen Château bestimmten und in den Tod rissen. Marco Ferrari schlägt in Das große Fressen zwei Jahre zuvor noch leisere Töne an. Die vier Lebemänner erscheinen nicht als das personifizierte Böse, sondern als Freunde weltlicher Genüsse. Am Fleisch zubereiteter Fleischbraten ergötzen sie sich ebenso wie an ihrer geladenen Damengesellschaft. Dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Filmen finden und im Vergleich, ist Ferreris Satire ein ebenso kraftvolles Werk wie Pasolinis letzte Arbeit vor seinem gewaltsamen Tod.

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