Steinhude, irgendwann zwischen 2000 und 2003.
Im ausgebauten Dachgeschoss sitzen meine Freundin, ihr kleiner Bruder und ich dicht gedrängt vor dem Heiligen Gral — dem Arbeitscomputer ihres Vaters. Gebannt folgen unsere Augen vielen Autos im virtuellen Stadtverkehr von London und wir steuern unsere Vehikel abwechselnd mithilfe eines Lenkrad-Controllers durch die Straßen. Die beiden, die nicht am Drücker sind, beobachten mit Argus-Augen eine Stoppuhr. Sie zählt die Sekunden herunter und zeigt ihnen somit an, wie lange es noch dauert, bis sie wieder auf den Asphalt in Midtown Madness 2 losgelassen werden.
London, Oktober 2010
Nach einer schlaflosen Nacht, deren Großteil ich auf einem durchgesessenem, muffigen Sitz verbracht habe, klebe ich an der Seitenscheibe des Busses, der mich und meinen Englisch-Leistungskurs mitten in das Herz der britischen Metropole transportiert. Die Zähne sind ungeputzt, die Haare zerzaust, die Augen dunkel gerändert — aber voller Freudentränen.
Berlin, November 2015
Ich gebe offen zu, dass ich eine gewisse Obsession mit London habe. In meiner Wohnung fliegt ein nicht zusammengebauter Puzzle-Big Ben herum, meinen Nachttisch ziert der Union Jack, in meinem Geschirrschrank steht eine Tasse mit Motivdruck der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs und über meinem Bett prangt eine Collage, die aus Erinnerungen an besagte London-Reise besteht.
Schuld daran ist das von Angel Studios entwickelte und von Microsoft am 06. Oktober 2000 für den PC veröffentlichte Midtown Madness 2. Darin könnt ihr euch hinter die Lenkräder diverser Vehikel — von Mini Cooper Classic bis Audi TT — klemmen und die offenen Spielwelten erkunden, die nach den Vorbildern von San Francisco und London entworfen wurden. Der Titel fordert euch, beispielsweise im Checkpoint-Modus, dazu heraus, euer Können bei Rennen zu beweisen. Wenn ihr siegreich aus ihnen hervorgeht, könnt ihr dadurch neue Autos freischalten. Gleichzeitig könnt ihr im Cruise-Modus aber auch nach Lust und Laune auf vier Rädern die städtischen Open Worlds unsicher machen.
In diesem Spielmodus stürzte ich zunächst in einer kleinen Freundesrunde und später auch auf eigene Faust zwei der — wie ich finde — schönsten Städte dieser Welt ins Chaos. Midtown Madness 2 ist nicht Just Cause oder GTA, doch die Liebe zur Zerstörung, der ich heute in diesem Maße nicht mehr fröne, fesselte mich damals stundenlang an den Bildschirm. In dieser Zeit ließ ich hauptsächlich Glasfronten von Gebäuden zusammenstürzen, fuhr Telefonzellen über den Haufen und meinen fahrbaren Untersatz zu Schrott.
Darüber hinaus bieten euch sowohl London als auch San Francisco in Midtown Madness 2 mit der Taxi-Fahrschule und dem Stuntfahrer-Kurs standortbezogene Spielmodi an. In England werdet ihr dabei von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit in einem mörderischen Tempo und auf dem schnellsten Wege durch Kreisel und Verkehrsströme gescheucht. In Kalifornien trainiert ihr hingegen die Ausführung waghalsiger Manöver für einen Hollywood-Film.
Insbesonders die erstere Herausforderung hatte es mir im Kindesalter angetan. Stundenlang fuhr ich mit einem kleinen schwarzen Taxi wieder und wieder Strecken zwischen diversen Touristenattraktionen ab. Dabei verlor ich irgendwo zwischen Trafalgar Square, Buckingham Palace & Co. mein Herz an die Metropole an der Themse und war überzeugt davon, dass mich der dadurch erlangte Orientierungssinn eines schönen Tages wie eine Ortskundige durch London wandeln lassen würde. Ich war unglaublich schief gewickelt.
Denn im Verlaufe meiner ersten London-Reise im Oktober 2010 schafften es meine Freundin und ich uns nicht nur häufig, sondern auch in drastischem Ausmaß zu verlaufen. Wir landeten wir dadurch versehentlich in Notting Hill, entdeckten eine kleine Konditorei und machten die Bekanntschaft vieler netter Menschen, die uns wieder auf den richtigen Weg brachten. Dieses Herz für Klassiker ist bereits der dritte Text, in dem ich die Erlebnisse dieses Trips verarbeite.
Aber es ist der erste Text, der mit Midtown Madness 2 die Ursprünge meiner London-Leidenschaft beleuchtet.