Ingmar Bergman - Zum 100. Geburtstag des großen Seelenforschers

14.07.2018 - 08:50 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
Ingmar Bergman beim Dreh von Wilde Erdbeeren
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Ingmar Bergman beim Dreh von Wilde Erdbeeren
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Ingmar Bergmans Filme erschüttern in ihrer Drastik und Berühren zugleich mit entwaffnender Empathie. Heute wäre der legendäre schwedische Regisseur 100 Jahre alt geworden.

Karin (Ingrid Thulin) liest aus dem Tagebuch ihrer im Sterben liegenden Schwester Agnes (Harriet Andersson). Maria (Liv Ullmann), die dritte Schwester im Bunde, versucht, Karin Trost zu spenden, doch diese kann es nicht aushalten, von einer anderen Person berührt zu werden - egal, auf welche Weise. Daher stößt sie Maria zur Seite, doch ihre Tränen verraten, dass sie sich eigentlich sehr nach Nähe sehnt. Wie tief ihr innerer Schmerz sitzt, beschrieb zuvor bereits eine Rückblende, in der Karin ihre Genitalien mit einer Glasscherbe verstümmelte. Kurz darauf kommt es dann doch zu einer scheinbar erlösenden Annäherung zwischen den Frauen und beim Abschied nach Agnes' Beerdigung geht Karin sogar noch einmal herzlich auf Maria zu. Nun jedoch offenbart sich die erschütternde Oberflächlichkeit von Marias zuvor beobachteter Anteilnahme in vollem Ausmaß. Man sehe sich wie üblich am Dreikönigstag wieder, meint Maria nur schroff.

Ingmar Bergman ist viel mehr als nur Tristesse

Intensive, mitunter verstörende Charaktermomente wie diese aus Schreie und Flüstern sind kennzeichnend für das Werk des 2007 verstorbenen Ingmar Bergman, der 1997 bei den Filmfestspielen in Cannes als bester Filmregisseur aller Zeiten geehrt wurde. Ausprägungen seiner unnachahmlichen Handschrift sind etwa das Verharren auf den Gesichtern seiner Darsteller in langen Einstellungen, Dialoge, die ans psychisch Eingemachte gehen, sowie eine sinnliche Lichtsetzung, zu der sein Stamm-Kameramann Sven Nykvist maßgeblich beitrug. Mit jenen Mitteln, die er teils aus der Stummfilm-Ära übernahm und für seine Zwecke weiterdachte, erforschte der Schwede den Zustand des Menschen so kompromisslos wie kein Regisseur vor und keiner nach ihm. Entgegen einem hartnäckigen Klischee aber geht es in seinen Filmen nicht immer nur finster und bleischwer zu. Im Gegenteil werden sie häufig durch einen warmen Hoffnungsschimmer erhellt, der sich - und sei es nur für kurz - mutig seinen müßigen Weg durchs Dunkel bahnt.

Schreie und Flüstern

So entfaltet etwa Schreie und Flüstern seine volle Wirkung erst ganz am Ende, als nach Karin auch die tiefgläubige Dienstmagd Anna (Kari Sylwan) in Agnes Tagebuch liest und der Zuschauer Zeuge eines vergangenen Moments gemeinsamen Glücks zwischen den Schwestern wird. In ihren Aufzeichnungen berichtet Agnes von einem sonnigen Nachmittag, an dem die Frauen wie kleine Mädchen im Garten schaukelten und dabei einander an den Händen hielten. Das den beinahe gesamten Film dominierende Rot weicht nun konsequent dem unschuldigen Weiß von Frauenkleidern. Es ist eine Szene von bestechender Einfachheit, die von berechnender Gefühlsduselei aber kaum weiter entfernt sein könnte. Und hätte Bergman dem Zuschauer zuvor nicht erbarmungslos die seelischen Höllenqualen seiner Protagonistinnen zugemutet, würde sie vermutlich nicht ansatzweise so gut funktionieren.

Ingmar Bergman suchte durch seine Werke nach der Wahrheit

Die meisten seiner Filme weisen Bergman nicht unbedingt als Pessimisten, sondern vielmehr als Suchenden aus. "Ich hoffe, ich werde niemals so alt, dass ich religiös werde", lautet etwa ein Zitat, das häufig mit ihm in Verbindung gebracht wird. Angesichts dieser klaren Worte verhandelte er in Licht im Winter überraschend einfühlsam und umsichtig die tiefe Glaubenskrise eines Pastors, der den Mitgliedern seiner Gemeinde in schweren Zeiten nicht länger Mut spenden kann. Wo sich Menschen nach Erlösung sehnen, an Einsamkeit und ihren eigenen Gefühlen zerbrechen, da wiederum begann für den Autor und Regisseur erst eine erzählenswerte Geschichte. Ein versöhnliches Ende ist damit jedoch nicht ausgeschlossen, wie beispielsweise Wilde Erdbeeren - eines seiner bekanntesten Dramen - demonstriert. Hier nämlich gelingt es Victor Sjöström als emeritiertem Professor nach vielen Jahren der Tristesse durch die Begegnung mit der jungen Generation Frieden mit sich selbst und insbesondere seinen Fehlern zu schließen.

Wilde Erdbeeren

Ingmar Bergman verlangt seinem Publikum weniger Intellekt, dafür aber den Willen zur Introspektive ab. Wollen uns die meisten Hollywood-Produktionen oder auch die Werbung weismachen, das Leben bestehe überwiegend aus Jubel, Trubel und Heiterkeit, setzte der Schwede die Dinge regelmäßig ins richtige Verhältnis: Wertvolle Glücksmomente sind im Alltag die Ausnahme, Zweifel an sich selbst und anderen die Regel. Jeder Versuch, diese Gesetzmäßigkeit auf den Kopf zu stellen, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Konflikte entstehen gerade auch innerhalb enger Partnerschaften (Szenen einer Ehe) und familiären Gefügen (Herbstsonate, Fanny und Alexander), also dort, wo sie am wenigsten willkommen sind. Kaum ein anderer Regisseur vermochte nach Bergman das in Worte und Bilder zu fassen, was sich tief im Inneren seiner Filme versteckt. Gemeinsam mit Michelangelo Antonioni (Blow Up), John Cassavetes (Eine Frau unter Einfluss) und einigen weiteren Künstlern gehörte der umtriebige Schwede einer Generation von Seelendetektiven an, die heute buchstäblich ausgestorben ist.

Neben ihrer allgemeinen Unbestechlichkeit beeindrucken mich die Filme Bergmans häufig auch in kleinen Details. So erinnere ich mich noch immer gut an eine vermeintlich unbedeutende Szene aus Von Angesicht zu Angesicht, in der Liv Ullmann im Bett liegend mit den Fingern das Muster der Zimmertapete nachzeichnet. Als Kind habe ich das vor dem Einschlafen auch oft gemacht, denn irgendwie hatte es einen beruhigenden Effekt auf mich. Derartige Feinheiten haben dazu beigetragen, dass ich mich Ingmar Bergman verbunden fühle, obwohl ich ihn nicht persönlich kannte. Wo immer er jetzt also auch sein mag: Alles Gute zum 100. Geburtstag!

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