Irreversibel - Von der Schönheit des Schrecklichen

25.07.2011 - 08:50 Uhr
Aktion Lieblingsfilm: Irreversibel
Alamode Film/moviepilot
Aktion Lieblingsfilm: Irreversibel
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In der Aktion Lieblingsfilm schreiben moviepilot User über ihre Lieblingsfilme. Diesmal erklärt uns der Text, warum der Autor mit Irreversibel einen Film liebt, der eigentlich Hass ausstrahlt.

Warum liebe ich eigentlich diesen Film?

Irreversibel schmerzt, auf unbarmherzige Art und Weise, wenn er Gewalt als Gewalt und Rache als Rache und Tod als Tod darstellt – und nicht als Erlösung, Befreiung oder Befriedigung, wie es die meisten anderen Filme tun.

Irreversibel verstört, weil er zerstört und keine Hoffnung übrig lässt als die, die irgendwann einmal gewesen ist und nun zunichte gemacht wurde.

Der Vorgänger von Irreversibel war MenschenfeindIrreversibel selbst ist ein Zuschauerfeind, eine Zumutung, längst nicht mehr ein Spiel mit unseren Nerven und Empfindungen, sondern ein regelrechter Krieg gegen diese.

Warum liebe ich also diesen Film, frage ich mich manchmal selbst?

Respektieren, bewundern, für tiefgründig erachten, in Ehrfurcht niederknien – das alles ist nachvollziehbar, das alles kann man auch dem destruktivsten Film entgegenbringen, aber lieben? Vom ganzen Herzen, etwas, was einen selbst zu hassen scheint? Etwas, das einen mitten in die Hölle der menschlichen Blindheit führt, die man im täglichen Leben am liebsten übersieht, blind wie man selbst ist? Etwas, was einen keine andere Botschaft zu bringen scheint als “Die Zeit zerstört alles?” Die Welt, die Menschen und dich – sowieso.

Wenn ich an jenes Ende denke, dann muss ich mit den Tränen kämpfen – mit Tränen der Verstörung aufgrund seiner Gemeinheit, seiner unbarmherzigen Konsequenz und seiner ernüchternden Ehrlichkeit, und mit Tränen der Erfüllung, aufgrund seiner unfassbaren, unwiderlegbaren Schönheit.

Nicht “unwirklicher”, weil es die Wirklichkeit ist, in all ihrer Wärme und in all ihrem Grauen.

Vielleicht liebe ich den Film, weil ich mich ganz zynisch an seiner Ästhetik ergötze, weil ich mich niemals an den schnittlosen Kamerafahrten sattsehen könnte, weil ich von dem pulsierenden Nachtrausch nie genug bekomme, der mir zum Greifen nahe und doch auf filmischer Distanz, weil ich in jeder Sekunde ein Kunstwerk erblicke, wie ich es selbst gerne eines Tages schaffen würde.

Weil ich selbst, wenn ich eine Digitalkamera in der Hand und den Nachtrausch im Kopf habe, seit diesem Film versuche, aus der Wirklichkeit diese bewegten Kunstwerke herauszufiltern, wie ich sie in Irreversibel erblickte, und dieses Gefühl des Schwebens im pulsierenden Halbdunkel einzufangen, der uns wie auf eine andere Wahrnehmungsebene bringt. Und weil ich die Hoffnung nicht aufgebe, das eines Tages wirklich zu schaffen. Vielleicht.

Vielleicht liebe ich diesen Film, weil ich es bis heute nicht fassen kann, dass improvisierte Dialoge so pointiert und ehrlich und abgründig und unfassbar menschlich sein können – dass Schauspieler es tatsächlich schaffen, wie aus dem Nichts die Worte zu zaubern, welche alles, was man selbst erlebt und erzählt und geahnt hat, gnadenlos wiedergeben. Ohne stilisierte Schleier, ohne philosophische Metaphern, sondern die Wahrheit als Wahrheit und Gefühle als Gefühle und nicht Behauptungen.

Vielleicht liebe ich diesen Film, weil ich noch nicht aus meiner spätpubertären Begeisterung für Provokation und Tabubrüche und den-Zuschauer-seelisch-vergewaltigen-bis-er-nicht-mehr-quicken-kann-vor-Angst-um-sein-Seelenheil gekommen bin – und weil ich in jeder neuen Grenzüberschreitung nicht einen Fall, sondern das Betreten einer neuen, wichtigen Ebene sehe. Weil ich so gerne überinterpretiere und mich von Exzessivität blenden lasse und Gewalt dann am besten finde, wenn ich sie nicht gut finden kann.

Und vielleicht liebe ich diesen Film, weil ich darin den Menschen zu sehen glaube, wie ich ihn in Wirklichkeit zu sehen glaube, und weil ich diesen wirklichen Menschen, so erbärmlich und abstoßend und peinlich und minderbemittelt er mir manchmal erscheinen mag, faszinierend finde. Und vielleicht sogar irgendwo verstehe, egal, wie völlig unverständlich mir sein Verhalten manchmal auch erscheinen mag.

Vielleicht ist Irreversibel ein Urteil, ein Todesurteil, doch gerade wenn es so ist, was könnte ich denn mehr verehren als die Ehrlichkeit, wenn ich doch alles Verklärende in Filmen verachte? Oder die Konsequenz, wenn es mich doch jedes Mal aufs Neue ärgert, wenn jemand die Bremse zieht und nicht den Weg, der mir versprochen wurde, zu Ende geht? Oder die Wahrheit, die zwar nur Ansichtssache und Illusion sein mag, aber in diesem Falle doch meiner Wahrheit und meiner Ansicht gleicht – auch wenn ich diese erst durch diesen Film erlangt?

Vielleicht liebe ich Irreversibel, weil ich nicht weiß, wie ich meine Liebe zu ihm in Worte fassen könnte, die ohne Umschweife das aussagen, was ich fühle. Vielleicht weiß ich, wenn der Filmtitel in meinem Kopf erscheint, immer noch nicht, ob ich die Erinnerung an ihn fühle oder denke. Aber ich weiß, wenn ich mich wieder an dessen Ende erinnere, dass Schönheit und Grauen im Film doch eine Symbiose ergeben können. Weil sie es in dem, was ich als Leben verstehe, ständig tun.


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