Nackig in Cannes radeln, wenn die Dinge so beschissen sind

20.05.2010 - 11:50 Uhr
Nackig radelten die Schauspieler aus dem Film die Strandpromenade in Cannes entlang. Das war für die südfranzösischen Filmobersten dann doch zuviel blanker Haut.

Den Film über einfache Menschen in ihren Exzessen des Lebens inszenierte der junge Regisseur Felix Van Groeningen. Der 31jährige Belgier, Flame um genau zu sein, brachte eine filmische Entsprechung des beliebten Romans von Dimitri Verhulst auf die Leinwand. Aus diesem musste die Mischung aus Humor, schwarzer Romantik und Zynismus nur noch aufgenommen werden. Wir haben für euch ein Interview mit dem jungen Belgier zusammengestellt:

Wie sind sie auf das Buch “Die Beschissenheit der Dinge” aufmerksam geworden?
Ich war auf der Suche nach einem Buch, das sich verfilmen ließe. Ich bin kein eifriger Leser, aber ich gebe zu, dass ich mich in die Werke von Dimitri Verhulst verliebt habe. Er schreibt die Bücher, die ich selber gerne geschrieben hätte, wofür mir aber die nötige Begabung fehlt. Er ist einzigartig rau in seinem Ton und dennoch poetisch und genau das finde ich wunderschön. Er wagt es weiter zu gehen, er schreibt, was andere sich nicht zu sagen trauen. Er bringt alle menschlichen Schwächen ans Licht: ohne Kompromisse, aber mit Humor. Er bringt seine Charaktere in Notlagen, gleichzeitig beschützt er sie aber auf positive Weise. Auch seine Art, die Dinge zu strukturieren, gefällt mir gut. Erst zum Ende hin entdeckt man die Einheit dessen, was zu Anfang wie eine unzusammenhängende Geschichte wirkte.

Nach drei Kapiteln war ich überzeugt, dass "Die Beschissenheit der Dinge* unmöglich zu adaptieren war. Aber nachdem ich das Buch beendet hatte, sah ich die Dinge anders. Erst in den letzten drei Kapiteln erkennt man den Sinn des Werkes. Ich musste weinen, als ich sie gelesen habe. Alles Vulgäre, alle pikanten Anekdoten des ersten Teils finden hier ihren Platz. Ein kleiner Junge wächst unter den Umständen des Wahnsinns heran. Gunther verbringt jeden Abend mit seinem Vater und seinen Onkeln im Café: Sie trinken bis zum Umfallen während Gunther seine Haus- und Strafaufgaben macht. Er möchte dabei sein und bewundert seinen Vater und seine Onkel. Einige Jahre später ist aus dieser Person ein schrecklich zynischer junger Mann geworden. Er wird Vater, möchte das Kind aber nicht haben. Man fragt sich, wie es möglich ist, so zu leben. Aber man versteht es auch: Jemand, der so viel gemacht und verpatzt hat, hat eine enorme Wut auf die ganze Welt. Dennoch fällt er zum Schluss auf seine Füße.

Konnten Sie sich diese Geschichte zu eigen machen?
Nach und nach wurde sie zu meiner Geschichte. Dies ist mein dritter Film, aber gleichzeitig das erste Mal, dass ich ein Buch adaptiere. Und da das Werk ganz einfach großartig ist, entstand das Drehbuch ganz schnell, fast wie von selbst. Das Schreiben ist für mich die härteste Phase, in der sich die größten Abgründe auftun. Nach zwei Wochen war das Treatment fertig. Und nach zwei Monaten war das Drehbuch abgeschlossen. Viele fanden es super, aber es war noch zu sehr auf das Ausgangsmaterial bezogen Nachdem die erste Euphorie verflogen war, mussten wir noch sehr stark an der Anpassung von Film und Buch arbeiten. Dieses Buch ist ganz klar nicht einfach zu adaptieren. Im Buch bereiten die großen Zeitsprünge dem Leser keine Probleme. Ein Film gehorcht anderen Regeln.

Ich weise aber dennoch darauf hin, dass die markantesten Momente des Buches auch die des Films sind. Zu Anfang hatte ich mich deutlich vom Buch distanziert, um zum Ende wieder dorthin zurück zu kehren. Dies erschien mir eine gesunde Entwicklung. Das Buch besitzt einen unermesslichen Vorrat an Material und es ist angenehm, darin zu baden, sobald man sich hineinfallen lässt. Man kann Bücher auf der Grundlage, dass man sich richtig in sie verliebt, für das Kino adaptieren. Das Buch muss das Herz entern und man muss dieses Gefühl in den Film hinein bringen. Um jegliche sinnlose Diskussion zu vermeiden, hatte der Autor zu Beginn der Dreharbeiten vorgeschlagen, dass der Film in jeder Hinsicht einfach besser als das Buch werden solle. Der Ton des Buches ist einzigartig. Einige populäre Szenen wären sogar wahnsinnig, wenn sie wortwörtlich verfilmt werden würden.

Wie kann man dieses Risiko vermeiden?
Das Buch ist fantastisch, aber zahlreiche Fragmente sind zu anekdotisch, wenn man sie eins zu eins in Szene setzen würde. Die Onkel sind keine wirklichen Figuren, aber Verhulst schreibt so gut, dass man sie sich dennoch vorstellen kann. Das schwierigste war die Hauptperson: ein Junge mit 13 Jahren, der die meiste Zeit mit Zuschauen und Beschreiben verbringt. Eine sehr passive Rolle für einen Film. Ich habe sie etwas klassischer gestaltet. Jetzt ist sie zur Geschichte eines Jungen geworden, der seinem Milieu entkommen möchte, mehr als ich es mir zu Anfang gedacht hatte. Gespräche mit Dimitri Verhulst und die Lektüre von Interviews haben mir dabei geholfen. Zu einem Teil ist das Buch autobiographisch.

Ich habe erkannt, dass die Gewalt zuhause gang und gäbe war. Der Vater drehte bisweilen durch; er verfolgte ihn mit einem Messer in den Händen. Dieser Junge ist natürlich stolz auf die Menschen, mit denen er aufwächst und er bewundert seine Onkel. Aber der Wahnsinn des Alkohols wendet sich gegen ihn. Also sucht man einen Ausweg. Im Film ist der Charakter aktiver als im Buch. Er benutzt die Codes, die er kennt, die Codes des Clans. Aber um zu überleben muss er die Dinge auf seine Art machen. Alle fantastischen Kapitel sind im Film übernommen worden, einschließlich der Trinkweltmeisterschaften, aber sie mussten funktioneller werden. Sie mussten ansprechend oder erschütternd sein, in dem sie eine Botschaft übermitteln und sich in die alles überwölbende Geschichte einschreiben.

Familiengeschichte, sozialer Realismus oder Tragikomödie: Welchen Zugang haben Sie gewählt?
Die Summe macht es. Es geht in der Geschichte um jemanden, der seiner sozialen Herkunft
entflieht, aber das bedeutet keine Errettung: Er ist einsam und traurig, er hasst die Welt und sein Leben. Das ist sehr düster, aber dann öffnet sich alles, weil er seinen Platz im Leben findet und schließlich in die Vergangenheit zurückkehrt und seine Familie wiedertrifft. Das ist eine lange, 20 Jahre währende Reise, auf der es viele euphorische Momente gibt, aber auch eine Menge Schmerz. Man kann keine Verbindungslinie zwischen Humor und schwarzer Romantik ziehen, aber stellen wir uns mal vor, man könnte es… dann sieht man bittere Not und eine tiefe Traurigkeit.

Wie haben Sie dabei ein Gleichgewicht gefunden?
Während der Dreharbeiten haben wir viel gelacht. Viele Szenen sind erheiternd, aber doch urplötzlich so treffend, dass einem das Lachen vergeht. Genau für diese Momente dreht man den Film. Genauso wie der Leser wird sich der Zuschauer biegen vor Lachen bevor er gelegentlich zum Weinen übergeht. Für diese Extreme habe ich mich auch schon in meinen vorangegangenen Filmen interessiert. Mitunter war das brutal. Nach dem Dreh der Szene, in der der Vater den Sohn attackiert, war das ganze Team am Boden zerstört. Ich habe nur einzelne Einstellungen gedreht, da ich Angst hatte, dass es für den jungen Schauspieler und den Zuschauer zu heftig werden könnte. Man ruft Emotionen hervor, wenn man die Dinge näher heran holt. Der Humor des Buches war teilweise etwas zu platt für einen Film. Deshalb mussten wir mit den Schauspielern hart an der Ausformulierung und Begrenzung der Charaktere arbeiten. Sich die Dinge durch Herumexperimentieren zu erschließen, das liebe ich.

Wie castet Ihr die Schauspieler?
Meine Castings sind verrückt: Ich muss mich in einen Schauspieler oder eine Schauspielerin in einer bestimmten Rolle verlieben. Koen De Graeve war der erste, bei dem diese Magie funktioniert hat. Er ist ein so lustiger und warmherziger Mann. Er hatte sich aber auch wegen einer lächerlichen Sache vehement gegen mich gestellt, in einem Maße, dass ich schockiert war. Genau dieser Vorfall war es jedoch, der mich dazu brachte, ihm die Rolle des Vaters zu geben. Jeder lacht mit diesem fröhlichen, etwas verrückten, Menschen, sogar der Sohn. Aber dies macht die Dinge nur umso schwerer für den Jungen, da die Boshaftigkeit den Vater urplötzlich verwandelt. Ich habe auch sehr auf die Kombinationen geachtet. Ich hatte die beste wahre Bruderschaft zwischen Koen De Graeve, Wouter Hendrickx, Johan Heldenbergh und Bert Haelvoet gesehen. Für die Rolle des Jungen hatte ich ein intensives Casting durchgeführt.

Ich wollte jemanden, der den Akzent von Aalst besitzt, was die Auswahl stark eingrenzte. Aus Hundert von Kandidaten hatten wir zum Schluss sechs ausgewählt. Er ist so ein schüchterner Junge, der bis einige Monate vor dem Casting noch stotterte und nicht so gut und manieriert redete wie die vielen Schauspielschüler. Kenneth Vanbaeden überzeugte mich nach und nach. Er besitzt die Gabe, sich komplett in eine Figur hinein zu begeben. Zuvor hatte ich einige Vorsprechen für das Theater gemacht und von den jungen Schauspielern verlangt, sich von der traurigen Musik, die Ennio Morricone zu Es war einmal in Amerika komponiert hatte, tragen zu lassen und zu weinen zu versuchen. Diesen Trick wandte ich hier auch an. Nach zwei Minuten begann Kenneth zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Es braucht natürlich seine Zeit, zwischen erfahrenen Schauspielern seinen Platz zu finden und man verlangt viel von einem 14-jährigen Jungen, wenn man von ihm auf einen Schlag sechs Stunden intensiver Konzentration fordert.

Währenddessen hat er sich geöffnet. Er hatte wenig Erfahrung, entdeckte aber etwas, was er mit Freude und Gabe tat. Ich glaube nicht wirklich an Naturtalente, aber in ihm sehe ich eine Fähigkeit, etwas zu reproduzieren, woran man selber glaubt. Als ich ihn während einer harten Szene zu weinen bat, schaffte er es beim ersten Mal nicht. Er zog sich für einen Moment mit der Musik von Morricone zurück und die Tränen rannen ihm Stück um Stück über die Wangen. Ich rief „Cut“, aber er konnte nicht aufhören zu weinen.

Wie sind sie visuell an Die Beschissenheit der Dinge heran gegangen?
Ich liebe die visuell starken Filme. Der Film wechselt zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart hin und her. Ich habe mich deshalb für zwei verschiedene Stile entschieden. Ich habe die Nüchternheit und die Leichtigkeit für die Geschichte des jungen Mannes gewählt, der sich an der Schriftstellerei probiert. Die Vergangenheit musste eine Reise sein. Ich habe ein geordnetes Chaos gesucht: immer wieder passiert etwas gleichzeitig. Wir drehten mit Handkamera, sehr schnell. Der Look ist der der 80er-Jahre, aber der Stil ist jünger. Nicht ganz jung, aber zeitgenössisch. Man kann die Rekonstruktion der Zeit nicht umgehen. Deshalb vertiefte ich mich in Fotoalben und Dokumentarfilme dieser Epoche. Die Kleidung und die Haarschnitte haben den größten Effekt.

Die Ausstatter begaben sich mit Enthusiasmus auf die Suche nach BMX-Rädern und den Autos dieser Zeit. Ich hatte vor, nicht zu weit zu gehen, aber die 80er-Jahre noch einmal aufl eben zu lassen hatte etwas sehr angenehmes. Ich bin jetzt 31 Jahre alt, 1988 war ich elf. Bezüglich all dieser Dinge der Vergangenheit bin ich sehr melancholisch. Es ist schwierig, eine schönere Hommage an Roy Orbison zu schreiben als in dem Kapitel „Alleen de allenen“ („Allein die einsamen“). Sagen Sie mir bitte nicht, dass diese im Film fehlt. Die Lieder von Roy Orbison zu nutzen kostet sehr viel. Und es tut weh so viel Geld für zwei Stücke auszugeben, wenn man weiß, was man sonst alles mit dem Geld machen könnte. Aber wir konnten es nicht nicht machen. Und ich bin auch sehr zufrieden, dass wir es gemacht haben: Die Szenen mit „Only the lonely“ und „Pretty Woman“ sind fantastisch. Ich selber bin kein so großer Fan von Roy Orbison, aber er spielt in dem Film eine Schlüsselrolle. Verhulst hat sehr gut beschrieben, mit welcher Inbrunst die Brüder Roy Orbison verehren.

Für den Rest nahmen wir keine fertige Musik vom Band, sondern ein Original, verfasst vom berühmten belgischen Jazzpianisten Jef Neve. Mit ihm hatte ich schon beim letzten Mal zusammen gearbeitet. Dieses Mal kaufte er eine Software und lernte, damit ein Modell mit verschiedenen Instrumenten zu realisieren. Nach und nach erarbeiteten wir eine sehr klassische Partitur, mit einem Walzer und mit weitreichenden Streichern, die keine Emotionen scheuten. Wir gingen genau bis zum richtigen Punkt. Ich bin sehr stolz auf das Ergebnis. Vielleicht werden mich ein paar Menschen darauf ansprechen, ich sei ein klassischer Regisseur geworden, der genau das macht, was alle seit Jahren machen. Aber dank meiner Erfahrung weiß ich, dass das nur legitim ist: Ich weiß, warum ich diese Musik benutze. Sie ist klassisch… na und? Das ist kein Klischee, sie berührt mich tatsächlich.

Der Film lief in Cannes, war in den belgischen Kinos sehr erfolgreich und sogar für einen Oscar nominiert. Wie gehen Sie mit diesem Erfolg um?
Das fühlt sich großartig an! Mein zweiter Spielfilm wurde von der Presse positiv besprochen, hat aber in den Kinos Ergebnisse erzielt, die selbst für einen flämischen Arthouse-Film nur durchschnittlich waren. Aber ich bin sehr froh, dass sich der Erfolg erst mit Die Beschissenheit der Dinge eingestellt hat. So habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich mich einfach auf das Filmemachen konzentrieren muss und nicht anfangen darf, zu träumen.

(Mit Materialien des Camino Filmverleihs erstellt)

Die Beschissenheit der Dinge läuft ab heute, dem 20. Mai, in deutschen Kinos. In welchem Kino in Deiner Näher der Film läuft, das verrät Dir Dein moviepilot-Kinoprogramm.

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