Tinto Brass - Italienischer Meister der Spiegel

12.02.2014 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
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In einer sechsteiligen Reihe führt euch Charly Dreyfuss durch eine Odyssee des Sexploitation Cinema. Die sechste und letzte Folge befasst sich mit dem Erbe italienischer Filmkunst, Tinto Brass.

Der Antonioni der 1970er, der Meister der Spiegel, Tintoretto Giovanni Brass wurde 1933 in Mailand geboren und machte zunächst seinen Abschluss in Jura. Ende der 1950er zog Tinto Brass nach Paris, studierte an der Cinémathèque française und arbeitete als Regieassistent für Roberto Rossellini. In seinem Erstlingswerk Wer arbeitet, ist verloren aus dem Jahr 1964 lässt sich sehr gut Tinto Brass’ Handschrift und Vorliebe für Provokation erkennen. Geprägt vom zeitgenössischen Kino, vor allem der Nouvelle Vague und dem italienischen Film, experimentiert Tinto Brass in seinem anarchistischen Werk mit experimentellen Kamerafahrten und Schnittmontagen und formt so seinen Stil. In den darauf folgenden Jahren drehte er Filme in den unterschiedlichsten Genres: Fiktive Dokumentationen (Ça ira – Il fiume della rivolta und Il disco volante 1964), Komödien (La mia signora 1964) und Western (Yankee 1966).

1967 drehte er mit Jean-Louis Trintignant den Film Ich bin wie ich bin – Das Mädchen aus der Carnaby Street) einen psychedelischen Pop-Art-Giallo. Beginnend mit den Credits am Anfang, der Musik, den Kleidern, dem Mobiliar und den konfusen Charakteren, bis hin zum Schnitt, den Split Screens/Triple Screens, quietschbunten Sets, Schwarz-Weiß Szenen – der gesamte Film ist ein mit kreativer und technischer Sorgfalt gedrehtes Manifest der 1960er Jahre. Tinto Brass übernimmt in jedem seiner Filme den Schnitt, wodurch er die gesamte Kontrolle über seine individuelle Umsetzung hat. Rasante, unerwartete Cuts, sonderbare Kamerafahrten und unkonventionelle Bildkompositionen verleihen seinen Filmen einen einzigartigen und impressionistischen Stil.

Nerosubianco (Alternativtitel: Attraction) aus dem Jahr 1969 ist ein sehr ungewöhnlicher und stilistisch abwechslungsreicher Film, der in kein Schema oder Genre einzuordnen ist. Die Geschichte spielt in London und handelt von Barbara, einer verheirateten Frau, die sich zu anderen Männern hingezogen fühlt. Wir beobachten ihr sexuelles Verlangen und innere Zerrissenheit, während politische Themen der 1960er behandelt werden und eine ungewöhnliche Erzählstruktur, experimentelle Montagen und nahezu durchgehende musikalische Begleitung den Film charakterisieren. Die rapiden, unbändigen Schnitte sind ein essentieller Teil des Storytellings und sind nicht weniger bedeutungsvoll als das Geschehen, das sich vor der Kamera abspielt.

Ein prägnanter Faktor, der den Film auszeichnet, ist die Musik. Die Band Freedom, die den Score geschrieben hat, taucht während des Films auf und performt einzelne Tracks und wird so in die Geschichte mit eingebaut. Die Songs untermalen nicht nur einzelne Szenen, sondern sie dienen als Sprachrohr für die Protagonistin Barbara. Die Lyrics und die Bedeutung der Songs liegen im Vordergrund, und werden durch die Kinematografie verdeutlicht und erläutert. Sie beschreiben Barbaras Gefühle und reflektieren ihre Gedanken. Generell ist der Film der Musik angepasst wie in einem Musical. Unkonventionelles Framing, Archivmaterial von Hitler und Mussolini, Comic-Strips und andere Illustrationen tauchen immer wieder im Film auf. Die filmische Struktur in Nerusubianco lässt sich nur sehr schwer zusammenfassen, da er auf verschiedenen Ebenen spielt, um seine Bedeutung dem Zuschauer zu übermitteln (Barbaras Traumwelt, die wirkliche Welt, ihre Gedanken, Performance-Ebene).

In Amerika erwarb sich Radley Metzger, die Koryphäe des Porn-Chic, die Rechte an dem Film und versah ihn mit einem neuen Titel. Nerosubianco wurde zu The Artful Penetration of Barbara. Der Titel versprach den amerikanischen Zuschauern einen Hardcore-Porno und keinen Kunstfilm mit zeitgenössischen politischen Problemen ohne Großaufnahmen von Genitalien. Beim Filmfestival von Cannes 1968 wurde der Film sehr wohlwollend aufgenommen und weckte das Interesse von Paramount Pictures. Vor allem die innovative visuelle filmische Sprache gefielt den Produzenten von Paramount so gut, dass sie Tinto Brass anboten, Uhrwerk Orange zu realisieren. Sein überzeichnetes Portrait der englischen Gesellschaft und vor allem Londons traf ein ähnliches Gefühl und übermittelte den gleichen Vibe, der auch in dem Buch “A Clockwork Orange” beschrieben wird. Allerdings bereitete Tinto Brass schon seinen nächsten Film L’ Urlo vor und bat die Produzenten, mit der Realisierung zu warten. Warten war jedoch keine Option für Paramount, sodass schließlich Warner Bros. den Stoff produzierte und Stanley Kubrick Regie führte.

Die Filme von Tinto Brass erreichten im Laufe der letzten fünf Dekaden nur ein sehr spezielles Genre-Publikum und er blieb für viele Menschen eine Person, deren Existenz sie sich nicht bewusst waren. Tinto Brass’ Einfluss auf den Stil der Mainstream-Hollywood-Welt, vor allem die der 1960er Jahre, hätte interessante Veränderungen hervorrufen können, wenn er mit seiner Handschrift A Clockwork Orange realisiert, und diese so einem Massenpublikum näher gebracht hätte.

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