Tote Mädchen lügen nicht - Pilot-Check zur neuen Netflix-Serie

31.03.2017 - 08:50 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
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Tote Mädchen lügen nicht - oder vielleicht doch? Netflix hat sich des gleichnamigen Bestsellers aus der Feder von Jay Asher angenommen und daraus eine Serie geformt. Wir haben uns die Pilot-Episode des von Selena Gomez produzierten Formats angeschaut.

Im Katalog des deutschen Netflix sind zwar Young-Adult-Serien wie Gossip Girl, Pretty Little Liars und Riverdale zu finden. Eine richtige Eigenproduktion ist jedoch noch nicht dabei, was verwundert, immerhin sind Sender wie The CW mit entsprechenden Formaten groß geworden und das Zielpublikum dürfte bei Netflix auch nicht allzu fern sein. Dennoch hat es vier Jahre gedauert, bis Netflix nun mit Tote Mädchen lügen nicht die erste astreine Young-Adult-Serie an den Start bringt. Das Warten hat sich gelohnt. Die Verfilmung von Jay Ashers gleichnamigen Bestseller, der im Original den Titel 13 Reasons Why trägt, ist ein absoluter Volltreffer und entwickelt bereits in den ersten 50 Minuten ein unglaubliches Suchtpotential. Einen Binge-Marathon am Wochenende solltet ihr ernsthaft in Erwägung ziehen, wenn euch die genannten Jugendbuch-Vertreter oder Filme wie Margos Spuren und The Edge of Seventeen gefallen haben.

Alles fängt mit einem Kommentar aus dem Off an, während die Kamera durch die Gänge einer High School gleitet. Eine überaus vertraute Einstellung und trotzdem ist der Effekt jedes Mal wieder verblüffend - besonders, wenn Hannah Bakers (Katherine Langford) Stimme erklingt. Live und in stereo hallen ihre Worte durch den Raum, obgleich sie wenige Stunden zuvor Selbstmord begangen hat. Dieser Umstand hält Hannah aber nicht davon ab, sich aus dem Jenseits bei ihren ehemaligen Schulkollegen zurückzumelden. Sieben Kassetten und insgesamt 13 bespielte Seiten hat sie in einer kleinen Box hinterlassen, die niemand Geringeres als der unscheinbare Clay Jensen (Dylan Minnette) im Verlauf der ersten Episode erhalten soll. Im Klassenraum fällt er nur den wenigsten auf. Dennoch hat Hannah ihn auserwählt, um ihren unkonventionellen Nachlass zu verwalten. Was Clay im Anschluss erfährt, sind die 13 Gründe, warum sich Hannah selbst umgebracht hat.

Tote Mädchen lügen nicht

Wie es aktuell auch bei Riverdale der Fall ist, hüllt sich Tote Mädchen lügen nicht zunächst in den Mantel des Schweigens und erstickt förmlich an Geheimnissen. Die idyllische Kleinstadt, in der die Handlung angesiedelt ist, deutet schnell einen tiefen Abgrund an, den die meisten Einwohner zu verstecken oder ignorieren zu versuchen. Die von Brian Yorkey geschriebene und von Tom McCarthy inszenierte Pilot-Episode verliert sich aber nicht so bestimmend im comichaften Eskapismus, sondern besteht auf eine realistische Einschätzung der Ereignisse. Dass wir in absehbarer Zeit einen "Hot Archie"-Verschnitt mit freiem Oberkörper durch die nächtlichen Straßen rennen und sich seine Existenz hinterfragen sehen, darf bezweifelt werden. Stattdessen radelt Clay mehr oder weniger unspektakulär wie jeder andere seiner Mitschüler durch die Gegend. Gedanken macht er sich trotzdem, nicht zuletzt aufgrund Hannahs Stimme, die ihm direkt ins Ohr flüstert.

Dabei bewegt sich Tote Mädchen lügen nicht auf zwei Zeitebenen. Die eine konzentriert sich auf die Gegenwart und verfolgt die Ereignisse nach Hannahs Selbstmord. Sobald Clay jedoch das erste Mal auf den Play-Button des geborgten Walkman drückt, öffnet sich das Tor in eine andere, gefährlichere Welt: die Vergangenheit. Hier schlummern Erinnerungen und Geheimnisse, die besser nie entdeckt worden wären. Doch Hannah will auf keinen Fall zulassen, dass ihre Seite der Geschichte in Vergessenheit gerät oder womöglich nie erzählt wird. Immerhin gibt es so viele Versionen dieser Geschichte, um die unpopulärsten, die Wahrheit, machen aber alle einen großen Bogen. Wenn zu Beginn der Episode zwei Mädchen in ihrem Übereifer ein Selfie, das sie vor Hannahs Spint geschossen haben, unter dem Hashtag #NeverForget auf Instagram posten, werden sie sich am Ende wundern, wie schnell ihr Wunsch in Erfüllung gegangen ist.

Generell wird Tote Mädchen lügen nicht immer wieder hin- und hergerissen von den eigenen Widersprüchen. Angesiedelt in einer Welt, die unweigerlich dem Jahr 2017 entspricht, herrscht eine große Sehnsucht nach dem, was in der Pilot-Episode regelmäßig als "old school" seine Erwähnung findet. Nicht nur muss sich Clay zum ersten Mal in seinem Leben mit Kassetten auseinandersetzen und auf eine gedruckte Karte anstelle von Google Maps zurückgreifen. Nein, auch der Blick über die Schulter in Richtung des Vergangenen ist für den 17-Jährigen eine völlig neue, unheimliche Erfahrung. Ist es zuerst die Neugierde, die ihn in Hannahs Welt eintauchen lässt, breitet sich schon bald die Befürchtung aus, selbst einer der 13 Gründe zu sein, weswegen sie sich das Leben genommen hat. Es ist die Angst, dass auf den jugendlichen Leichtsinn plötzlich echte Konsequenzen folgen, obwohl dieser zum Zeitpunkt des Geschehens längst vergessen ist.

Tote Mädchen lügen nicht

Aber genau dieses Einholen der (bisher) unerkannten Fehler fängt Tote Mädchen lügen nicht gekonnt ein und spinnt daraus eine einnehmende Coming-of-Age-Geschichte, die sich unmittelbar vor den Augen der Erwachsenen abspielt und dennoch für sie nicht (be-)greifbar ist. Zwischen übersprudelnden Emotionen und kratzigen Tonaufnahmen enthüllt sich hier die unvergleichliche "High School Experience", die mit einer ganz gewöhnlichen Hausparty ihren Anfang nimmt und in einer verheerenden Katastrophe endet. In Mädchen lügen nicht geht es um die Art von Freunden, die nicht ersetzt werden können, aufgrund eines unbeschreiblichen Vertrauensbruchs jedoch zu genau den Menschen werden, die einem am meisten weh tun. "A rumor based on a kiss ruined a memory that I hoped it would be special", gibt Hannah später zu Protokoll und bereitet damit perfekt das erneute Einsetzen von Joy Divisions niederschmetterndem Song Love Will Tears Us Apart mit den Credits vor.

Bitter und zynisch wirkt diese Kombination. Dazwischen wartet Tote Mädchen lügen nicht allerdings noch mit einem wahrhaft meisterlichen Moment auf: Clay steht im gleichen Gang, der bereits im Opening der Pilot-Episode zu sehen war. Die Kopfhörer, über die er Hannahs Kassetten hört, sind mittlerweile zum festen Bestandteil seiner täglichen Erscheinungsform geworden. Für einen Augenblick hält er inne und vergisst die Welt, ehe ein tröstendes Lächeln die plagende Ungewissheit verdrängt. Dann erklingt der Schulgong und unzählige Schüler strömen in Scharen auf den Gang, der sich mehr und mehr in ein Menschenmeer verwandelt, in dem Clay schließlich untergeht, bis er fast komplett unsichtbar ist. Hat er sich und seine Rolle in dieser Geschichte die ganze Zeit überschätzt? Ist er vielleicht nur einer dieser Passanten, die zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort waren und nun in etwas hineingezogen werden, das sie nicht mehr kontrollieren können? "Turn the tape over for more."

Alle 13 Episode der 1. Staffel von Tote Mädchen lügen nicht sind ab sofort auf Netflix verfügbar.

Wenn ihr euch von der Thematik betroffen fühlt, kontaktiert umgehend die Telefonseelsorge . Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110-111 oder 0800-1110-222 erhaltet ihr Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus scheinbar aussichtslosen Situationen aufzeigen konnten.

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