Warum die Top 100 der besten Horrorfilme stinkt

12.12.2012 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
Das Landhaus der toten Seelen
United Artists
Das Landhaus der toten Seelen
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Die Top 100 der besten Horrorfilme auf moviepilot überraschte positiv wie negativ, ähnlich wie die zuletzt vergleichbare Auswahl in der TimeOut London. Mr. Vincent Vega schreibt über den großen Kanontitel Der Exorzist und viel zu unterschätzte Horrorfilme.

Als ich mir das Ergebnis der jüngst auf moviepilot gekürten Top 100 der besten Horrorfilme genauer anschaute, musste ich mich so manches Mal doch sehr wundern. Das Ergebnis hätte zwar schlimmer ausfallen können, vor allem in Anbetracht der Berechnungsweise, die diskutabel, aber insgesamt durchaus legitim ist. Doch dass es Possession, einen wüsten Prätentionsfilm voller Kunstchauvinismus, auf den ersten Platz verschlagen hat, nahm mich sehr wunder. Immerhin dürfte der Tentakelerotikquatsch 99% der Community (zu Recht) völlig unbekannt sein. Interessant (und schön) allerdings, dass die im Verhältnis zur Gesamtzahl der moviepilot-Benutzer eher wenigen besonders cinephilen User Filme wie diesen oder auch Profondo Rosso – Die Farbe des Todes und Freaks – Mißgestaltete durch hohe Ratings in die Top Ten schummeln konnten. Denn diese Titel haben in Zahlen nur einen Bruchteil der Bewertungen erhalten gegenüber listenunwürdigem Vollulk wie Zombieland (Platz 7) oder Identität (Platz 14), der Twistorama-Hochglanzversion der zehn kleinen Negerlein.

Was mich dann aber doch ärgert, sind jene Titel, die von entsprechenden Listen aus irgendeinem Grund wohl schlicht nicht wegzukriegen sind, ganz gleich in welchem Rahmen sie entstehen oder wer an ihnen beteiligt ist. Erst vor einiger Zeit wählten über 100 Filmschaffende, darunter Genregrößen wie Roger Corman, Joe Dante und Guillermo del Toro, für TimeOut London ihre gruseligsten Horrorfilme aller Zeiten. Das absehbare Ergebnis: Der Exorzist auf Platz 1. Dieser ja nun wirklich meistüberschätzte Horrorfilm überhaupt soll also den Großmeistern des Genres selbst schlaflose Nächte bereitet haben. Moment, dieser hochnotpeinliche Pseudoschocker etwa, der Luftschlösser aus bürgerlicher Hysterie und den Ängsten der Reaktionären baut, ist (heute noch) der gruseligste Film aller Zeiten? Und selbst hier, unter vielen jungen Filmbegeisterten, schaffte er es mit einem hohen Durchschnittswert noch auf Platz 69?

Teufel, Dämon, Kruzifixe – die lustfeindlichen Bilder in Der Exorzist
Dabei hat Der Exorzist dem Horrorgenre nichts gegeben, sondern vielmehr noch eher etwas genommen. Entsetzlich, wie der Film die seinerzeit aufkeimenden Kräfte verschiedenster Bewegungen, seien es jugendliche Hippies oder emanzipierte Frauen, an die Metapher einer teuflischen Besessenheit bindet. Wie er glaubt, diese Kräfte, ganz im Sinne einer katholischen Ordnung, bannen und zerschlagen zu können. Wie er die zarte Linda Blair als einen wild fluchenden, sich mit Kruzifixen selbst penetrierenden Teenagerdämon zeichnet, der buchstäblich Sturm läuft gegen die Autoritäten, weil er – natürlich – das Produkt zerrüttelter Familienverhältnisse ist. Wie hier das Böse, anders als in den wahrhaft schrecklichen, großen Horrorfilmen, nicht als Natur des Menschen, sondern äußere Gewalt begriffen wird, die nur von einem Priester (und dazu unter enormer Opferbereitschaft) bezwungen und überwunden werden kann. Und besonders entsetzlich, wie der Film die beginnenden Reize erwachter Pubertät mit vulgären, lustfeindlichen Bildern auffängt, an deren Ende das vom Dämon befreite Mädchen wieder getreu elterlichen Gehorsams den Kopf an Mamas Brust drücken darf.

Indem William Friedkin, der hiernach noch diverse ideologisch eigenwillige Genrefilme verbrechen sollte (z.B. Das Kindermädchen), mit den genuinen Mitteln des Horrorkinos einzig Sehnsüchte und Wünsche nach Normen befriedigt, nimmt Der Exorzist eine ebenso uninteressante wie ärgerliche Stellung im Horrorfilm ein. Bezeichnenderweise fehlen sowohl in der hiesigen Top 100 als auch in der von TimOut London zusammengestellten Auswahl hingegen jene Titel, die etwa zur gleichen Zeit ein anderes Genremodell vorstellten – ein radikaleres, das Horror nicht im Sinne zu bannender gesellschaftlicher Mächte verstand, sondern im Gegenteil als Ausdruck von Unzufriedenheit und Aufbruchsfantasien. Wo also stehen in diesen Listen so famose Meisterwerke wie Das letzte Haus links oder Hügel der blutigen Augen von Wes Craven, Martin oder Crazies von George A. Romero, Parasiten-Mörder oder Rabid – Bete, dass es nicht Dir passiert von David Cronenberg?

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