Wie Sherlock: Netflix' Dracula verleiht verstaubten Figuren frischen Wind

07.01.2020 - 10:10 UhrVor 3 Jahren aktualisiert
DraculaNetflix/BBC
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Mit Dracula hat sich Netflix einen modernisierten Klassiker ins Programm geholt. Wir zeigen euch, wie gewitzt hier die Charaktere eines mehr als 100-jährigen Romanklassikers generalüberholt wurden.

Die gerade auf Netflix gestartete 3-teilige Dracula-Serie ist den Köpfen der Sherlock-Macher entsprungen und das spürt der Zuschauer. Denn die ursprünglich für die BBC gedrehte Produktion atmet den Geist einer modernisierten Vergangenheit.

Dass eine 2. Staffel von Dracula kommt oder der sichtlich spielfreudige Hauptdarsteller Claes Bang sich zu gleichen Star-Höhen wie Benedict Cumberbatch aufschwingen wird, wirkt derzeit eher unwahrscheinlich, aber lohnenswert ist die neue gruselige und überraschende Dracula-Serie trotzdem. (Achtung, es folgen Spoiler.) Denn:

Dracula bei Netflix: Claes Bang
  • Bei genauem Hinsehen funktioniert Dracula nach dem selben Prinzip wie Sherlock.
  • Die Überarbeitung altbekannter Figuren nach modernen Maßstäben gewährt diesen (teils auch schon vor dem Zeitsprung) eine charakterliche Frischzellenkur.
  • Augenzwinkernd nimmt Dracula auf seine literarischen Wurzeln Bezug, ohne dabei Nicht-Kenner der Romanvorlage zu verprellen.

Was verbindet Sherlock und Dracula?

Als Mark Gatiss und Steven Moffat 2010 mit ihrer Serie Sherlock die x-te Neuverfilmung eines Klassikers, nämlich der Geschichte des ikonischen Detektivs von Sir Arthur Conan Doyle, ins Fernsehen brachten, hätte wohl noch niemand damit gerechnet, dass Benedict Cumberbatch und Martin Freeman TV-Geschichte schreiben würden.

Sherlock und Dracula als Zylinder-Träger

Der Beginn der Erfolgsserie liegt bereits zehn Jahre und die letzte Staffel immerhin drei Jahre zurück. Ein Grund mehr, warum es für die Sherlock-Schöpfer Zeit wurde, über etwas Neues nachzudenken. Oder sollten wir sagen: über etwas neues Altes?

Denn im Prinzip wiederholt das Autoren-Duo etwas, was schon beim ersten Mal gut funktioniert hat: Sie verpassen einem (diesmal 123-jährigen) Klassiker einen neuen Anstrich.

Anders als Sherlock startet Dracula allerdings in der Vergangenheit, im selben Jahr, in dem Bram Stoker seinen in Briefen und Tagebucheinträgen erzählten Roman Dracula veröffentlichte: 1897. Besonders "modern" klingt das erst einmal nicht, doch der Schein trügt, und das nicht nur, weil wir nach zwei Episoden in die Gegenwart überwechseln.

Netflix' Dracula wird modern zur Ader gelassen

Nein, es sind vor allem die Figuren, die Dracula in Sherlock-Manier zu spritzigen, blutlüsternen, witzelnden sympatischen Neu-Inkarnationen ihrer angestaubten Vorlagen werden lässt.

Wie Dracula seine Charaktere modernisiert

Jeder noch so historische Film und jede in der Vergangenheit angesiedelte Serie atmet in gewisser Weise den Geist der Gegenwart mit. So führt auch Draculas Neuauflage nicht erst in seiner dritten Episode aktuelle Konzepte ein. Hier findet ihr die wichtigsten modernisierten Figuren im Vergleich von Romanvorlage und Serie.

  • Graf Dracula (Claes Bang): Er bleibt ein blutlüsterner Vampir, 500-jähriger Adeliger und England-Reisender, darf seine Schwächen (Sonnenlicht, Haus-Einladungen und religiöse Kruzifix-Abscheu) am Ende aber mit sehr modernen Ansätzen umdeuten, nämlich teils als allein psychisch in seinem Kopf vorhandene Furcht (Sherlocks moderner Watson lässt grüßen) und teils als sehr weltliche Angst vor dem Tod.
  • Jonathan Harker (John Heffernan) bleibt auf den ersten Blick der Vergangenheit verhaftet, darf aber mehr sein als nur Minas unbedarfter Verlobter, der in Draculas Fänge gerät. Seine Geschichte nimmt nach der Flucht vor Dracula eine tragisch-vampirische Wendung weg von der Vorlage und verleit der Figur dadurch mehr Kontur (und nein, damit sind nicht nur seine ausgemergelten Wangenknochen gemeint).
  • Van Helsing (Dolly Wells) heißt nicht länger Abraham und jagt als männlicher Arzt Vampire, sondern wird 1987 in der Dracula-Serie zur Blutsaugern nachstellenden, ungläubigen Nonne Agatha bzw. 2020 zur Wissenschaftlerin, die ein Forscherdrang antreibt.
  • Dr. Seward (Matthew Beard) wechselt seinen Vornamen von John zu Jack, verliert eine stattliche Anzahl an Jahren und leitet nun kein Irrenhaus mehr. Stattdessen ist er ein junger Arzt und Forscher. Seine Liebe zu Lucy bleibt jedoch bestehen.
  • Lucy Westenra (Lydia West): Aus der Aristokratin, Minas bester Freundin und Draculas erstem Opfer wird ein Party-Girl, dem ihr Aussehen wichtig ist. Sie kommuniziert wie Sherlock mit stylischen Text-im-Bild-Elementen und fühlt doch eine große Leere in ihrem Leben (Generation Z?).
  • Renfield (Mark Gatiss): Im Buch noch der Patient einer Nervenheilanstalt und Draculas Diener, reift Renfield in der Gegenwart passenderweise zum unterwürfigen Anwalt - und verschafft Serienschöpfer Gatniss (nach Sherlocks Bruder Mycroft Holmes) ein weiteres Mal einen Auftritt als ikonische Klassiker-Figur.
Dracula: kampfbereite Nonnen

Eine interessante Entscheidung ist, dass der im Buch von Jonathan Harker und Dracula verehrten Mina nur eine kleine Rolle zufällt: Im Roman noch eine der Hauptfiguren, wird sie in der Serie lediglich zur Zeugin (in Nonnen-Tarnkleidung) am Rande, die außerhalb des Bildschirms in der Jahrhundertlücke ein Institut zur Vampirjagd gründet.

Neben Dr. Seward fehlt von Lucys zweitem Roman-Freier, Arthur Holmwood, in der Serie jede Spur. Ihr amerikanischer dritter Verehrer Quincey Morris (Phil Dunster) darf neben Seward zumindest kurz auftauchen. Solche wissenden Anspielungen spiegeln trotz aller Abweichungen eine Bewunderung für Bram Stokers Buch wider.

Dracula: Ein doppelter Genuss für Kenner des Romans

Bei allem Modernisierungswillen sollte Dracula-Guckern klar sein: Die Serie entstaubt den Ursprungsstoff zwar für ein neues Publikum, aber bewahrt die Liebe zur Vorlage. Selbst wenn die Fingerzeige für Buchleser versteckt werden, sind sie ein respektvoll lächelndes Anerkennen des Ursprungsromans.

Dracula: Was wird uns hier vorgesetzt?

Statt das Alte ganz über Bord zu werfen (Demeter-pun intended), wird es verspielt mit eingebracht, etwa, wenn Dracula sich weigert, die gesamte Schiffsreise in einem Sarg zu verbringen (wozu er im Buch verdammt war). Da dürfen als anreichernde zweite Ebene dann gerne berühmte Zitate gebracht ("Hören Sie die Kinder der Nacht? Was für Musik sie machen.") und vom Vampir- zum Großstadttreiben umgedeutet und neu kontextualisiert werden.

Schon Sherlock bewahrte sich seine Kombinationslust und Weltfremdheit (und machte zum Beispiel aus einer Studie in Scharlachrot eine Studie in Pink). Gleiches vollzieht sich im charmant-blutrünstigen Dracula, der in die Neuzeit verpflanzt die Annehmlichkeiten der modernen Welt (wie Kühlschränke zur Leichenaufbewahrung) entdecken darf. Was am Ende dabei herauskommt, ist eine Verehrung mit Witz.

Da können die Sherlock-Macher sich gerne nach Dracula gleich den nächsten Klassiker vorknöpfen. Ich würde es gucken.

Habt ihr Dracula mit der Buchvorlage im Hinterkopf geschaut oder ganz frisch?

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