Jürgen Kiontke - Kommentare

Alle Kommentare von Jürgen Kiontke

  • 7

    Einen Überblick über die Hotspots der zivilgesellschaftlichen Proteste der letzten Jahre gibt der Film "Everyday Rebellion". Lose verknüpft er die Occupy-Aktivitäten in New York mit denen von Femen in der Ukraine und dem Tahrir-Platz in Kairo. "Das einzige System, dass wir tolerieren, ist das Sound-System", steht an der Wand. Der gemeinsame Ton: Die Demonstrationen sind gewaltlos – zumindest seitens der Demonstranten.
    Viele kleine Beispiele kreativen Protest-Humors kommen so zu Tage: "Wenn wir mit zehn Leuten die Stadt taggen", sagt ein Aktivist, "dann sieht das am nächsten Morgen aus, als seien wir eine Massenbewegung".
    Ob Gezi-Park in Istanbul oder mitten in Madrid: Die Regiebrüder Riahi lassen Aktivisten der widerständigen Öffentlichkeit verschiedener Couleur zu Wort kommen. Aber Achtung, die zentrale Erkenntnis für den gepflegten Aufruhr lautet, an die Zukunft zu denken. Kuriose Einsicht: "Auch für die Polizei muss es in der nächsten Gesellschaft einen Platz geben." Interessante Rundreise zu den Protesten unserer Tage.

    • 7

      Mit der Nussschale durch Wellen, Müll, Stürme: In diesem französischen Extremfilm bleibt Sportsegler Yann auf der Einhand-Regatta Vendée Globe rund um die Welt wenig erspart. Schon auf Teneriffa hat er das Kielschwert geschrottet und muss flicken. Die Natur stellt Kapitän und Schiff vor schwierige Aufgaben. "Um die Welt segeln - was soll das?" Welchen Sinn hat die Reise? Nicht viel mehr, als der erste zu sein. Derjenige, der fragt, hat andere Lebensinteressen. Der 16-jährige Mano ist als blinder Passagier mit an Bord. Er will nach Frankreich, zum Arzt. In seiner Familie haben die Männer eine gefährliche Sichelzellenanämie. Angehalten wird nicht: Mano muss bis zum Schluss an Bord bleiben. Der Flüchtling weckt in Yann bald väterliche Gefühle.
      Die Wahl dieses Szenarios ist gut: Denn Yanns Schiff ist ein technisches Wunderwerk mit Schlagseite: Jedes seiner Manöver wird per Überwachungskram genauestens in der Zentrale protokolliert. Er kann dem Jungen nicht einmal ein Pflaster unbemerkt aufkleben. Das Segelboot als Freiheits-Tool? Yann muss sich wirklich die Frage nach dem Sinn seines Unternehmens stellen lassen.
      Die Reise der beiden wartet mit unglaublichen Bildern auf: Man zieht an Eisbergen vorbei und sieht die Buckelwale springen. Das Meer als Sehnsuchtsort - des saturierten Europäers wie des jungen Flüchtlings: Diese Geschichte segelt immer wieder haarscharf, aber gekonnt am Kitsch vorbei. Politische Brisanz gepaart mit hoch durchkonstruiertem Schicksal: Solche Filme gibt's nur aus Frankreich!

      • 4 .5

        »The Signal« passt sich ein in die derzeitige Schwemme von Science-Fiction-Filmen. Es geht dabei ums große Hollywood-Kino, wo etwa Matt Damon in »Elysium« (2013) den Weltenretter spielt oder Tom Cruise den Kampfanzug des hochgerüsteten Underdog schon gar nicht mehr auszieht (»Krieg der Welten«, »Oblivion«, »Edge of Tomorrow«). Und dann gibt es ja auch noch die Kinderzirkus-Variante: die Reihe »Transformers«. Jenen Filmen, denen reflexives Potential fehlt, geht es um die reine Waffenschau.
        Mit recht bescheidenen Budgets versuchen einige Regisseure aber auch, Zukunft mit den Mitteln des Arthouse-Kinos zu entwickeln. Duncan Jones in »Moon« (2009), Neill Blomkamp in »District 9« (2009): Hier sollen filmische Entwürfe gegen das Mainstream-Kino stehen. Isolation, Rassismus, Genmanipulation heißen die Themen.
        Egal, welche der Varianten gewählt wird: Viele Filmemacher stellen ihre Geschichten verblüffend simpel dar, die erzählerischen Mittel sind von anno dunnemals. Perspektivwechsel sucht man ebenso vergebens wie mehrschichtiges Erzählen.
        Vielleicht ist der Science-Fiction-Film weder Arthouse-Genre noch Popcorn-Kino. Sondern was ganz Eigenes. Schauen wir mal in eine andere Branche: »Die Kritik ist am Zug«, schreibt dieser Tage der Verband der deutschen Filmkritik. »In ihr schlummert das Potential, wagemutige Positionen zu erforschen.« Verkommen sei die einst hehre Kritik, passe sich an vorherrschende Normen und Marktgegebenheiten an. »Dabei büßt sie ihren unabhängigen Geist ein und wird zur Dienstleistung. Eigenständiges Denken wird von Reflexen abgelöst.«
        Das Gegenmittel: »die aktivistische Kritik«. Sie soll die gesellschaftlichen Dimensionen von Werken untersuchen: »Sie blickt neugierig auf das vermeintlich Profane, verteidigt das Lustvolle, verdammt das Abgeklärte. Aktivistische Kritik ist subversiv. Sie unterwandert das auf den Lügen des Pragmatismus errichtete Gebäude. Sie setzt die Automatismen von Gefälligkeiten und Gefälligem außer Kraft.«
        Tolle Sache! Jetzt fehlen nur noch die aktivistischen Filme dazu. Subversiv sollen sie sein, Lügen entlarven und die Automatismen außer Kraft setzen … Wär’ doch ein super Kinoprogramm.

        2
        • 6 .5

          "Das Prinzip aller Dinge ist Wasser, aus Wasser ist alles und ins Wasser kehrt alles zurück": Die Kunst des kanadischen Fotografen und Regisseurs Edward Burtynsky folgt dem Leitsatz des antiken Philosophen Tales von Milet.
          Burtynskys Gegenstand ist das flüssige Element, von oben, von unten, von innen. Wie verhält es sich, was macht man mit ihm, wie geht es ihm heute – nach seiner technischen Zurichtung als Staudamm, Rohstoff oder gar Kloake?
          Urzustand und Umweltverschmutzung zur Kunstform zu machen ist hier das Ziel – und Bewusstsein für Nachhaltigkeit wecken. Seine Fotografien kann man lange betrachten, bis man glaubt zu wissen, was sie zeigen: Wellen am Strand, Industrieabwässer, das Flussdelta.
          Nur folgerichtig verdichtet Burtynsky die bewegenden Eindrücke gemeinsam mit der Filmerin Jennifer Baichwal im bewegten Bild: "Watermark", Wasserzeichen, heißt sein neuer Dokumentarfilm.
          An 20 Stationen rund um die Welt hat er sein Lieblingsmotiv besucht. Die imponierende Bilderzählung schlägt einen Bogen vom größten Staudamm der Welt im chinesischen Xiluodu über das heute ausgetrocknete Flussdelta des Colorado River im Westen der USA und den durch Chemie aus der Lederherstellung komplett verseuchten schwarz blutenden Fluss Buriganga in Bangladesh. Auch die Surf-Wettbewerbe im kalifornischen Huntington Beach besucht er. Hier Energieträger, Landwirtschafts- und Industrieleiche, da belassene See, Sportgelände.
          Wasser als bester und viel geprügelter Stoff: Weise und wichtige Dinge lernt das Publikum, zum Beispiel am Ganges: Dort badet man, auf dass die Fluten die Sünden wegwaschen. Wer oder was könnte das sonst?
          Land, Tiere und das Flüssige bilden eine Einheit, sagt Oscar Dennis am nächsten Haltepunkt, der kanadischen Wildnis. Und manchmal ist auch der Mensch auch dabei. "Wir bestehen zu 70 Prozent aus Wasser", sagt der indianische Umweltaktivist und beschreibt die Substanz als einigende Kraft. Lebewesen und Elemente sind in der Vorstellungswelt der Ureinwohner ein System des fortwährenden Austauschs. Dennis: "Wir alle sind Wasser."
          Für die beeindruckenden Aufnahmen hat das Team einen technischen Riesenapparat gebraucht: fliegende Linsen, mehr als ein Dutzend der neuesten Kameras. "Erstaunlicherweise fiel keine davon ins Wasser", wundert sich Kameramann Nicholas de Pencier.

          • 7

            Raymond inszeniert Ghaffarians Geschichte mit Fokus auf dem Tanz. Die Verknüpfung von Politik und Bewegung in den Wüstenszenen ist anrührend, überwältigend und wunderschön - "Dirty Dancing" als Menschenrechtsballett. Das lässt die erzählerischen Schwächen des Films vergessen: Es mag richtig sein, die Verfolgung des Ausnahmekünstlers als großes Unrecht darzustellen. Rasch aber ist der Lauf der Dinge hier klar, es fehlt an dramaturgischer Spannung: So schlägt sich ein von den Bassidsch in die Tanzkompagnie eingeschleuster Spitzel allzu schnell auf Afshins Seite. Die Motivation der Sittenwächter wird recht wenig ausgeleuchtet, wie auch Elahehs Drogensucht, die durchaus für die Gemütsverfassung ihrer Generation stehen könnte.
            Nichtsdestotrotz handelt es sich beim "Wüstentänzer" um ein hochinteressantes Experiment - in dem ein politischer Kontext mit ganz besonderen Bildern interpretiert wird. Und das ist absolut sehenswert.

            • 6

              Der Zuschauer erlebt den erklärten Nachfahren von Marcel Duchamp und Andy Warhol als Kunstunternehmer voller Einfälle, als politischen Aktivisten mit internationalen Verbindungen, der Demokratie einfordert und den Polizisten vor der Haustür zur Party einlädt. Zwischendrin sind Gespräche mit Freunden und Partnern montiert. Die wichtigste Nebenrolle geht an Ai WeiWeis Mutter: "Die hat mir gezeigt, was richtig und falsch ist."
              Ruhe ist in dem Haushalt nie. "Du meckerst zu viel", antwortet die alte Dame.

              • 6

                "Paris um jeden Preis" lautet die Devise und auch der Titel dieses Films der jungen Regisseurin und Darstellerin Reem Kherici. Mit Federleichtigkeit beschäftigt sich diese Komödie mit den schlimmen Begebenheiten rund um das Thema illegaler Aufenthalt und verquickt die Härten des Flüchtlingsdaseins mit der durchgeknallten Welt der Mode. Hätte auch nach hinten losgehen können. Tut’s aber gerade noch mal nicht.

                • 4
                  über Boyhood

                  Seit 2002 hält Richard Linklater die Kamera auf seine Schauspieler, ein bahnbrechendes Projekt: Für den Spielfilm „Boyhood“ hat der Meister des gesprächigen Films ("Before Sunrise") jedes Jahr Menschen wie Patricia Arquette und Ethan Hawke zusammengetrommelt, um mit ihnen eine texanische Familiensaga zu drehen. Im Zentrum: der Junge Mason (Ellar Coltrane), der bei Drehbeginn sechs Jahre alt war. Linklater erzählt in über die Jahre verteilten 39 Drehtagen, wie der Junge - und sein Darsteller - 18 wird und aufs College geht.

                  Ja, was passiert denn so in in der All-American-Familie, weiße Farbe, mittlerer Durchschnitt, in Echtzeit? Scheidung, Hochzeit Scheidung, Hochzeit, Umzug, Mobbing in der Schule, erste Liebe, bisschen Drogen. Irakkrieg, Britney-Spears-Video, Obama-Wahl.
                  Wie bei Linklater üblich, gibt es jede Menge lustiger Kommunikationskatastrophen, das Setting ist eher schauwertarm. Voll der Festivalfilm, ein filmexperimentelles Zeitgemälde. "Die Kinder von Golzow" lassen grüßen, die Kritik überschlägt sich.

                  Dabei ist das Projekt schonungslos. "Boyhood" zeigt eine recht gewöhnliche Umgebung, in der sich eher unspektakuläre Dinge tun. Und das bleibt dem Zuschauer natürlich nicht verborgen. Vater Mason ist etwa Bluesmusiker – aber von dem Sound, den Ethan Hawke dabei produziert, wird man nicht gerade wach. Auch wenn ich dabei Majestätsbeleidigung begehe: Für das Interessanteste halte ich Masons Mutter. Die nimmt erst zu, dann nimmt sie ab. Genau wie die Darstellerin Patricia Arquette! Kann man was mit anfangen.

                  Das Problem ist weder die Länge noch die Entourage, sondern, dass der Film nicht recht weiß, wie und vor allem: warum. Kaum beginnt eine Episode etwas härter zu werden, bleibt sie auch schon wieder unerzählt. Weil hier strukturell bedingt nur angerissen wird, zwölf Jahre wollen geschafft werden.

                  Man würde gern wissen, was "Boyhood" will und findet es nicht heraus. Auch Andy Warhols "Empire State" steht bei jedem Langzeitprojekt Pate – da hält die Kamera acht Stunden auf die Eingangstür. Es besteht eben beim beabsichtigten Dokumentieren auch die Gefahr, dass die Dramatik etwas verloren geht.

                  Linklater reiht aneinander, was nicht anders als zeitlich strukturiert werden kann. Am Ende fühlt man sich vom langen Draufhalten auf die Jugendzeit doch recht unberührt: von Stoff, Gags, von redundanten, müden Bildern.

                  5
                  • 7

                    Johannes Naber liebt seine Hauptfiguren, ihm ist mit „Zeit der Kannibalen“ ein beachtliches und lustiges Filmexperiment gelungen. Die Gepflogenheiten der globalisierten Wirtschaft kommen hier deutlich zu Wort - und werden nach ihrer ausführlichen Darstellung regelgerecht filetiert. "Zeit der Kannibalen" strotzt vor Situationskomik, drastischen Witzen und schauspielerischer Höchstleistung.

                    • 7
                      über Circles

                      Erstaunlich schnell fanden die jugoslawischen Teilrepubliken wieder zusammen nach dem Bürgerkrieg. Und viele Filmemacher gehen daran, die widersprüchliche Wirklichkeit auf ihre gewalttätige Geschichte hin zu analysieren. Welche Folgen haben die Kriege für die Gegenwart gehabt? Welche Verletzungen bleiben?
                      Eine cineastische Aufarbeitung dieser Art ist Srdan Golubovic' Spielfilm "Krugovi" (Die Kreise): Anfang neunziger Jahre besucht Marco, ein serbischer Soldat, während des Krieges die bosnische Heimat. Auf dem Marktplatz wird er Zeuge, wie seine Kameraden den muslimischen Ladenbesitzer anpöbeln. Marko, der den Mann gut kennt, greift ein. Der Zorn der Militärs wendet sich gegen ihn: Sie prügeln ihn tot.
                      Zwölf Jahre später, nach dem Krieg ist auch Krieg. Brach das Szenario damals schon das Freund-Feind-Schema auf, gilt dies auch, wenn sich die Beteiligten und ihre Angehörigen in völlig neuen Konstellationen wiedertreffen: Der Sohn von Marcos Mörder sucht ausgerechnet bei dessen Vater Arbeit. Ein Täter landet auf dem OP-Tisch von Marcos Freund. Und beim letzten steht Marcos Frau als Flüchtling vor der Tür.
                      Ist der Tod des Sohnes umsonst gewesen, fragt sich sein Vater, oder zieht er Kreise wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird?
                      "Krugovi" hält uns lange im Unklaren und kehrt zum Beginn der Erzählung zurück. Es wird eine Frage der Perspektive sein, wie wir die Vergangenheit sehen.
                      Ein Film über Schuld, Sühne und Zivilcourage angesichts komplexer Situationen. Und wie es sich für das Thema gehört, ist er eine Koproduktion mehrerer Balkanstaaten.

                      • 7

                        "Ich glaube nicht an Überbevölkerung" – für seinen neuen Film "Population Boom" nimmt sich der österreichische Regisseur Werner Boote ein Zitat von John Lennon aus dem Jahr 1971 als Arbeitshypothese. Und Glauben steht durchaus im Zentrum dieses Films.
                        Boote ist international bekannt geworden mit der viel beachteten Dokumentation "Plastic Planet". Darin folgte er den Wegen des künstlichen Gerümpels rund um den Erdball. Nun hat er sich die Verursacher vorgenommen: die Menschen.
                        Von denen gibt es viel zu viele, tönt es seit Jahrzehnten aus Studien und Fernsehern. Der Glaube: Der Mensch vermehrt sich ungehindert und frisst alles kahl, vor allem der in den Entwicklungsländern. Am Ende sind die Ressourcen alle und die Menschheit stirbt aus.
                        Boote schaut sich in seinem Film selbst mit der Kamera zu, wie er mit dieser Denkweise aufräumt und fragt: Wer verbraucht was wie, wann und in welcher Größenordnung? Und wer entscheidet, wo es zu viele Menschen gibt?
                        Er steigt an einem denkwürdigen Tag ein: dem 31. Oktober 2011. Der UNO-Generalsekretär verkündet gerade die Geburt des siebtmilliardsten Menschen und nutzt sie zu einem Verweis auf Mord, Totschlag und den Klimawandel. Überbevölkerung sei das größte Übel der Zeit. Dort wo Kinder für ihre Eltern im Alter sorgen müssen, tut dies allerdings keiner.
                        Also, woher kommt die heutige Denkweise, es gebe zu viele Menschen? Erste Ansätze lassen sich beim Ökonomen Thomas Malthus im 18. Jahrhundert finden. Wichtiger aber sei, dass die USA im Jahr 1974 Pläne entwickelt hätten, die Zahl der Menschen außerhalb der eigenen Landesgrenzen zu reduzieren. Denn viele junge Leute, so die Überlegung, stellen eine ideale Brutstätte des Kommunismus dar - die Geburtsstunde der globalen Bevölkerungspolitik.
                        Der Verdacht liegt nahe: Von Überbevölkerung sprechen - wie im Film etwa CNN-Gründer Ted Turner - vor allem die Superreichen, die, wenn man nachrechnet, die meisten Ressourcen verpulvern. Andere, wie der kenianische Soziologe Ndirangu Mwaura, sprechen von "Überfüllung": Die Slums von Nairobi seien nicht überbevölkert, sondern voll. Für die anwesenden Menschen gebe es zu wenig Land, und das gehöre der Oberschicht. "Wir sollten mehr in Menschen investieren statt in Aktien", sagt Mwaura. Das Problem liege nicht in einem Zuviel an Menschen, sondern in einem Zuwenig an Verteilungsgerechtigkeit.
                        Reiche! Die einzig echte Problemgruppe auf der Welt. Eine radikale Minderheit terrorisiert die Weltbevölkerung. Die gesellschaftlichen Kosten sind immens. Ölverbrauch und CO2-Ausstoß – ein US-Amerikaner produziert 16.000mal mehr Treibhausgas als ein Sudanese. Fazit: Es braucht keine Geburtenkontrolle für Menschen, wohl aber eine für Autos. „Population Boom“ ist ein engagiertes Loblied aufs Menschsein.

                        • 6 .5

                          Ein schöner Film – und auch wieder nicht. Am deprimierendsten von allem ist: Selbst Europas führender Autorenfilmer kann sich ein autonomes Subjekt nur als junge sexsüchtige Frau vorstellen. Auch wenn es ihr Spaß zu machen scheint: Angesichts diverser Prostitutionsdebatten wirkt das gerade etwas einfältig. Das Sex-Aas als role model des Überlebens ohne Glauben. Weil, alte Weisheit: Der Mensch ist ein animal being.

                          • 7

                            Nelson Mandela - eher verkörpert als gespielt von Idris Elba - saß 27 Jahre im Knast, das ist andernorts doppelt lebenslänglich. "Dein Zuhause. Für den Rest des Lebens", sagt der Wärter am Empfang. Elba/Mandela ist ein kräftiger, großer Mann. Auf jeden Fall größer als die Zelle. Chadwick erzeugt starke Gefühlsschwankungen, ihm gelingen gute Schlüsselszenen. Das Jahrhundert – Mandela wurde 1918 geboren - packt er mit dann doch recht leichter Hand in ein Format unter drei Stunden. Man hat sich große inszenatorische Mühe gegeben. hier sehen die Leute gut aus. Krieg, mehrere Hochzeiten, nationale Einigung, Tod und Verlust – Stoff ist genug da.
                            "Mandela" erfüllt Historienfilmpflichten. Wer keine Ahnung hat, bekommt Erklärungen. Wer im Stoff drin ist, wird sich nicht beschweren. Wer Anschlüsse an die Gegenwart braucht, findet sie. Die meiste Zeit funktioniert auch der dramaturgische Zuschnitt der Figuren: Nur schlecht oder nur gut gibt’s selten.

                            • 7

                              Er ist da, der Internetepisodenfilm: Lose stellt Regisseur Henry Alex Rubin die Geschichten von der Verletzlichkeit der Person als digitaler Privatsphäre in seinem ersten Spielfilm nebeneinander. Paranoia, Verfolgungswahn, Angstzustände: Hier wird der weiße Mittelstand zum Kriminellen wie zum Opfer. Auseinanderrechnen lässt sich das nicht mehr. Aber zusammen: In diesem Film verlieren alle ihre Existenz oder zumindest, was sie lieben.
                              Es ist eine quälende Welt, in der sich die Figuren hier bewegen. Alldieweil regnet es, man sitzt in fiesen Etablissements. Was machen die Maschinen mit den Menschen? Die haben das Regiment übernommen, klauen private Daten, belasten unerlaubt Kreditkarten – sie bauen jede Menge Mist im digitalen Raum. Und spielen mit der Aussichtslosigkeit, das Ich jemals wieder zu bekommen.
                              Die Rechnervernetzung steht den alleingelassenen Seelen unerbittlich gegenüber. Was ein Segen sein sollte, ist die Hölle: Kommunikation. Es wird viel geheult. "Disconnect" erzählt Schicksale, keine kohärente Story. Ein düsteres Science-Fiction-Epos der Gegenwart. Und die NSA ist noch nicht mal dabei. Dabei, und das ist dann obendrein ein dickes Plus, ist der Film ungemein spannend. Beim ersten Auf-die-Uhr-Schauen läuft der Abspann.
                              Anschließend geht man erst mal die Privatsphäreeinstellungen des Gehirns checken.

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                              • 7 .5
                                über Art War

                                Knallbunt, riesengroß, hochpolitisch, öffentlich: Die Kunst junger Ägypter ist voller Farben, ziert die Häuserwände, handelt von der arabischen Revolte gegen Militär und Islamismus und ist für jedermann zugänglich. Ihr Ort ist der Tahrir-Platz, ihr Material sind die Kämpfe für Freiheit und Demokratie und ihr dramatisches Personal die Toten, die sie fordern.
                                Die Sprayer nehmen sich ebenso die Islamisten vor und deren zwiespältige, aber rigide Moral. Die künstlerischen Formen sind Nacktheit und öffentliche Debatten.
                                Regisseur Wilms begibt sich in seinem sehr kompakten und schnell geschnittenen Film auf die Suche nach der Tradition bildender Künste in Ägypten. Gemalt wurde dort immer, und zwar immer auf die Hauswand. Farben- und Formenvielfalt bestimmen die Bilder.
                                Gedreht wird oft genug in Tränengas und Anarchie - dieser Film ist selbst eine Kunstinstallation - wie die ganze ägyptische Revolte.
                                (Amnesty Journal 2-2014)

                                • 6

                                  Ibrahim Gezer war einst erfolgreicher Bienenzüchter in der Türkei mit guter wirtschaftlicher Perspektive und großer Familie. Dann musste er aufgrund seiner kurdischen Herkunft bis in die Schweiz fliehen. In der Schweiz gilt seine Profession aber nur als Hobby - die Arbeitsgesetze verpflichten ihn, in der Fabrik Bonbons zu verpacken. Gezers Ausweis ist jünger datiert - nun kämpft er darum, fünf Jahre älter zu sein, damit er in Rente gehen kann. Pass, Aufenthaltsstatus, neue Heimat: Gezer gibt Auskunft über das Leben eines alten Asylbewerbers - ein Thema, das selten beleuchtet wird. Was ist, wenn man mit über 60 Flüchtling ist? Manchmal etwas langatmig geraten, fällt dieser Film durch seine neuartige Perspektive aus dem Leinwandrahmen.
                                  (Amnesty Journal 2-2014, derzeit nur Print)

                                  • 7

                                    Der 21-jährige Gundolf Köhler soll eine Bombe am Eingang des Oktoberfest-Areals in München gezündet haben. 13 Menschen werden gleich getötet, 211 zum Teil schwer verletzt. Der 16. September 1980 geht in die Geschichte ein.
                                    Benno Fürmann spielt den Radiojournalisten Ulrich Chaussy, der im Umfeld des Anschlags recherchierte und auf dessen Aufzeichnungen dieser Film basiert. Die Behörden präsentierten Köhler damals als Wirrkopf, der die Bombe völlig ohne Unterstützung gebastelt, platziert und gezündet haben soll. Auch wenn Zeugen bisweilen das komplette Gegenteil aussagten und die Spuren augenfällig ins rechtsradikale Milieu führten. Sehr deutlich weist der Film auf die Parallelen zum aktuellen NSU-Skandal hin.
                                    Auch wenn die Darsteller - durchaus ein deutsches Starensemble - und Dramaturgie nicht immer ganz stilsicher wirken: dies ist ein eminent wichtiger Film.
                                    (Amnesty Journal 2-2014, derzeit nur Print)

                                    • 3 .5

                                      Ein schlimmes Schicksal: Mitte des 19. Jahrhunderts wird der ehrbare und freie Afroamerikaner Solomon Northop per fiesem Trick aus den Nordstaaten direkt in die Baumwollhölle Louisianas verklappt. Fortan sagt man nicht mehr "Guten Tag" und "Auf Wiedersehen" zu ihm, sondern "Halt die Schnauze" und "Hemd aus zum Auspeitschen". Zwölf Jahre dauert das Martyrium, bis er auf wundersame Weise gerettet wird und zu seiner Familie zurückkommt.
                                      Es ist eine verdienst-, durchaus auch pädagogisch wertvolle Arbeit des englischen Regisseurs Steve McQueen, diese wahre Begebenheit – Northops Bericht erschien 1853 und erlebte für damalige Verhältnisse eine Massenauflage – mit einem Starensemble verfilmt zu haben.
                                      Sich diesen Film dann aber anzuschauen, ist es allerdings auch. Keine Frage, die Weißen, denen Northop damals begegnet sein wird, dürften allesamt echt fiese Arschkekse gewesen sein. Und die Schwarzen komplett arme Opfer. Die Bösen sind so abgrundtief ekelig wie die Guten total prima sind. Nun ist eine solche dramaturgische Grundanlage in der Wirklichkeit wie im populären Film zwar gängige Praxis. Ob einen das allerdings einen ganzen Film lang vom Schlafen abhält, ist fraglich. Da sich hier eine erwartbare Szene an die nächste reiht, hält sich der Lerneffekt in Grenzen. Zudem dürfte der Film recht werkgetreu sein, dafür fällt der Tagesordnungspunkt, warum es überhaupt Sklaverei gibt, diesmal aus. Politischer Kontext gerinnt hier bis zur Unkenntlichkeit zum Einzelschicksal – Herz hat der Film trotzdem nicht.
                                      Kommen wir zum interessanten, weil Splatter-Teil - nicht zu vergessen ist ja der Schauwert von Unterdrückung: Ketten, Maulkörbe, Menschen in Scheiben schneiden, Aufhängen – Arbeitsverhältnisse wie in der deutschen Fleischindustrie.
                                      Die inszeniert die Regie stilistisch durchaus auf hohem Niveau, so in etwa im Ambiente eines Jane-Austen-Films. Fehlt nur noch, dass Emma Thompson um die Ecke kommt.
                                      Das tut sie zwar nicht, aber es gibt ja noch Brad Pitt als guten Menschen aus Kanada, Michael Fassbender als Voll-Sado- und als Halb-Sado-Plantagenbesitzer Benedict Cumberbatch. Der spielt neuerdings ja überall mit. Tags zuvor hatte ich ihn als gemeinen Drachen Smaug kleine Hobbits fressen sehen!
                                      Fazit: "12 Years a Slave" – toller Streifen! Wenn dir "Die 120 Tage von Sodom" und "Independence Day" gefallen haben, könntest du auch diesen Film gut finden.
                                      (aus "konkret" 1-2014, derzeit nur Print)

                                      6
                                      • 2 .5

                                        "Wie fühlst du die Deutschen?", fragt die einfühlsame Sozialarbeiterin. Ihr Gegenüber kapiert die Frage nicht ganz, und sagt das auch so. Und später: "I thought, Germany is full of nazis and Hitler alive."
                                        Brian ist aus Kamerun geflüchtet und möchte nun in Deutschland Asyl beantragen. Dafür hat es ihn in die brandenburgische Kleinstadt Bad Belzig verschlagen – super Therme, tolle Burg mit Restaurant. Heute Abend ist orientalischer Tanz. "Not sex but culture", klärt Bad Belzigs Sozialpersonal auf.
                                        So sieht der Alltag im deutschen Asylleben aus, ein bisschen hinter Gittern, ein bisschen umsorgt oder die NPD steht vor der Tür. Judith Keil und Antja Kruska begleiten Brian und seine beiden Leidensgenossen Abdul aus Jemen und Farid aus dem Iran durch den Antragsalltag. Wie sich das für ein solches Projekt gehört, werden die Deutschen gehörig auf die Schippe ("Hallo, ich bin die Party-Beate") genommen, während in der nächsten Szene das Exotik-Thema dominiert.
                                        Etwa wenn Abduls Vergangenheit als Scheich thematisiert wird. Und der fordert, man möge ihm eine Frau zur Verfügung stellen, die für ihn kocht. Na, wieso das denn, kriegt er zu hören, das mit dem Kochen klappt doch wunderbar, verhungern willste doch nicht, oder? Kipp nur nicht immer das Wasser in den Gasherd, sonst rostet der durch.
                                        Der deutsche Nachbar attestiert dem gewesenen Adeligen, dass der 'ne super Type ist. Sportfreak Farid landet alsbald mit Burnout in der Psychiatrie: "Die Deutschen haben viel größere Probleme als ich, ich war nichts dagegen." Die Dramaturgie bewegt sich hier nah am Slapstick – da winkt der Publikumspreis auf dem Filmfestival.
                                        Während die beiden noch eine Chance auf Bleiberecht haben, sieht es bei Brian schlecht aus. Kamerun, no way. Die Anerkennungsquote liegt bei Null, nicht nur in Brandenburg. 30 Tage sind es noch bis zur Ausweisung. Brian: "Die Behörden arbeiten nach dem Gesetz. Ich muss nicht als erster da durch."
                                        Der Rechtsanwalt rät zur Heirat. "Eine Frau zwischen 18 und 26 Jahren zur Hochzeit zu bewegen, ist nicht leicht", fachsimpelt Brian. "Und dann auch noch zusammen leben, ganz ohne Liebe." Sein Kumpel zieht ihm diesen Zahn: "Deutsche Frauen wollen doch nur One-Night-Stands."
                                        Damit wäre dies auch geklärt. Die Regisseure von Filmen dieser Art sollten vielleicht dann doch mal drauf achten, ihre Protagonisten nicht allzu sehr vorzuführen.
                                        (aus "konkret", 1-2014, derzeit nur print)

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                                        • 6
                                          über Workers

                                          "Workers" erzählt aus der Welt misshandelter Arbeiter in Mexiko. Mit Rafael und Lidia greift sich Regisseur José Luis Valle zwei Schicksale aus dem Heer der kleinen Dienstleister heraus.
                                          Der altgediente Rafael ist seit 30 Jahren Putzkraft in einer Glühbirnenfabrik. Nun steht die Rente an, gleich findet das Abschlussgespräch mit dem Chef statt. Dafür hat sich der fleißige Putzmann extra neue Schuhe gekauft. Jetzt sitzt er hoffnungsfroh im Büro und freut sich auf seinen Lebensabend. Aber der Vorgesetzte weiß etwas Besseres als Ruhestand: Weil Rafael aus El Salvador stamme, habe er gar keinen Rentenanspruch. Aber er könne ja einfach weiterarbeiten. Und das macht Rafael auch – als Experte für videodokumentierte Sabotage. Kaum zu glauben, was man mit normalen Putzmitteln alles anrichten kann…
                                          Szenenwechsel: Lidia ist quasi Leibeigene einer reichen Frau. Als diese stirbt, hinterlässt sie ihrer Hündin "Prinzessin" das komplette Erbe. Die neue Chefin der Hausangestellten hat also vier Pfoten. Und "Prinzessin" ist eine durchaus launische Chefin.
                                          "Workers" ist ein böses, satirisches, nervenzehrendes Porträt, das etwas langatmig inszeniert ist. Mit viel Gewalt und Komik soll hier deutlich gemacht werden: Nicht nur alle materiellen Dinge, auch die Menschen gehören der Oberschicht. Hier wird ein globaler, asymmetrischer Krieg geführt, der schleunigst einer Friedensinitiative bedarf: einer Agenda für menschenwürdige Arbeit.
                                          (Kritik im Amnesty Journal 12-2013)

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                                            über Don Jon

                                            "Don Jon" ist wie ein Film über Spielsucht ohne Geld – als hochgelobtes Produkt des US-Independent-Kinos hätte er sich durchaus mehr trauen können, statt dessen wendet er sich dem Mainstream zu. Schließlich wird wie bei allen Suchtfilmen die vollendete Sinnleere des Innenlebens der Protagonisten behauptet. Jon muss geheilt werden, ganz klar. Aber wie krank ist er? Das Manko: Sein Schicksal wird wenig bis gar nicht als gesellschaftliches diskutiert. Mag der Film auch nicht richtig funktionieren, weil er die behauptete Sexualisierung des Alltags nicht auseinandernimmt, die Schauspieler sind spitze. In den Gesichtern und Gesten spielt das Theater – "Don Jon" wäre auch ein schöner Stummfilm, das ist immer ein gutes Zeichen. Wenn dir nur die richtige über den Weg läuft, wirst du glücklich – seine Hauptfigur will Gordon-Lewitt dann ganz old school und irgendwie für die Mittelschicht durch die Liebe gerettet wissen. Kann sein, dass das geht, aber hier nicht ohne Blessuren.

                                            • 6

                                              "Master of the Universe" ist cineastisch recht unterkomplex. Wie in fast jedem Film über die Geldbranche, fehlt es auch hier an Bildern. Man sieht die bedrohlich leeren Etagen, die Einstellungen von abfahrenden Aufzügen, so düster inszeniert, als wäre man auf dem Gefängnisplaneten in "Alien 3". Zwangsläufig folgen Bilder der TV-Börsennachrichten und von um ihren Job trauernden Angestellten der Lehman-Brothers, dem Ausgangspunkt der Finanzkrise 2008. Ein Horrorfilm durch und durch, der aber schwerwiegende Lücken aufweist.
                                              Sein Sujet ist banal, man mag nicht glauben, dass erwachsene Menschen nichts Besseres als Computerspielen im Kopf haben. Um Missverständnissen vorzubeugen: Dass da ein ehemals hoch angesiedelter Bankangestellter die Karten auf den Tisch legt, ist absolut in Ordnung. Mit fortschreitender Dauer aber rückt die Person des Rainer Voss selbst in den Mittelpunkt, so distanziert ironisch er die Vorgänge auch schildert. Mit sich selbst von früher will er nichts mehr zu tun haben; aber ein wenig ist er dennoch traurig, dass man ihn aus Altersgründen abgeschoben hat.
                                              Wie lebt er? Was will er? Im selben Ton wie über den Handel redet er über sein Kind, das irgendwo lebt, aber sicher nicht bei ihm. Natürlich hat er Frau und Kind verlassen, er war ja sowieso kaum zu Hause und die Betreuung war schon in Ordnung. Man steckt das Kind "in die Kita der Deutschen Bank, da ziehen die schon ganz früh so Typen wie mich ran". Erziehung sei nicht nötig gewesen, es komme ja nicht auf die Dauer, sondern die Qualität "der mit dem Kind verbrachten Zeit" an. "So hab ich das empfunden", sagt er. Jetzt könnte man das dokumentarisch Eindimensionale dieses Films zugunsten von ein wenig Journalismus verlassen: Was sagt dieses Kind über seinen Vater? Was sagt seine Exfrau?
                                              Aber vielleicht war das der besondere Trick des Regisseurs: Den Master of Desaster gibt’s nur ohne all das. Denkt mal bitte darüber nach, was das für den Rest der Welt bedeutet. Und so geht man raus aus dem Parallel-„Universe“ der Finanzspekulation mit seinem Automatenwesen und denkt: Eines, das aus solchen Elendsverursachern und Schreibtischkillern besteht, muss es nicht unbedingt geben. Das Leben mitsamt seinem ganzen Inhalt ist hier ein Wegwerfprodukt.
                                              Wie sein Sujet, die Finanzbranche, stellt dieser Film sehr erfolgreich ein Produkt her, von dem man anschließend noch eine ganze Weile was hat: Hass auf diesen Unsinn.

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                                                Al-zaytoun ist das arabische Wort für Olive. Die leckere Vorspeise und der Ölzweig, an dem sie hängt, stehen für den Frieden. Der israelische Regisseur Eran Riklis hat nun einen Film zum versöhnlichen Obst gemacht: das Drama "Zaytoun", das dieses Jahr das jüdische Filmfest in Berlin eröffnete.
                                                Zynisch wie alle Kriegsfilme hat auch dieser wenig mit Waffenstillstand am Hut. Libanon, 1982: Es donnert am Himmel, dann nimmt der kleine Fahed im palästinensischen Flüchtlingslager seine Knarre und zielt auf den israelischen Bomber. Peng, Peng macht das leerübende Kind. Worauf der Jet wie von Zauberhand vom Himmel fällt.
                                                Es stürzt ab Yoni, der erfahrene Kampfpilot. Auf den hat die PLO nur gewartet und nimmt den zerschundenen Soldaten in ihre Obhut. Aber Fahed muss nach Israel. Im Kampfpiloten sieht er die Chance, das Testament seines verstorbenen Vaters zu vollstrecken: den letzten verbliebenen Olivenbaum der Familie zurück in ihr palästinensisches Heimatdorf zu bringen.
                                                So entdeckt der kleine Radikalinski die Politik als Ausgleich von Interessen: Mit der bescheuerten Miliz verbindet ihn nichts, denn die arbeitet darauf hin, dass es den Palästinensern auch die nächsten 60 Jahre schlecht geht. Mit dem Hassobjekt Yoni verbindet ihn, dass er nach Hause gehen will. Also schießt er ihm ein Loch in die Figur, aber lässt ihn aus der Zelle. Auch sonst bleibt das Verhältnis der beiden gelinde gesagt unterkühlt - eine krude Stiefvater-Sohn-Geschichte mit spitzfindigen Wendungen. Denn Fahed kämpft nebenher mit der Pubertät. Da kommt ihm Yoni als doppelter Feind - Jude und Erwachsener - gerade recht. Will Smith hätte sich hier was abgucken können für seinen lahmen "After Earth"-Quatsch.
                                                Das dynamische Duo begibt sich auf einen recht Riklis-typischen Road-Trip. Im Taxi läuft "Staying Alive" von den BeeGees. Man gibt sich alle Mühe, bleibende Filmerinnerungen zu generieren: Das Kind, das mit seinem Putzlumpenfußball im Minenfeld im Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft (mit der Nummer zehn von Zico) herumkickt, ward so wohl noch nicht gesehen. Jenseits einprägsamer Szenen bringt der Film Motive übelster Gewalt im Vorbeifahren. Unsere Protagonisten passieren ekelhafte Hinrichtungsszenen wie auch frische Bombenattentate.
                                                Das Filmsetting ist hoch artifiziell und teilt doch laufend mit: ich bin es nicht. Gut geöltes Science-Fiction-Kino, das in der Vergangenheit spielt.

                                                • 7

                                                  Nach dem indonesischen Militärputsch 1965 brachten die Paramilitärs innerhalb eines Jahres über eine Million politischer Gegner um. Geahndet wurden die Morde nie, die Täter sind zum Teil noch heute in Amt und Würden. In Oppenheimers Film erzählen sie stolz vom Kampf gegen die angeblichen Kommunisten und demonstrieren Tötungsmethoden. Der Regisseur schlägt ihnen vor, die Taten "künstlerisch" in Szene zu setzen. Eine Idee, die ankommt: Die Totschläger suchen Schauspieler, lassen Kostüme entwerfen, sehen sich schon als Filmstars. Aber das Projekt bringt die Männer schließlich zum Nachdenken: Ihnen dämmert langsam, was sie den Menschen angetan haben - und welche Nebenwirkungen die Taten bei ihnen selbst hinterlassen haben.

                                                  • 6

                                                    So hat sich Karin, Protagonistin in Stefan Herings Film "Abseitsfalle", ihren beruflichen Aufstieg nicht vorgestellt: Die graue Maus mit abgeschlossenem BWL-Fernstudium in der leicht verkalkten Personalabteilung - die Firma stellt schließlich Waschmaschinen her - hat sich daran gewöhnt, dass der Chef ihre Konzeptpapiere zur Effektivierung der Prozessabläufe grundsätzlich nicht liest. Darauf angesprochen reagiert er unwirsch - vielleicht hätte ihn die junge Mitarbeiterin nicht gerade auf der Betriebsfeier und vor den Kunden danach fragen sollen ("Frau Wegmann, doch nicht jetzt. Ein Bier, bitte").
                                                    Der Durchbruch kommt dann recht unverhofft und auch eher ungewollt, in Gestalt des Unternehmensberaters Dr. Kruger (Christoph Bach). Der smarte Umstrukturierer braucht jemanden, der den Betrieb von innen kennt und in Excel-Listen und Powerpoint-Präsentationen verpacken kann. Ganz klar: Diese Fabrik steht unzweifelhaft vor dem Relaunch. Man ahnt schnell, wie es mit dem leicht eingestaubten Waschmaschinenhersteller namens Perla weitergeht. Das ist weniger der Dramaturgie geschuldet, als der Tatsache, dass solch ein Umbau in der Wirtschaft meist für eine Betriebsschließung steht.
                                                    Dass ein solcher Stoff ins deutsche Kino findet, ist schon eine große Leistung. Während das Thema Arbeit und Arbeitskampf in allen erdenklichen Formen in anderen europäischen Filmkulturen einen festen Bestandteil bildet, ist man hierzulande zu intelligenten cineastischen Reflexionen des Themas selten fähig. Und so gibt es kaum ernsthafte Versuche, die deutsche Arbeitswelt in Spielfilme zu übersetzen. Lang lebe das Komödiengenre. Hier ist es anders: Regisseur Stefan Hering versucht in der "Abseitsfalle" Prozesse der Arbeitswelt zwar oft mit Mitteln des Humors, aber auch mit einer gewissen ernsthaften Tiefe zu erzählen.
                                                    Die besten Momente gibt es im Arbeiterkino, wenn fernab jeglichen Klamauks einfach nur absurde Vorgänge zur Debatte stehen. Bei allem gilt: Dieser Film will positiv sein. Die Lage ist schlimm, aber individuell lässt sich sauber handeln. Regisseur Hering zeigt sich als echter Visionär: Karin wählt den derzeit angesehensten Weg - als Whistleblowerin. Sie veröffentlicht den ganzen Kram.