Die Oscar-Regeländerungen werden uns alle betreffen

25.01.2016 - 09:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Oscars 2016
Rocky Balbea
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Und das ist gut so. Denn noch immer sind weiße Männer in der Academy in der Überzahl, weil sich das System selbst reproduziert. Die neuen Regeln sollen der stark kritisierten Oscar-Verleihung zukünftig helfen, endlich diverse Geschichten erzählen zu lassen.

Letzte Woche schrieb ich einen Beitrag zur Oscar-Diversitäts-Kontroverse. Seit dem ist viel passiert. Die Academy hat auf die Vorwürfe vieler reagiert . Und ihr habt auch sehr fleißig und ausführlich kommentiert. Deshalb will ich mich dem Thema noch einmal widmen.

Im Jahr 1939 gewann Hattie McDaniel den Oscar als beste Nebendarstellerin für Vom Winde verweht. McDaniel war die erste Afroamerikanerin, die eine solche Auszeichnung entgegennehmen konnte.

An dem Tag, an dem sie den Oscar bekam, betrat McDaniel nicht nur Neuland in Sachen Oscars, sie nahm den Preis auch an einem Ort entgegen, an dem sie eigentlich nicht sein durfte. Das Hotel, in dem die Zeremonie stattfand, war für Schwarze verboten. Sie kam durch den Hintereingang und wurde nur so lang geduldet, wie die Preisverleihung dauerte. In ihrer langen Karriere spielte McDaniel übrigens 74 Mal quasi die gleiche Rolle: das Hausmädchen.

Damals, 1939, war Rassismus etwas, das offen ausgelebt wurde als eine Ideologie, die sich, basierend auf biologistischen Ideen, im Recht sah. Es stand die Idee, dass Bevölkerungsgruppen mit bestimmten biologischen Merkmalen hinsichtlich ihrer kulturellen Leistungsfähigkeit anderen von Natur aus über- bzw. unterlegen wären.

Jetzt, im noch recht neuen Jahr 2016, gibt es keine Segregation mehr. Es gibt keine Hotels mehr, die Menschen mit einer bestimmten Hautfarbe nicht betreten dürfen. Die biologistisch untermauerte Idee, dass Menschen einer bestimmten Herkunft anderen unterlegen wären, ist ebenfalls absolut widerlegt. Benutzt wird sie trotzdem weiter. In den Kommentaren zum letzten Artikel wurde sie manchmal benutzt, meist um anzumerken, dass das, was bei den Oscars passiert, nicht rassistisch wäre. Aber Rassismus hat viele Spielarten, es gibt nicht *den* Rassismus, sondern eher Rassismen. Grundsätzlich, egal ob im Alltagsrassismus oder im institutionellen Rassismus, hat diese Art von Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit bestimmte Folgen. Philomena Essed :

In der Folge dienen diese Unterschiede als Erklärung dafür, dass Mitglieder dieser Gruppierungen vom Zugang zu materiellen und nicht-materiellen Ressourcen ausgeschlossen werden. Rassismus schließt immer den Gruppenkonflikt hinsichtlich kultureller und materieller Ressourcen ein. […] Rassismus ist ein strukturelles Phänomen. Das bedeutet, dass ethnisch spezifizierte Ungleichheit in ökonomischen und politischen Institutionen, im Bereich von Bildung und Erziehung und in den Medien wurzelt und durch diese Strukturen reproduziert wird.

Die Argumentation, die auch häufig in Kommentaren benutzt wurde, dass dieses Jahr keine SchauspielerInnen oder Regisseure of Color nominiert wurden, weil sie einfach nicht gut genug für einen Oscar waren, ist meiner Meinung nach kein valides Argument. Erstens, weil die Oscars jedes Jahr sehr gute Filme und Leistungen nicht honorieren und zweitens, weil die Idee der Auswahl der "Besten" eh ein reines Simulacrum ist. Die 6000 Academy-Mitglieder wählen ja nicht nach strengen qualitativen und genormten Regeln aus, die dieses "gut genug" definieren, sondern nach ihrem eigenen Geschmack und basierend auf ihrem eigenen Wissen als Profis und ihren eigenen Erfahrungen. Die Wahl für die Oscars ist hochgradig subjektiv. Und dieser Subjektivismus basiert auf den eigenen Lebenserfahrungen, -umständen und -herkünften. Das können wir ihnen auch gar nicht vorwerfen. So läuft das nun mal mit der menschlichen Psyche. Wir leben in einer beschränkten kleinen Blase. Aber genau das ist ja die Krux an der Art, wie diese Mitglieder zusammengesetzt sind. Das ist das Problem an der momentanen Zusammensetzung: ca. 94 % weiß, 77 % männlich, im Durchschnitt 63 Jahre alt.

Es geht nicht darum, weiße, alte Männer zu dissen. Es geht auch nicht um Quoten oder darum, Menschen nur wegen ihrer Hautfarbe zu nominieren. Es geht vielmehr um Repräsentation multipler Erfahrungswelten. In der Academy, aber auch auf der Leinwand. Und diese beiden Dinge sind zu 100 % miteinander verbunden und bedingen sich systematisch gegenseitig. Und noch dazu betreffen sie uns alle. Ganz eindeutig und ganz direkt. Dazu gleich mehr.

Das System reproduziert sich selbst ad infinitum

Okay, hier ein Versuch einer kurzen Analyse des ewigen Kreislaufs zwischen amerikanischer Filmindustrie und den Academy Awards, der systematisch eine Ungleichheit in ökonomischen, filmpolitischen und repräsentativen Strukturen in sich trägt:

Die bisherigen Regeln, wer in die Academy eintreten darf, sind:

  • Man wurde für den Oscar nominiert bzw. hat einen gewonnen
  • Zwei Mitglieder der Academy sprechen eine Empfehlung aus
  • Eine Kommission beruft einen ein

Gegründet wurde die Academy 1927 als rein weiße, fast ausschließlich männlich bestückte Institution. Das war der Zeit geschuldet. Den heutigen Zahlen nach zu urteilen, hat sich die Academy bis 2016 relativ homogen gehalten. Noch immer sind weiße Männer in der Überzahl. Das liegt daran, dass die Beitrittsregeln immer wieder die Aufnahme in den eigenen Reihen reproduzieren. Hier kommt die eigene Blase wieder ins Spiel. Es werden Empfehlungen für Menschen des eigenen Lebens- und Erfahrungskreises ausgesprochen, ebenso Menschen einberufen und ja, auch die Nominierten werden so ausgewählt. Wer weiß ist, identifiziert sich viel mehr mit Geschichten anderer Weißer im Film, denn sie repräsentieren mehr die eigenen Erfahrungen und Weltansichten. Gleiches gilt für alle anderen Gruppen. Ergo, die Wahrscheinlichkeit, durch eine Oscar-Nominierung in die Academy zu kommen, ist als Person of Color ebenfalls schwierig. Insgesamt sind die Eintrittsregeln faktisch Ausschlusskriterien für den größten Teil von Minoritäten. Einfach weil das System sich immer wieder selbst reproduziert. Aber es geht weiter.

Mean No Disrespect To My Friends, Host Chris Rock and Producer Reggie Hudlin, President Isaacs And The Academy, but, How Is It Possible For The 2nd Consecutive Year All 20 Contenders Under The Actor Category Are White? And Let's Not Even Get Into The Other Branches. 40 White Actors In 2 Years And No Flava At All. We Can't Act?! WTF!!" - Spike Lee

Vor allem für die Kategorien Beste Regie, Beste/r Darsteller/in und Beste/r Nebendarsteller/in haben die Oscars einen massiven Marktwert. Wer nominiert wird oder gewinnt, erhöht massiv seine Chancen auf dem filmindustriellen Arbeitsmarkt und hat für eine Weile eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, Projekte finanziert zu bekommen bzw. mehr in Filmen mitzuwirken. Mehr Arbeit am/im Film bedeutet mehr Repräsentation. Mehr Repräsentation der eigenen Person als Teil einer Kultur, mehr Repräsentation der eigenen kulturellen und Lebenserfahrungen im Film bedeutet wiederum mehr Auswahl an Narrativen und filmischen Erfahrungen für das Publikum. Aber die Majorität der Künstler, die einen Oscar erhalten, ist weiß. Ergo repliziert sich hier auch, ad infinitum, eine meist weiße Repräsentation. Einige schrieben in den Kommentaren, ihnen wäre es total egal, wer nominiert wird oder nicht und welche Hautfarbe die Leute hätten. Ich sage, ja, klar, weil ihr euch wiederfindet, weil ihr repräsentiert werdet. Andere sagten, das ganze Thema ist doch völlig schnuppe. Ich sage: Es ist ein Privileg, dass es euch am Arsch vorbei gehen kann und das kann es nur, weil ihr keinen Leidensdruck habt, überall in den Medien. Eure Blase, eure Erfahrungen, sie werden erzählt. Sie kommen ins Kino.

Ein paar Beispiele: Wenn nur Sylvester Stallone für Creed - Rocky's Legacy nominiert wird (und ich bin sehr dafür, dass er die Nominierung bekommen hat), dabei aber Ryan Coogler als Regisseur und Drehbuchautor völlig ignoriert wird, dann zeigt dies ganz deutlich, dass es die Erfahrung des (einzigen) weißen Mannes im Film ist, der Beachtung geschenkt wird, obwohl Creed durch und durch die Geschichte einer afroamerikanischen Lebenserfahrung ist. Damit konstituiert die Academy, beabsichtigt oder nicht, dass die weiße Erfahrung ein Standard, die schwarze eine Nischenerscheinung ist, die, wenn denn beachtet, immer nur als Minoritätenphänomen erachtet wird. Beachtlich ist auch, dass afroamerikanische KünstlerInnen Oscars für Rollen bekommen, die 1) überdurchschnittlich oft von weißen Regisseuren inszeniert wurden und 2) überdurchschnittlich oft klischeehafte Rollenbilder (Sklaven, Hausmädchen, Sportler, Kriminelle) zeigen.

Kurzum, Lebenserfahrungen und Narrative von Minderheiten werden systematisch erschwert, ignoriert oder annektiert, was das Gesamt-Output der Filmindustrie massiv zu Gunsten weißer Erfahrungen ändert. Schauen wir uns noch einmal die Definition von Rassismus von Philomena Essed an, dann müssen wir konstatieren, dass dies eindeutig ein rassistisches System ist.

Aber jetzt ändern sich die Regeln. Und alles wird anders?

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