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Entdeckungen beim Filmfest München 2019

17.07.2019 - 13:00 UhrVor 2 Jahren aktualisiert
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Clemens Judersleben
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Das Filmfest München zeigt 2019 wieder einige der wichtigsten Werke aus Cannes und Venedig. Als neue Programmreihe wird der CineCoPro-Wettbewerb für deutsch-internationale Koproduktionen eingeführt. Zusätzlich feiert eine Vielzahl deutscher Independents ihre Weltpremiere in der Sektion Neues Deutsches Kino. Auffallend ist, dass die CineMerit-Preise für das künstlerische Lebenswerk sowie zwei Retrospektiven ausschließlich männlichen Schauspielern und Regisseuren gewidmet sind. Kurz möchte ich meine Entdeckungen, Highlights und Enttäuschungen vorstellen.

In Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet, beginnt und endet der Polizeifilm LES MISERABLES mit einem Zitat des berühmten französischen Dichters Victor Hugos. Der literarische Rahmen und Ort des Geschehens klingen wie eine böse Prophezeiung und Ladj Li schickt den Zuschauer direkt in die Vorstadthölle Paris, um innerhalb von zwei Stunden die Abhängigkeiten, Machtstrukturen, Diskriminierungen und Hilfslosigkeiten der Pariser Banlieue zu exzerpieren. Atemberaubend geschnitten legt der junge Regisseur Stück für Stück beim Zuschauer die Daumenschrauben an. Die Sinnlosigkeit dieser unausweichlichen Eskalation unterläuft er dabei mit Anekdoten seiner eigenen Erfahrungen aus eben jenem Ort: Als Katalysator dient tatsächlich ein gestohlenes Löwenbaby. Am Anfang wird hypnotisch eine scheinbare Einigkeit der Bevölkerungsgruppen nach dem WM-Sieg 2018 inszeniert. Am Ende brennt Paris!

Neben den etablierten Reihen wie dem CineMasters- oder CineVision-Wettbewerb verleiht das Filmfest München 2019 einen neuen Preis für die beste deutsch-internationale Ko-Produktion. In LA GOMERA ist die europäische Zusammenarbeit auch inhaltlich Programm: Nach dem Verlust von Mafiageldern in Rumänien reißt der korrupte Polizist Cristi auf die kanarische Inseln, um für einen weiteren Coup eine kuriose Pfeifsprache zu erlernen. Der Film bezieht seinen Reiz aus einer Vielzahl überraschender Wendungen und seiner sexy Inszenierung. Doch der fehlende Fokus auf einen der Charaktere und die recht oberflächliche Kritik am korrupten Polizeisystem Rumäniens lassen den Film blutleer erscheinen.

Erstes Highlight: LES MISERABLES

Herzstück des Festivals: Brasilien

Für mich bisher bisher eher selten auf der cineastischen Landkarte erschienen, stellt Brasilien nun das qualitative Zentrum meiner diesjährigen Filmauswahl dar: THE INVISBLE LIFE OF EURÍDICE GUSMÃO von Karim Aïnouz (ZENTRALFLUGHAFEN THF) ist ein seltenes Kunstwerk. Ebenfalls von deutschen Geldern kofinanziert hat der Film den CineCoPro-Award gewonnen. Mit epischem Atem wird die Lebensgeschichte zweier Schwestern im Rio der 50er Jahre erzählt, die durch gesellschaftliche und patriarchale Zwänge zur räumlichen und emotionalen Trennung gezwungen werden. Dem Mut des Skripts zum großen Melodrama stehen viele intime Momentaufnahmen gegenüber, in denen dem Zuschauer ein seltener und sensibler Blick in die leidgeprüften Psychen der beiden Frauencharaktere gewährt wird. Das tropische Klima und die lebendige Schönheit der damaligen Zeit werden hier weniger durch teuren, ausufernden Ausstattungsbombast erschlossen, sondern durch ein bewusstes Sounddesign und eine Bildsprache, die wunderbar oft an Wong Kar-wei erinnert. In Aufnahmen für die Ewigkeit darf man zweieinhalb Stunden zusehen, wie mit Carol Duarte und Julia Stockler womöglich zwei zukünftige Stars des südamerikanischen Kinos geboren werden.

Wie wichtig gerade für Brasilien eine florierende, kreativ kritische Kinoszene ist, wird in der bloßen Existenz des politisch noch brisanteren BACURAU deutlich. Durch die Abschaffung des Kulturministeriums Anfang 2019 wird unabhängigen Filmemachern die Veröffentlichung ihrer Werke in Brasilien erheblich erschwert. Doch international gewinnen sie weiterhin Preise: So konnte BACURAU in München den CineMasters-Wettbewerb trotz starker Konkurrenz für sich entscheiden. Ein abgelegenes Dorf im brasilianischen Hinterland, wo die Bewohner noch frei denkend, losgelöst von jeglicher Bigotterie oder Nationalismus leben, soll schnellstmöglich von US-amerikanischen Hobby-Söldnern von der Landkarte getilgt werden. Dieser irre Hybrid aus Western, Weltkino, Science-Fiction und politischer Parabel kommt weitaus verrückter daher als Pressetexte vermuten lassen. Im Kern ist der Film neben einer gesellschaftlichen Analyse deutlich dem Spaß am Genre verschrieben, was vor allem durch eine inhaltliche Konzentration auf die von Udo Kier angeführte Killertruppe bestätigt wird.

Große brasilianische Kinokunst: THE INVISIBLE LIFE OF EURÍDICE GUSMÃO und BACURAU

CineMerit-Award für Schauspielgrößen Ralph Fiennes und Antonio Banderas

Dank Ralph Fiennes konnte ich dieses Jahr etwas Star-Power erleben: Mit dem CineMerit-Award für sein Lebenswerk als Schauspieler und Regisseur geehrt, präsentierte Fiennes sein neues Regiewerk THE WHITE CROW, ein recht altmodisches Biopic über den berühmten russischen Ballettänzer Rudolf Nurejew. Fiennes Leidenschaft fürs Ballett und seine kompetente Inszenierung hinsichtlich der Darstellung des damaligen Jahrzehnts und der Verwirklichung Nurejews innerer Gefühlswelten, kaschieren das sehr vereinfachende, übliche Biopic-Skript. Im Gespräch kommt der Weltstar auf den jahrelang unter Hausarrest stehenden russischen Regisseur Kirill Serebrennikov (LETO, THE STUDENT) zusprechen: Fiennes habe die Flucht des Balletttänzers aus der Sowjetunion sowie der damit verbundene Drang nach absoluter künstlerischer Freiheit an dem Stoff gereizt.

Pedro Almodovars bislang wohl selbstreferenziellstes Werk zum Start seiner Filmographie zu wählen, ist nicht optimal. Doch der Zauber der luftig leichten Inszenierung von existenziell schwersten Themen hat mich auch ohne Vorkenntnisse sofort gepackt. Seine körperlichen Schmerzen nicht mehr ertragend, rettet sich der von Antonio Banderas gespielte Regisseur in den seligen Heroinrausch. Almodovar nutzt diese Momente zur inneren Selbstreflexion und dem Wiedererleben wichtiger Fixpunkte seines Lebens. Kunstvoll werden das homosexuelle Erwachen, der Konflikt mit dem katholischen Glauben, der Verlust erster Beziehungen und die mütterliche Abhängigkeit mit einer Analyse seines desolaten Körper- und Seelenzustandes verwoben. Dieser Film entpuppt sich mitreißender und charmanter, witziger und emotionaler als erwartet. Banderas wurde in Cannes für seine Leistung mit dem Preis für den besten Darsteller und in München mit dem CineMerit-Award ausgezeichnet. Folgt bald der Oscar?

Preise für das Lebenswerk gehen an Ralph Fiennes und Antonio Banderas

Durchschnitt in der Sektion Neues Deutsches Kino

Im Feuilleton wird regelmäßig zu Festivalstart verkündet, die Sektion Neues Deutsches Kino würde langsam der Berlinale den Rang als Startrampe der besten deutschen Filme ablaufen. Dank der Festival-Scope-Plattform konnte ich mich dieses Jahr ausführlicher mit der Sektion auseinandersetzen und das führte stellenweise doch zu Ernüchterung.

WAS GEWESEN WÄRE gibt sich als später Coming-of-Age-Film und Reflexion über die deutsch-deutsche Geschichte. Die Beziehungsszenen zwischen Ronald Zehrfeld und Christiane Paul sind präzise beobachtet und gespielt. Doch die Rückblenden zu den entscheidenden Jugendjahren im geteilten Deutschland wirken leblos und hölzern auf unterem TV-Niveau. Im letzten Drittel versucht Regisseur Florian Koerner von Gustorf die Brücke von Republikflucht in der DDR zur heutigen Situation an den Grenzstreifen Ungarns zu schlagen, was aber ob der gefühlsbetonten Inszenierung schlussendlich mehr gewollt als gekonnt wirkt.

Regisseurin Katharina Mihm verfolgt in MÄR - A GERMAN TALE einen inszenatorisch sehr interessanten Ansatz, in dem sie eigenwillig, mit vielen Auslassungen, eine deutsche Märchengeschichte in den heutigen Ruhrpott verlegt und dabei auf die Ausnutzung der Natur und besorgte Bürger zu sprechen kommt. Doch die Allegorien zu Pegida und AFD sind unschlüssig und laufen ins Leere. Den Film zu dechiffrieren scheint unmöglich. Die Angst vor dem Wolf als große Metapher der Angst funktioniert nicht.

Gleich zwei Filme beschäftigen sich mit Wunderkindern am Klavier und ihrem ungesunden Verhältnis zu ihrer Kunst. In PRELUDE verliert Louis Hoffmann aufgrund der eigenen überhöhten Ambitionen den Halt. Wenn der Film den Mikrokosmos der Musikhochschule, das Miteinander der jungen Serienstars Louis Hoffman und Liv-Lisa Fries beobachtet, ist er schon fast großartig. Doch Regisseurin Sabrina Sarabi will weg vom konventionellen Erzählen und verliert sich gerade dadurch im Klischee, wenn der Protagonist David unglaubwürdig schnell in den Wahnsinn abdriftet bis hin zum völlig deplatzierten Finale.

LARA von Jan-Ole Gerster geht da deutlich reifer zu Werk. Im gleichen, anekdotischen, tragikomischen Stil, den schon sein Durchbruch OH BOY vor sieben Jahren ausgezeichnet hat, exzerpiert Gerster das Verhältnis der ebenfalls künstlerisch talentierten und schwer depressiven Protagonistin Lara zu ihrem Sohn, Konzertpianist Viktor, gespielt im immer gleichen gewohnten Stil von Tom Schilling. Gerster weiß seine Heimatstadt stilvoll mit wunderschönen Details in Szene zu setzen. Doch zu oft lässt er seine Titelfigur in misslichen Situationen allein, zu oft verkommt ihr Charakter nur zu einer Abfolge kleiner Boshaftigkeiten. Fühlte man sich in OH BOY dem ewigen Studenten Niko sehr nah, bleibt die Depression und das verpfuschte Leben Laras doch irgendwie nur Behauptung.

Einen wunderschönen Lichtblick stellt die mit Mut zum Pathos geschriebene Liebesgeschichte MEIN ENDE. DEIN ANFANG dar. Es geht ums Schicksal, die Unmöglichkeit des Zufalls und deterministische Bestimmung. Eine Solche Thematik erfordert eine selbstbewusste Regie, in der natürlich nichts dem Zufall überlassen wird. Es ist kaum zu glauben wie leichtfüßig Regisseurin Mariko Minoguchi nach kurzen Exkursen in die Relativitätstheorie der Wechsel zwischen charakterkonzentrietem Indie, großgedachter Romanze, Thriller, Schuld und Sühne Drama gelingt. Schnell kann ein Drehbuch solch großer Ambition in Kitsch und Unglaubwürdigkeit umschlagen. Hier entsteht aber auch dank der drei großartigen Hauptdarsteller Saskia Rosendahl, Julius Feldmeier und Edin Hasanovic etwas Besonderes: ein rundum gelungenes, wirklich großartiges, deutsches Spielfilmdebüt.

Neues Deutsches Kino: MEIN ENDE.DEIN ANFANG und LARA

Herzblut im amerikanischen Independent-Kino

Ethan Hawke wagt sich wie sein Kollege Ralph Fiennes an ein Biopic: BLAZE behandelt das schwierige Leben von Blaze Foley, der seinerzeit relativ unbekannt, mittlerweile als großer Einfluss für das Country-Genre gilt. Debütant Ben Dickey gibt den Poeten Foley als hinkenden Konfliktsuchenden und gleichzeitig sehr zärtlichen Singer-Songwriter. Charlie Sexton, Gitarrist von Bob Dylan, verkörpert den großen Townes Van Zandt hingegen als humorvollen, charismatischen Trinkkünstler. Überhaupt schert Ethan Hawke mit Sam Rockwell, Steve Zahn und sogar Richard Linklater einen Großteil seines Freundeskreises um sich, um seine zutiefst emotionale, sepiafarbene Geschichte zu erzählen. Leider führt dies zu fehlender Distanz von Hawke zu Foleys Leben. Mit so viel Leidenschaft für seine Hauptperson verkommt der Film zu oft zu einer bloßen Nummernrevue von Foleys großen Songs und besoffenen Erzählungen. Ins Herz schauen können wir ihm leider in BLAZE nur selten.

Ein weiterer US-amerikanischer Independent Film, THE PLACE WITH NO WORDS, ist stellenweise unnötig hektisch geschnitten, repetitiv erzählt und nicht in jeder seiner metaphorischen Bedeutungen schlüssig. Doch viel ehrlicher und emotionaler kann Kino selten sein. Regisseur Marc Webber besetzt sich selbst als todkranken Vater, den die Unfähigkeit sich seinem Sohn mitzuteilen so sehr lähmt, dass sich dieser nur in entfernte Fantasiewelten träumen kann. In dem intimen Familienprojekt spielen Sohn, Ehefrau und enge Freunde des Filmemachers mit. Die unfassbare Angst vor dem familiären Verlust wird in jeder Szene spürbar und doch feiert der Film hemmungslos das Leben im hier und jetzt.

Zutiefst emotional: THE PLACE OF NO WORDS

Ergänzungen

Zur Zeitüberbrückung habe ich mir das Historienstück THE ANNOUNCEMENT aus der Türkei angeschaut. Ohne Erwartungen war ich dann doch etwas enttäuscht, dass der Pressetext die komplette Handlung vorwegnahm. Der Plot um einen militärischen Putschversuch und die anschließende Verkündigung der neuen politischen Tatsachen über Radio-Istanbul 1963 spielt im Film jedoch nur eine untergeordnete Rolle. In statischen, perfekt arrangierten Szenen passiert wenig bis nichts. Dies erinnert stark an WARTEN AUF GODOT. Die Sinn- und Motivationslosigkeit, das vollkommen Banale am Revolutionären und die erstarrten Machtstrukturen werden Stück für Stück herauskristallisiert. Mit jeder Szene wartet man gieriger auf die finale Pointe. Denn es handelt sich bei THE ANNOUNCEMENT um eine große politische Komödie, die gelegentlich durch wunderbar kaltblütige Gewalteruptionen unterbrochen wird. Eine Überraschung!

Und ja, auch PARASITE lief in der CineMasters-Sektion und - believe the hype- er ist wirklich so gut wie jeder behauptet! Regisseur Bong Joon Ho, verantwortlich für das Meisterwerk MEMORIES OF MURDER wurde vom Filmfest München mit einer Retrospektive geehrt. Er schafft es glorreich in PARASITE eine sozialökonomische Analyse seines Heimatlandes Südkorea in ein zweistündiges Unterhaltungsfeuerwerk zu verwandeln, was in seinen besten Momenten sogar zu Tränen rühren kann. Ich spare mir hier vorerst weitere Gedanken und freue mich auf eine erneute Sichtung zum Kinostart am 17. Oktober!

Der Gewinner der Goldenen Palme in Cannes: PARASITE




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