Gegen die Ignoranz - Plädoyer für verkannte Filme

29.08.2012 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
Die Legende von Aang
Paramount Pictures
Die Legende von Aang
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Zwischen Nolan- und Crowdpleaser-Bashing darf das Plädoyer nicht zu kurz kommen: Ein halbes Dutzend Filme seit der Jahrtausendwende, die vom Publikum zu Unrecht mit Ignoranz gestraft oder Häme überzogen wurden.

Ich solle doch auch mal etwas über Filme schreiben, die ich möge. Eine berechtigte Anmerkung der Leser. Zwar plädierte ich bereits für die alles durchdringende Kunst des Musicals und auch für Robert Pattinsons Prostata, und gibt ja das Nichtgefallen zuletzt auch immer Aufschluss über das Gefallen, doch an guten Filmen soll es dieser Kolumne natürlich nicht mangeln. Deshalb habe ich einige Titel zusammengestellt, auch vor dem Hintergrund der (gelegentlich lästigen) neuen Listenfunktion von Moviepilot sowie der umfassenden Abstimmung des Sight and Sound Magazins, für die stark zu machen es sich unbedingt lohnt. Filme, die aus unterschiedlichen Gründen missverstanden oder auch gar nicht erst gesehen wurden, die es, mit mickrigen Community-Ratings gestraft, bis aufs Blut zu verteidigen gilt. Dabei soll es sich gar nicht einmal um Geheimtipps, Obskures oder verborgene Schätze handeln (Gott bewahre!), sondern schlicht Filme, die zu Unrecht in die Missgunst von Kritik oder Publikum gerieten. Eine kleine Auswahl sodele, beschränkt auf die Jahre nach 2000, für geistvolle Stunden und Ringelpiez mit Anfassen.

Die beste Dialogzeile des neuen Jahrtausends – My Soul to Take
Diesen Film gleich als erstes zu nennen, ist mir ein persönliches Anliegen. My Soul to Take von Wes Craven ist nicht nur der beste Film mit einer Vogelkostümszene aller Zeiten, sondern auch der denkbar schönste Rückblick, den ein Genre-Altmeister auf sein eigenes Werk werfen kann. Der Grund für das Versagen des Films an den Kinokassen dieser Welt, seinen vor Spott strotzenden Kritiken und der Schar verständnisloser User-Kommentare, kann nur vermutet werden: My Soul to Take ist ein Film, der sein (Ziel)Publikum offenbar für klüger hielt, als es letztlich war. Das ist vor allem deshalb schade, da es sich in der Regel andersherum verhält. Und auch, weil dadurch vielen Zuschauern ein Film entging, der auf aberwitzige Weise verdrehte Slasher-Konventionen, melancholische Coming-of-Age-Elemente und entrückten Teen-Trash zu einem gleichermaßen geist- wie ideenreichen Horrordrama spinnt, das sich ganz der wirklichkeitsentrückten, einsamen Seele seines Protagonisten verschreibt. Mit der besten Dialogzeile des neuen Jahrtausends: It’s not okay for everybody to kill each other all the time.

Der lange Marsch zum Ich – Gerry
Gerry ist vermutlich gar nicht einmal unterschätzt, es hat ihn nur einfach kaum jemand gesehen (sofern das nicht bereits die Definition von unterschätzt ist). Dabei handelt es sich sogar um den besten Film von Gus van Sant! Viel aufregender als seine mit den beiden Gerry-Hauptdarstellern Matt Damon und Casey Affleck gedrehte Erbauungsschnulze Good Will Hunting, und innerhalb seiner auf experimentellere Regiearbeiten fokussierten Arthaus- und Prätentionscinephilen-Phase auch klar der schönste Beitrag. Eine nicht enden wollende Fußreise, eine Hommage an Béla Tarr. Zurücklassen, Abstreifen und immer nach vorn. Im langen Laufen findet Van Sant die Essenz seines Kinos vom Erwachsenwerden, und schließlich ganz zu sich selbst. Eine faszinierende Odyssee über Stock und über Stein, in der sich viel bewegt und wenig gesprochen wird. Ein Film, der erfahren werden möchte. Und auch unbedingt sollte.

Bis(s) die Bettpfosten brechen – Breaking Dawn
Ein Meisterwerk ist der bisher jüngste Twilight-Kinofilm mit dem schlanken deutschen Titel Twilight 4: Breaking Dawn – Biss zum Ende der Nacht – Teil 1 vielleicht nicht unbedingt, verkannt hingegen ist er (und mit ihm die gesamte Serie) jedoch allemal. Die in den Vorgängern großzügig und hier und da auch ein bisschen sehr langweilig vorbereitete Dreiecksbeziehung wird von Bill Condon, Regisseur des famosen Gods and Monsters, hier endlich zu einem emotionalen Höhepunkt geführt, in dem die sterbenskranke Kristen Stewart blut- und schweißgetränkt ein Monsterbaby zur Welt bringt. Toll! Da wird gevögelt bis die Bettpfosten brechen, und der schnuckelige Taylor Lautner darf schlussendlich Ziehpapi sein. Das ist mitreißend, sentimental, rundherum ansprechend in Szene gesetzt – und mit Abstand die beste Form von Teenagerunterhaltung im gegenwärtigen Kino.

Furiose Comic-Film-Metarmorphose – Hulk
Das Monster mit der lilafarbenen Unterbüchse, bigger than life. Ein gigantischer Ultrakunstfilm, mit dem sich Ang Lee auf seiner Kinoreise durch US-amerikanische (Kultur)Mythen der Ikonographie des Superhelden annähert. Sein Hulk ist ein melodramatischer Familienroman, ein Hollywood-Blockbuster mit Verstand und eine furiose Comic-Film-Metarmorphose. Wie der taiwanesische Filmemacher das gewaltige Spektakel nutzt, um über die zerstörerischen Kräfte einer dysfunktionalen Eltern-Kind-Beziehung, einer tragischen Liebesgeschichte und der bitteren Ausweglosigkeit des Antihelden zu erzählen, ist so einzigartig wie irrsinnig. Die kluge psychologische Harmonisierung der Vorlage auf der einen, die virtuose Inszenierung auf der anderen Seite, überträgt Lee die panels des Comics in bewegte Kinobilder, deren Lebendigkeit aus Multi-Screens, Morphing-Übergängen und spektakulärer Montage ihresgleichen sucht. Vom Publikum weitgehend verschmäht, wurde das neue Franchise-Konzept jedoch umgehend wieder eingestampft und fünf Jahre später unter der Regie von Louis Leterrier zu hohlbirnigem Bombastnonsens für Schwachsinnige reaktiviert. So verbleibt Hulk leider als vielleicht meistunterschätzte Comicadaption aller Zeiten.

Eine wahrlich wunderbare Märchenstunde – Die Legende von Aang
Die Filme von M. Night Shyamalan sind eigentlich nicht zu ertragen, doch eine augenscheinliche Besinnung nach dem Ellipsen-Blockbuster The Happening scheint den Mann mit dem Namen auf den Boden der Tatsachen gebracht zu haben. Gut so. Denn nach einem halben Dutzend bedeutungsschwangerer Hokuspokus-Schmonzetten hat er mit Die Legende von Aang dann doch noch einen großartigen Film vorgelegt. Die Adaption der niedlichen Zeichentrickserie Avatar – Der Herr der Elemente ist wunderbar unprätentiös und freudvoll inszeniert, ohne Gedöns, Gewusel und Ü-Ei-Enden. In den elegischen Actionszenen und ihren mit großer Übersichtlichkeit gestalteten Fantasy-Momenten gerinnt auch Shyamalans spielerische (und sonst irritierend auf sich selbst aufmerksam machende) Kamera zum Quell schwebeleichter, magischer Bilder. Eine wahrlich wunderbare Märchenstunde, die aus unerfindlichen Gründen den Unmut von Publikum und Filmkritik auf sich zog. Der auf mehrere Teile angelegte Film wird deshalb leider nicht fortgesetzt, Shyamalan dreht stattdessen jetzt irgendwas mit Will Smith. Alles sehr traurig. Ich verstehe das bis heute nicht.

Die Rückkehr zum Affekt – The House of the Devil
Es soll ja Menschen geben, die Horrorfilme noch ernst nehmen. Die jedes Jahr aufs Neue hoffen, dass das Genre zu seiner einstigen Vitalität zurückfindet, Kraft neuer Impulse, Mut zur Ernsthaftigkeit oder gern auch kritischer Diskurse. Vielleicht gab es den letzten 20 bis 30 Jahren nur eine Handvoll wirklich herausragender Horrorfilme, und der allerschönste unter ihnen ist wohl The House of the Devil von Ti West. Viel zu wenige haben diesen Film gesehen, hierzulande wurde er unter ferner liefen auf Video ausgewertet. Und unter der Ratlosigkeit, die sich durch die Rezeption des Films – selbst im Rahmen eines eigentlich genreaffinen Publikums wie das des Fantsy Filmfests – zog, tat sich manch Abgrund auf: Langweilig sei der Film, zu retrospektiv, enttäuschend besonders im Schlussakt. Einem Publikum, bei dem reiner, ernst gemeinter Horror womöglich längst der Versicherung gewichen ist, alles gesehen und verstanden zu haben, muss Ti Wests unermessliche Meisterschaft, in der sich allergrößter Respekt vor seinem Sujet und dessen Umsetzung erkennen lässt, vielleicht wirklich rätselhaft erscheinen. Es feiert währenddessen ein den eigenen Postmodernismus bis zur Unkenntlichkeit potenzierendes Horrorkino der Sorte The Cabin in the Woods (dem angeblichen Horror Film to End All Horror Films), obwohl Ti West mit The House of the Devil, diesem anmutigen Gruselkabinett aus Genreklassizismus und Ironieverweigerung, die längst überfällige Rückkehr zum Affekt einläutete.

Und nun ihr: Welche sind eurer Meinung nach die meistunterschätzten Filme der vergangenen Jahre?

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