Einleitung
«La petite mort» ist die französisch-blumige Umschreibung eines sexuellen Höhepunktes und zugleich der Titel eines im Jahr 2014 erschienenen australischen Episodenfilms. Vorgeblich handelt es sich um eine Komödie über Sex. Genauer betrachtet ist der Film aber weder eine reine Komödie. Und Sex spielt auch gar keine so hauptsächliche Rolle. Leider hält der Film nicht ganz, was ich mir versprochen habe, aber das soll hier nicht das Thema sein. Ich missbrauche den Film auch nur als Aufhänger für einige Gedanken zu Beziehungen, denn die im Film vorgestellten Beziehungen sind durchaus eine Betrachtung wert. Dass dies nicht ohne Spoiler möglich ist, versteht sich von selbst.
Maeve & Paul
Maeve & Paul sind das typische Vorzeige-Ehepaar. Sie sind jung, hübsch, wohl einigermassen vermögend und ineinander verliebt. Doch wie sieht es hinter der Fassade aus? Paul lutscht gerne an Maeves Füssen, was diese aber nur mässig toll findet. In der Eingangsszene lässt er es auf ihren Wunsch hin sofort bleiben. Weil danach gleich der «eigentliche Fetisch» angeschnitten wird, ist der Zuschauer geneigt, die Fusslutschgeschichte zu ignorieren. Das ist allerdings ein Fehler, denn diese Sequenz ist wesentlich aussagekräftiger in Bezug auf die Beziehung von Maeve und Paul als das, was danach folgt. Also, behalten wir kurz im Hinterkopf: Paul lutscht gerne an Maeves Füssen, sie mag es nicht so, er lässt es bleiben.
Maeve nimmt – klugerweise nach dem Sex – ihren Mut zusammen und gesteht Paul, dass auch sie eine sagen wir einmal: spezielle Vorliebe oder sexuelle Phantasie hat: Sie will «eine Nummer mit Gewalt». Paul, der nicht der Hellste zu sein scheint, meint, sie wolle bewertet werden («eine Nummer»), und zwar sofort («mit Gewalt»). Naja, ich schätze im englischen Original zündet hier ein Wortspiel. Egal. Nein, Maeve will einmal vergewaltigt werden. Paul ist schockiert. Wiederum ist er aber bereit, sich hinten anzustellen. Er macht sich, nachdem der Groschen endlich gefallen ist, sofort daran, Maeve zu packen, die ihn aber abwehrt und meint, der springende Punkt sei, dass sie überrascht werden müsse. Klingt logisch. Sogar Paul sieht es ein, aber er versteht es nicht wirklich. Frustriert beendet Maeve das Gespräch.
Später gibt sich Paul dann alle Mühe, Maeve «richtig» zu vergewaltigen. Er kauft sich eine Militärjacke, Handschuhe und eine Skimaske mit Löchern für die Augen und den Mund, überfallt Maeve, als diese zuhause eintrifft, und schleppt sie ins Wohnzimmer. Die Nummer geht schief, denn als er Maeve aus Versehen an die Kante des Gartentisches stösst, entschuldigt er sich bei ihr. Wie das Vergewaltiger halt eher nicht so tun würden. Auf seine Frage, wann bzw. woran sie es bemerkt habe, entgegnet sie: «An deinem Körpergeruch». Meines Erachtens ist das blank gelogen.
Anlässlich des Besuchs eines befreundeten Pärchens teilt der Mann Paul mit, dass auch seine Frau (Freundin?) eine solche Phantasie habe. «Aber so läuft das nicht.» Paul ist einigermassen schockiert darüber, dass der andere den Wunsch seiner Partnerin so salopp abtut. Dieser entgegnet aber, dass man nur dann vergewaltigt werde, wenn man nicht wolle; wenn man es aber wolle, könne es keine Vergewaltigung mehr sein. Dem kann Paul natürlich nicht folgen.
Eines muss man Paul lassen: Er legt sich mächtig ins Zeug. Sein zweiter Versuch ist bis ins Detail geplant und würde durchaus funktionieren, wenn Maeve, die meint, nun richtig vergewaltigt zu werden, sich nicht wehren würde. Statt Maeves Befriedigung resultiert ein Schädelbruch für Paul, der es ihm dann auch verunmöglicht, Maeve direkt nach der Vergewaltigung einen Antrag zu machen (auf die Idee eines an eine Vergewaltigung anschliessenden Antrages muss man erstmal kommen). Leider trübt der Schädelbruch Pauls Erinnerung. Er weiss nun nicht, ob er Erfolg hatte. Maeve lügt ihn brandschwarz an und sagt ihm, es habe geklappt und es sei gut gewesen. Was wie ein Happy End anmutet, ist in meinen Augen das Ende der Beziehung von Maeve & Paul.
Maeves Dilemma ist, dass sie nicht bekommen kann, was sie will. Paul kann es ihr nicht geben. Sie will zwar keinen anderen Mann als Paul, aber sie will etwas, das er ihr unmöglich geben kann, denn wie der Kumpel von Paul treffend formuliert hat, kann niemand gewollt vergewaltigt werden. Die gewollte Vergewaltigung als Widerspruch in sich selbst ist das Bild für Maeves Frust: Paul kann ihr nicht geben, was sie will. Die Beziehung ist eigentlich zum Scheitern verurteilt. Was hält sie noch bei ihm? Wahrscheinlich nimmt sie an, dass auch niemand anders ihr das geben kann, was sie wirklich will, und dass ein anderer Mann nicht mit Paul mithalten könnte, denn Paul ist bereit, alles für Maeve zu tun.
Weil Maeve weiss, dass Paul ihr ihren Wunsch nicht erfüllen kann, weil sie erlebt hat, wie weit er gehen würde, und weil sie genau weiss, dass er nicht aufgeben wird, bis ihr Wunsch erfüllt ist, lügt sie ihn an. Sie tut es nicht nur, weil sie ihn nicht verletzen, ihm nicht gestehen will, dass er sie nicht vollends befriedigen kann, sondern auch aus einem Selbstschutz. Sie will nicht immer und immer wieder frustrierende Erfahrungen durchmachen müssen. Also gibt sie auf. Das ist der Untergang der Beziehung.
Paul hat sich schon längst aufgegeben. Was er will, was er gut und richtig findet, hat schon lange keine Bedeutung mehr. Maeve sagt, wo es lang geht. Punkt. Eben dies zeigt die Fusslutschszene so schön. Natürlich muss man in einer tragfähigen, länger dauernden Beziehung Kompromisse eingehen und sich ein Stück weit zurückstellen. Aber man darf sich nicht selbst aufgeben. Der Partner hat sich ja – damals – für einen entschieden, hat etwas entdeckt, das in seinen Augen begehrenswert gewesen ist. Gibt man sich selbst auf, riskiert man, auch diese Eigenschaft(en) aufzugeben und zu verlieren, was einen in den Augen des Partners begehrenswert macht. Nicht von ungefähr dreht sich Maeves Phantasie um Gewalt und Macht. Sie hat Macht über Paul, aber sie will eigentlich gar nicht so viel Macht haben. Sie will, dass er ihr auch mal widerspricht, sich nicht ständig bei ihr entschuldigt, mal sich selbst ist und zu seinen Wünschen steht. All dies hat er schon längst verloren. Sie will es wieder zurück, aber sie wird es nie mehr kriegen. Indem sie Paul am Ende belügt, gibt sie sich selbst ebenfalls auf, nur auf eine andere Weise, als Paul sich aufgegeben hat. Eine solche Beziehung kann nicht funktionieren.
Evie & Dan
Bei Evie & Dan klappt es ebenfalls nicht (mehr), und zwar deutlich offensichtlicher als bei Maeve & Paul. Sie haben so gut wie nie mehr Sex und wenn sie Sex haben, sind sie danach frustriert. Wir lernen sie bei einer Sitzung bei einem Ehetherapeuten kennen. Auf die Frage des Therapeuten, wann sie zum letzten Mal Sex gehabt hätten, liefert Evie die Antwort. Dan weiss es nicht mehr und kann sich nicht einmal erinnern, ob Evies Angabe stimmt.
Der Therapeut schlägt ein Rollenspiel vor. Seiner Meinung nach sind Evie und Dan unfähig zu kommunizieren. Also sollten sie zwei Menschn spielen, die kommunizieren könnten. Das Experiment ist ein voller Erfolg. Evie und Dan scheinen endlich glücklich.
Schon bald zeigt sich allerdings, dass das Glück nur ein scheinbares ist. Dan schöpft nämlich keine Befriedigung aus der Kommunikation und dem anschliessenden Sex mit Evie, sondern aus dem Rollenspiel. Unglücklicherweise hat er Evies Kompliment nach dem ersten Mal, er hätte Schauspieler werden können, missverstanden. Er meint nun tatsächlich, er könne ein Schauspieler werden. Er setzt alles daran, nimmt Theaterunterricht, sieht sich Filme an, kauft Equipment, verfasst ganze Drehbücher und so weiter. Für Evie ist kein Platz. Sie darf bestenfalls eine Statistenrolle einnehmen. Daraus entstehen zwei ganz witzige Situationen: Zuerst spielt Dan einen Arzt, der Evie dann Hepatitis C diagnostiziert; danach ist er ein Knastinsasse, der jemanden sexuell genötigt hat – einen Mann. An sich ist das alles aber gar nicht zum Lachen, denn damit bringt Dan auf den Punkt, dass es ihm nur um sich selbst geht und dass in seinem Leben eigentlich gar kein Platz für Evie ist. Tragisch zugespitzt wird dies in der Sequenz, in der sie ihm von ihrer Schwangerschaft berichten will. Er sieht gerade fern (zu Schulungszwecken) und hat weder Lust noch Zeit, ihr zuzuhören. Widerwillig lässt er die Glotze ausschalten, aber nur für etwas wirklich Wichtiges. Evie will ansetzen und holt etwas aus, indem sie ihm sagt, dass sie ihn liebt. Seine Antwort: «Und dafür muss ich die Glotze ausmachen?!» Den nächsten Satz missversteht er völlig. Sie spricht vom nächsten Level ihrer Beziehung, er vom nächsten Level seiner Schauspielleidenschaft. Danach klingelt es an der Tür. Dan will schauen, wer klingelt, Evie fleht ihn an, nicht zu öffnen. Natürlich öffnet er die Türe trotzdem. Damit besiegelt er das Ende der Beziehung. Dem Besucher, der fragt, ob es gerade unpassend sei, antwortet Dan nicht etwa mit einer Zustimmung, denn ihm liegt eigentlich gar nichts an Evie. Die Antwort auf die Frage des Besuchers hängt davon ab, was dieser zu bieten hat. Schliesslich geht es ja nur um Dan.
Aus meiner Sicht etwas zu sehr zugespitzt und ins Lächerliche abdriftend ist die letzte Sequenz, in der Dan Evie unter Tränen bittet, bei ihm zu bleiben, nur um gleich darauf zu fluchen, weil ihm etwas Tigerbalsam ins Auge gekommen ist. Dan ist es völlig egal, ob Evie bleibt oder geht, denn er interessiert sich nur für einen Menschen – für Dan. Noch einmal kommuniziert er klar. Seine Aussage: «Ich bin fertig mit Dan.» Gemeint ist damit, dass er fertig mit dem Dan ist, der sich für die Menschen um ihn herum, insbesondere für Evie, interessiert hat. Er hat sich selbst gefunden, den «richtigen» Dan, den Egoisten. Für Evie ist kein Platz mehr.
Damit stellt Dan also das bare Gegenteil von Paul dar. Eine Beziehung funktioniert nicht, wenn man sich nur um sich selbst kreist, aber sie funktioniert – trotz des anscheinenden Happy Ends – auch nicht, wenn man sich für den andern völlig aufgibt.
Rowena & Richard
Rowena & Richard sind eine Zweckgemeinschaft. Sie streben gemeinsam ein Ziel an, nämlich eine erfolgreiche Fortpflanzung. Ihr Sexleben dreht sich wie der Rest ihrer Beziehung nur um dieses eine Ziel. Immer um die Zeit ihres Eisprungs herum haben die beiden zweimal täglich Sex. Danach lagert Rowena jeweils ihr Becken hoch. Auf die Frage ihrer Frauenärztin, ob sie jeweils zum Höhepunkt komme, antwortet Rowena – wenig überraschend –, sie habe ihren letzten Orgasmus vor der Hochzeit gehabt.
Richard muss seine Lust, sein Verlangen nach «echtem», nicht zielführenden Sex mit Internetpornos befriedigen. Die Eröffnungssequenz der Episode um Rowena und Richard zeigt dies auf, wobei sie sich allerdings haarscharf an der Grenze zur Lächerlichkeit bewegt: Rowena kommt nach Hause, erwischt Richard vor dem PC, aber Richard fühlt sich nicht ertappt, sondern fordert Rowena im Gegenteil auf, schnell herzukommen, weil er gleich soweit ist. Sie setzt sich angezogen (Hose etwas runtergezogen) auf ihn, er kommt und sie weist ihn darauf hin, dass sie ja gar nicht ihren Eisprung habe. Er meint dann, dass es aber schade gewesen wäre, «es» zu verschwenden. Danach lagert sie ihr Becken hoch.
Wie der Sex für gewöhnlich stattfindet, wird kurz gezeigt: Rowena liegt teilnahmslos und ins Leere blickend auf dem Rücken, Richard pumpt mechanisch, lächerliche Geräusche von sich gebend. Man könnte nun meinen Rowena sei sexuell frustriert, aber in Tat und Wahrheit sind sie beide sexuell frustriert. Eine Beziehung, die nur einem anderen Zweck als dem, eine Beziehung zu führen, dient, ist tot. Sex nicht um des Sex, sondern ausschliesslich um der Fortpflanzung willen ist ebenfalls tot. Beides geht Hand in Hand. Die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs ist kein Indikator für dessen Qualität oder für den Stand der Beziehung. Kein anderes Paar im Film hat so oft Sex wie Rowena und Richard, aber keine andere Beziehung ist so total, von beiden Seiten her tot.
Unerwartet entdeckt Rowena dann aber ihre Lust. Richard erfährt, dass sein Vater überraschend gestorben ist, und bricht in Tränen aus. Rowena hat ihn noch nie weinen gesehen. Seine Tränen machen sie tierisch an und sie vernascht ihn auf der Stelle – nicht teilnahmslos auf dem Rücken liegend, sondern ihn wild-ekstatisch reitend. Plötzlich ist ihre Beziehung «echt» geworden. Sie dient nicht mehr hauptsächlich einem anderen Zweck, sondern besteht um ihrer selbst willen. Richard hat sich in einem verletzlichen Moment emotional geöffnet und Rowena hat sich gewissermassen in ihn verliebt. Sie hat an nichts anderes als an ihn denken können und sie hat sich ihm öffnen und sich mit ihm vereinen wollen.
Leider ist Rowena unfähig, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. So sehr sie es geniesst, dass sich Richard ihr emotional geöffnet hat, so wenig ist sie in der Lage, sich ebenfalls zu öffnen. Kate Box, die Rowena spielt, ist eine perfekte Besetzung, denn ihr Gesicht wirkt fast immer wie eine Maske, was charakteristisch für das Seelenleben von Rowena ist. Einmal ist sie kurz davor, sich ihm zu offenbaren, ihm zu sagen, dass sie darauf abfährt, wenn er weint. Natürlich weiss sie verstandesmässig, dass dies krank ist, und sie tut sich mit ihrem Geständnis entsprechend schwer. Dummerweise beginnt sie damit, Richard zu sagen, sie sei ernsthaft krank. Richard, mittlerweile nur noch eine Art emotionales Wrack, befürchtet, sie nun auch noch zu verlieren – und bricht in Tränen aus. Rowena erliegt der Versuchung und schiebt ihr Geständnis auf, lügt Richard an, um noch weitere Tränen aus ihm herauszukitzeln und sich daran aufzugeilen.
Dummerweise beschreitet Rowena damit einen Teufelskreis. So, wie sie davor Sperma aus Richard «gepresst» hat, «presst» sie nun Tränen aus ihm heraus. Sie reiht eine Lüge an die andere, um ihn immer und immer wieder zum Weinen zu bringen und sich daran aufzugeilen. So pervertiert sie die Beziehung, die mit der Verletzlichkeit von Richard eine neue Chance erhalten hatte, wieder in eine Zweckgemeinschaft. Nun geht es nicht mehr um die Fortpflanzung, sondern um die eigene Lust. Schamlos nutzt sie Richard emotional aus. Am Ende setzt sie ihren Lügengeschichten eine Lüge auf, von der sie nicht mehr zurück kann. Sie erreicht den point of no return und trotz der vermeintlichen, vorläufigen Versöhnung ist völlig klar, dass die Beziehung bald auseinander brechen wird.
Die Beziehung von Rowena und Richard zeigt also gleich zwei Arten einer gestörten Beziehung auf: Die einem Fremdzweck dienende Zweckgemeinschaft, die niemanden erfüllen kann und das nur einseitige Verlangen respektive die einseitige Beziehung. Wenn nicht beide Partner den jeweils andern Partner als solchen wollen, klappt es nicht. Die Beziehung von Rowena und Richard war vorher tot und sie war nachher tot.
Maureen & Phil
Phil ist ein Versager, wie er im Buche steht. Alan Dukes ist perfekt für die Rolle. Er sieht so was von fertig aus, unglaublich. Phil kann nicht schlafen, er wird nicht befördert, obwohl ihm eine Beförderung versprochen worden ist, seine Frau schreit ihn an und flippt bei jeder Gelegenheit aus. Wie ein Schlafwandler bewegt er sich Tag und Nacht durch einen Nebel aus Scheisse.
Äusserlich ist Phil alles andere als anziehend. Er sieht echt fertig aus, er stottert, er spricht leise. Innerlich ist er aber hochsensibel. Er könnte seiner Frau die ganze Nacht hindurch über ihr Gesicht streichen, sich mit ihr einen Film ansehen, ihr Kleider kaufen, mit ihr kuscheln. Wenn er sie schlafen sieht, kann er nicht anders, als sie anzustarren und sie zu berühren. Sie zieht ihn magisch an. Maureen ist das genaue Gegenteil: Sie ist schlank, sieht viel jünger aus als Phil, ist gepflegt und hübsch, aber sie flucht und schreit und scheint Phil richtiggehend zu hassen. Was er auch sagt und tut, ist verkehrt. Er kann nichts richtig machen.
Eines Morgens flirtet Maureen mit Phil. Sie bittet ihn, nicht zu spät nach Hause zu kommen. Er fragt, ob noch was anstehe, und sie antwortet, dass dies der Fall sein könnte. Phil kann sein Glück kaum fassen: Für einmal wird er nicht angebrüllt, sondern angemacht! Erfreut bewegt er sich auf Maureen zu und imitiert ihren flirtenden Ton, indem er spielerisch nachfragt, woran sie denn denke. Doch seine Nachfrage, sein Mitmachen kommt nicht gut an. Maureen brüllt ihn an. Natürlich kommt Phil an jenem Abend erst viel zu spät nach Hause, was zur Folge hat, dass er nochmals angebrüllt wird.
Der dauermüde Phil erhält von seinem Vorgesetzten Schlaftabletten, die illegal sind und den, der sie einnimmt, locker für sechs bis acht Stunden aushebeln. Aus Versehen trinkt Maureen den Tee, den Phil sich zubereitet hat. Phil sieht sich nun mit einem Traum konfrontiert: Endlich hat er seine hübsche Frau für sich allein, endlich wird sie ihn nicht mehr ankeifen, endlich kann er richtige Gemeinschaft mit ihr haben. Er deckt sie zu, er streicht ihr übers Gesicht, er sieht sie an. Später kauft er ihr Kleider, sieht sich mit ihr ihren Hochzeitsvideo nochmals an usw. Man sieht nie, ob Phil mit Maureen Sex hat und ich denke auch nicht, dass dies der Fall ist.
Maureen stolpert irgendwann über die auffälligen Ausgaben für Kleidung und Make up etc. Ihre Vermutung: Phil hat eine andere Frau, eine Affäre. Phil, der sich scheut, Maureen seine verletzliche Seite zu offenbaren, lügt und sagt, er habe eine andere Frau – eine, die ihn nicht anschreie und ihm nicht den Eindruck vermittle, er sei das Einzige, was ihrem Glück im Wege stehe. Ich hätte für Phil weinen können. Maureen kommt der Einwand natürlich nur recht: Sie keift Phil an und wirft ihn raus. Für Maureen ist die Beziehung wohl schon längst passé gewesen. Ich frage mich, was sie noch bei Phil gehalten hat. Vielleicht waren es die beiden Söhne.
Phil wird mit Gewalt aus seinem gelebten Traum gerissen. Ob er wohl je realisiert hätte, dass das, was er mit der schlafenden Maureen gehabt hat, keine Beziehung gewesen ist? Natürlich hat sie ihn im Schlaf nicht angekeift und Zeit mit ihm verbracht. Aber das ist keine Beziehung gewesen, sondern nur ein passives Mitmachen. Auf Dauer hätte dies Phil niemals glücklich machen können. Es mag zwar Menschen geben, die sich so etwas wie eine möglichst lebensechte Puppe als Partner wünschen, die einfach alles mitmacht und mit allem (vermeintlich) einverstanden ist. Das ist aber keine Beziehung.
Steve
Steve pflegt keine Beziehung. Er ist neu zugezogen und stattet nun (unter anderem) den oben erwähnten Pärchen reihum einen kleinen Besuch ab. Weil die Art und Weise, wie er Beziehungen zu seinen Nachbarn knüpft, eine Betrachtung wert ist, reihe ich ihn in diese Abfolge von gestörten Beziehungen ein.
Steve ist ein verurteilter Sexualstraftäter. Offenbar ist er gesetzlich verpflichtet, dies seinen Nachbarn mitzuteilen. Nun ist dies ja nicht gerade eine Botschaft, die man am liebsten in die Welt heraus posaunen will. Also hat sich Steve seine Gedanken gemacht, wie er seiner Pflicht am besten oder am schonendsten nachkommen könnte. Sein Einfall ist meines Erachtens genial. Er bäckt – mit viel Liebe zum Detail – Süssigkeiten, die an kleine Negerlein erinnern und wohl genau aus diesem Grund schon längst nicht mehr verkauft werden. Wir kaufen heute ja auch keine Negerküsse mehr, obwohl es die Schaumküsse nach wie vor gibt. Jedenfalls kennen alle Leute diese Süssigkeiten noch von früher. Der Anblick löst bei den meisten Freude aus und bewegt sie dazu, eine kleine Diskussion zu starten: «Ach, wie früher! Wo haben Sie die gekauft? Die kann man doch gar nicht mehr kaufen. Ja, stimmt schon, ist schon ein wenig bedenklich» etc. pp. Damit hat Steve die Leute schon auf ihrer Seite und den Anker für das «Hauptthema» der Begegnung schon gesetzt. Er kann seiner Pflicht dann noch so schnell nebenbei nachkommen. Zudem holt er die Leute zu sich ins Boot: Wenn sie die Süssigkeiten annehmen, tun sie etwas, das von der Gesellschaft als falsch angesehen wird, denn wäre es okay, diese offenbar allseits beliebten Süssigkeiten zu verkaufen, würden sie nach wie vor verkauft. Die Leute tun also etwas Falsches, wenn sie die Süssigkeiten annehmen. Natürlich können sie dann nicht mehr gleich mit dem Finger auf Steve zeigen, wie wenn sie ihre eigene vermeintliche Rechtschaffenheit nicht beiseite gesetzt hätten. Perfid.
Bei Maeve hat der freundliche, harmlos aussehende Steve vollen Erfolg. Sie scheint seine Information gar nicht richtig zu bemerken, weil sie sich so über die Süssigkeiten freut. Ich hatte kurz den Eindruck, sie fände es interessant, nun einen verurteilten Sexualstraftäter in der Nachbarschaft zu haben, weil sie ja vergewaltigt werden will, aber meine nun, dass dieser Eindruck getäuscht hat. Sie will ja nicht wirklich vergewaltigt werden, sondern etwas von Paul kriegen, das dieser ihr nicht geben kann. Das zeigt sich ja auch daran, dass sie sich richtig wehrt, als sie meint, wirklich vergewaltigt zu werden.
Bei Dan zieht die Nummer dagegen nicht, denn Dan befindet sich gerade in einer kritischen Situation mit Evie. Sie hatte ihn ja gebeten, die Türe nicht zu öffnen, und ihm muss irgendwo bewusst gewesen sein, dass er gerade eben die Beziehung zu Evie beendet hatte. Die Süssigkeiten interessieren Dan nicht die Bohne, was in dieser Situation verständlich ist. Steves Plan ist also in die Hose gegangen. Dan fragt, ob noch was sei, und Steve muss mit der ungeschminkten Wahrheit herausrücken. Allerdings interessiert auch das Dan nicht die Bohne und Steve kann «unbeschadet» weiter gehen.
Bei Rowena und Richard wird Steve gar nicht erst die Möglichkeit gegeben, etwas zu sagen. Beim ersten Mal schreit Rowena Richard gerade an, sie habe seinen Hund nicht getötet; beim zweiten Mal schreit sie ihn an, sie habe seinen Vater nicht getötet. Beide Male beschränkt sich Steve darauf zu sagen, er werde in einem passenderen Moment wieder kommen. Rowena und Richard interessieren sich überhaupt nicht dafür. Sie ignorieren Steve.
Die anderen – ausser Monica (siehe unten) – lernen Steve gar nicht erst kennen. So kommt Steve zwar ungeschoren in dem Sinne davon, dass er sich nichts anhören muss, aber es gelingt ihm auch nicht, eine richtige Beziehung zu seinen Nachbarn zu knüpfen. Dies ist der Preis für Unehrlichkeit. Steve ist zwar nicht im eigentlichen Sinn unehrlich, denn er lügt nicht und verschweigt die Wahrheit nicht. Er verpackt die Wahrheit aber so, dass sie ignoriert wird, was gleichbedeutend mit einem Verschweigen ist. Wir können uns andern nur von unserer besten Seite präsentieren, aber wenn wir nicht völlig offen und ehrlich zueinander sind, wird keine richtige Beziehung entstehen.
Monica
Monica ist hörbehindert. Sie benötigt ein Hörgerät, aber ihre Hörfähigkeit scheint in letzter Zeit abgenommen zu haben. Oft pfeift das Gerät, wohl, weil sie es in einer hohen Empfindlichkeitsstufe betreiben muss. Dies darf aber niemand erfahren, denn sie könnte dadurch ihre Arbeitsstelle verlieren. Da sich Monica nicht in einer Beziehung befindet, ist die Arbeit alles, was sie hat. Sie ist eine Art Dolmetscherin: Taube können sie via Videotelefonie anrufen und einen «richtigen» Anruf weiterleiten lassen. Monica ruft also dann die eigentliche Zielperson an und übersetzt zwischen dieser (Audio) und dem Anrufer (Video; Gebärdensprache).
Eines Abends ruft ein junger Mann an. Er hat die Nummer einer Telefonsexlinie gewählt, sodass Monica zuerst mit einer Vermittlerin und dann mit einer Frau mittleren Alters verbunden wird, die am Telefon Sexgeschichten erzählt. Monica will nicht so wirklich mitmachen, lässt sich aber vom jungen Mann und der Telefonsexarbeiterin, die beide deutlich ihre Wünsche äussern, dazu überreden, mitzumachen. Das Resultat ist eine urkomische Szene, die in der Filmlandschaft ihresgleichen sucht. Monica kann sich natürlich nicht nur auf das Übersetzen beschränken, denn ihr ist das alles an sich so zuwider und so unverständlich, dass sie immer wieder kommentiert. So muss sie beispielsweise für den jungen Mann übersetzen, dass er der Telefonsexarbeiterin seinen Schwanz in den Arsch stecken will. Diese fragt dann zurück, ob sie ihn nun in den Mund nehmen soll. Monica fragt entgeistert: «Aber er war doch gerade noch in Ihrem Arsch?!» Das ist der Sexarbeiterin, die das ja nicht in echt machen muss, völlig egal, weshalb Monica ihre Frage dann schliesslich weiterleitet. Der junge Mann scheint zu sagen, dass das nicht gehe, weil er ihn ja gerade noch in ihrem Arsch hatte, und Monica und der Mann brechen in schallendes Gelächter aus. Ach, die Szene muss man selbst gesehen haben.
Die Notwendigkeit des Dolmetschens erfordert eine klare Kommunikation. Der junge Mann muss Monica ganz genau erklären, was er will, weil sie ansonsten seine Erklärung nicht übersetzen kann. Er ist der Einzige im ganzen Film, der weiss, dass er klar mitteilen muss, was er will, und er ist der Einzige, der sich diszipliniert und seine Wünschen offen und ehrlich zum Ausdruck bringt. Der Umstand, dass ausgerechnet jemand, der kommunikativ behindert zu sein scheint, als Einziger in der Lage ist, richtig zu kommunizieren, ist sowohl komisch als auch tragisch. Ungeachtet des Umstandes, dass sie eine Schweinerei nach der andern übersetzen muss, erhält Monica einen kleinen Einblick in das Herz des jungen Mannes und sie scheint sich zu verlieben. Die Diskussion zwischen den beiden, nachdem die Verbindung zur Sexarbeiterin gekappt ist, ist nicht verständlich, weil sie in Gebärdensprache stattfindet, aber der Zuschauer erkennt, dass sie echt und intensiv ist, dass sich hier zwei Menschen gefunden haben und dass die zwei Menschen in der Lage sind, echt miteinander zu kommunizieren. Blendet man die letzte Szene, in der verschiedene Handlungsstränge zusammengeführt werden, aus, bietet diese Episode ein versöhnliches Happy End mit einer Beziehung, die gerade ensteht, aber lebt und funktioniert. Der Schlüssel: Offene, ehrliche, gegenseitige Kommunikation.