Selten wurde ein neues Werk so sehnsüchtig erwartet wie The Tree of Life von Terrence Malick, schon allein, weil der Regisseur so wenig Filme dreht. Gestern war es nun soweit, da wurde The Tree of Life beim Festival Cannes gezeigt und raubte einigen Kritikern den Atem. Andere zeigten sich weniger begeistert von dem komplexen Bilderrausch. Die einen haben ein wahnsinniges Meisterwerk gesehen, die anderen eine gescheiterte Schöpfungsgeschichte.
Jan Schulz-Ojala vom Tagesspiegel hat “nahezu eine Dreiviertelstunde von ohrenbetäubendem Bombasto-Orchester-Score unterlegte Planeten-Panoramen in IMAX-Überwältigungsästhetik, die wahrscheinlich in 3-D angemessener zur Geltung gekommen wären” gesehen. “Einziges Gedankengeländer im Stakkato der Schnitte: ein Off-Kommentar, der eingangs die Begriffe ‘Natur’ und ‘Gnade’ intoniert. Im Verlauf dessen, was Geschehen zu benennen die Feder sich sträubt, lässt sich vorsichtig vermuten, dass damit ein männliches und ein weibliches Prinzip gemeint sein könnten.” Eine Suggestionskraft entwickele The Tree of Life stellenweise, “als unsortierte Erinnerungsschleifen eines lebenslang Beschädigten, als obsessiv nachzuträumende Traumata, die kein späteres Glück auszuwaschen vermag. Doch da ihm auch dieses Bildermaterial immer wieder zu zerfallen droht, sucht Malick sein Heil in purer Esoterik.”
Auf die lange Produktionszeit verweist Daniel Kothenschulte in der “Berliner Zeitung, kommt aber zum Schluss ”die 140 Minuten, die nun gezeigt wurden, erscheinen auf tragische Weise überfertig. In einer spektakulären Ellipse seiner Karriere hat Malick doch noch seine Schöpfungsgeschichte gedreht. Nur wirkt sie nun, da sie nicht mehr ein Schlachtengemälde rahmt sondern nur ein winziges Genrebild um eine trauernde Mutter, die einen Sohn im Krieg verliert, grotesk überproportioniert."
Doch nicht alle Kritiker ließ The Tree of Life ratlos oder enttäuscht zurück. “wundersames, mitreißendes und bildgewaltiges Kino” hat Andreas Borcholte gesehen. “Malicks etwas über zwei Stunden langer Film beschäftigt sich mit nichts Geringerem als einigen der ältesten Fragen der Menschheit: Wo komme ich her? Wie wurde ich zu dem, was ich bin? Und wohin gehe ich, wenn ich sterbe? So viel Größenwahn, noch dazu gepaart mit urgewaltigen Filmsequenzen von der Entstehung des Universums, […] einer poetischen Komposition aus klassischer Musik und farbprallen Bildern, wie man sie zuletzt in Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum gesehen hat.” So schreibt Borcholte weiter: “Malick mag größenwahnsinnig sein, in seinem Anspruch, eine Erklärung für das Geworfensein des Menschen zu finden, aber so vermessen, tatsächlich eine Antwort zu geben, ist er nicht.”
Eine “überwältigende Kinoerfahrung” hat Verena Lueken bei Ansicht von The Tree of Life gemacht, denn “so braucht man nicht zu fragen, was der Film bedeutet, eine Frage, der Malick auch in Cannes wieder auswich, indem er zur Pressekonferenz nicht erschien. Es geht nicht ums Bedeuten hier (so wenig wie in Malicks früheren Filmen), sondern ums Sehen. […] The Tree of Life ist der einzige amerikanische Beitrag im Wettbewerbsprogramm. Nach der Pressevorführung am Montagmorgen wurde verhalten gebuht. Das ist hier über die Jahre schon schlechteren Filmen passiert.”
In seiner Fünf Sterne-Kritik meint Peter Bradshaw abschließend, der Film sei nicht für jederman geeignet, aber “dies sei visionäres Kino von einer unverhohlenen Größenordnung: Kino, das sich hohe Ziele steckt. Malick lässt eine entsetzlich große Zahl von Filmemachern im Vergleich schüchtern und unbedeutend aussehen.”
Einen täglich aktualisierten Pressespiegel zum Filmfestival in Cannes findet ihr bei film-zeit.de.