Ich habe in letzter Zeit einige Listen veröffentlicht, die sich vorwiegend mit Musik beschäftigen, in erster Linie die der 90er, 00er und 10er Jahre, da das eben die Zeit ist, mit der ich mich musikalisch am Meisten identifizieren kann, da es entweder die Zeit ist, in die ich geboren wurde und die ich in meiner Kindheit und Jugend (oder jetzt meinem noch sehr jungen Erwachsenenalter) eben gehört habe und mich geprägt hat, sowie im Fall der 90er die, die noch am Meisten nachgehallt hat.
Bei den Listen habe ich mich besonders auf die Popkultur konzentriert, denn ich finde, dass diese im 21. Jahrhundert bereits so freaky, ausgeflippt und künstlerisch geworden ist, dass sie ohnehin keine Wünsche mehr offen lässt, oder sagen wir es so: mich am Meisten anspricht.
Wenngleich meine Artikel allgemein gut wegkamen, haben sich einige Leute über die Platzierung der Emo-Pop-Band Tokio Hotel in all meinen Best of-Artikeln über das 21. Jahrhundert echauffiert. Zur Erinnerung: in meinem Ranking der 20 besten Popkünstler des 21. Jahrhunderts waren sie Platz 5, ihre Werke "Humanoid" und "Scream" das neunundreißigst, bzw. siebzehnt bestplatzierte Album meiner Liste zu meinen 40 liebsten Musikalben der letzten 16 Jahre (mittlerweile 17). Dieser Artikel hier soll sich nun ausführlicher damit beschäftigen, warum ich dieser Band so zugetan bin. Dies ist keine Rechtfertigung, sondern eine Erläuterung.
Also, als Jahrgang '96 habe ich freilich die komplette Karriere der 4 Jungs von Anfang an mitbekommen und -verfolgt. 9 Jahre war ich alt, als ich zum ersten Mal die schwarzen Haare von Sänger Bill Kaulitz auf VIVA2 gesehen habe und die Klänge seiner sich damals noch vor dem Stimmbruch befindlichen Stimme gelauscht habe. 14 Jahre dürfte er damals gewesen sein. Und ich fand die Musik scheußlich. Ich weiß nicht genau, woran es lag. Es war nicht das feminine Auftreten oder die Zugehörigkeit zum Emo-Lifestyle, für die die Band von vielen (vorwiegend männlichen) Kindern oft als uncool abgestempelt wurde. Das hätte einen Buben, der von Madonna und Kylie bishin zu jeder gecasteten Pseudo-Gothic-Band alles mögliche gehört hat, nicht abgehalten. Außerdem mochte ich den damals brandaktuellen Emo-Stil. Obwohl ich mich selbst nicht als Teil dieser Subkultur ansehe, habe ich doch zumindest frisurentechnisch einige Stilelemente übernommen, wie schwarzgefärbte Haare, Augen verdeckender Schnitt, bunte (zumeist pinke und weiße) Strähnen und hinten aufgestellte Haarspray-Spitzen. Eigentlich hätte ich die Band also ziemlich mögen müssen. Ich glaube im Nachhinein, ich hatte meine Probleme mit der Stimme des Frontmanns in Kombination damit, dass ihre ersten beiden Hitsingles damals überall rauf und runter gespielt wurden, obwohl ich sie nicht mochte. Weiters sollten die deutschen Plattenfirmem bald entdecken, dass Tokio Hotel den Weg geebnet hatten für gecastete und maschinell hergestellte Mitläufer, etwa Cinema Bizarre, LaFee oder die Killerpilze. Die ich damals, zugegebenermaßen, alle mochte. Heute finde ich diese in den meisten Fällen zwischen mies und durchschnittlich. Generell bin ich im Alter von 19 Jahren aber kein Fan mehr von Fließbandproduktionen aus dem deutschsprachigen Raum. Sie schaffen es eigentlich nie, die hochwertige Produktion und den unverwechselbaren Stil ihrer amerikanischen Pendante hinzubekommen.
Die Popularitätswelle von Tokio Hotel sollte vorerst mal 4 weitere Jahre anhalten, und ich würde die Band gekonnt ignorieren, obwohl sie hierzulande in dieser Zeit DIE Band schlechthin waren, die Massenerfolge feierten, obwohl sie niemand hörte. Ich wurde dann mal gefragt, ob ich die neue Single "The World Behind My Wall" kenne, und in der Zeit, die inzwischen vergangen war, habe ich Musik auch ganz anders wahrzunehmen begonnen. Ich gab allem immer eine Chance. Und ich war erstaunt, wie gut mir das Lied gefällt. Nicht nur, dass Bills Gesang um ein Vielfaches besser geworden ist, um nicht zusagen, dass er sie perfekt einsetzt und Schluchzer und Krächzer absolut genial platziert, sodass es zwar einen unverkennbaren Touch gibt, die Melodie aber dennoch makellos gesungen wird, sondern auch, dass ihnen die englischen Texte gut standen. In erster Linie wegen dem Akzent. Und ab da begann der Prozess, in dem ich mich mit der Band immer mehr anfreundete bis sie für meine Wenigkeit schließlich zu einem Glanzstück des 21. Jahrhunderts avancierten.
Wie stehe ich heute zu Tokio Hotel?
Ich hab mir die Bezeichnung "Popkünstler" gut überlegt, als ich meine Liste anfertigte. Wichtig waren mir dabei ein unverwechselbarer Wiedererkennungswert der Musik, Beteiligung am kreativen Entstehungsprozess, sowie Begrenzung auf die Massentauglichkeit. Intention war es, aufzuzeigen, dass Popmusik auch vielseitig und künstlerisch sein kann und dies vor Allem seit Anbruch dieses Jahrhunderts auch zunehmend ist. Tokio Hotel haben in Deutschland und Österreich eine Welle an Emos hervorgerufen, die besonders im letztem Jahrzehnt die Großstädte füllten und der Jugend, wenngleich mit gemischten Gefühlen wahrgenommen, ein geschlechtsneutraleres und sensibleres/gefühlsbetonteres Bild gaben. Tokio Hotel gehören zu den erfolgreichsten deutschen Bands aller Zeiten, und hatten eine Vielzahl an Hits und mehrere äußerst erfolgreiche Alben. Sie gehören zu den wenigen deutschen Musikern, die man international kennt und mehrere weltweite Erfolge feiern konnten. Auch in den USA, wo man sie gerne als jüngere Variante von My Chemical Romance wahrnimmt. Naja, ein Bisschen anders finde ich sie schon. Ihr Comebackalbum "Kings of Suburbia" aus 2014 nach einer FREIWILLIGEN Schaffenspause von 5 Jahren schoss rund um den Erdball in die Charts. Zwar nicht so erfolgreich wie die Vorgänger, aber wesentlich wirkungsvoller als das Durchschnittscomeback einer ehemaligen Teenagertruppe. Wie oft haben die Backstreet Boys nochmal eine Wiederbelebung ihrer Karriere versucht?
Tokio Hotel als irrelevantes One-Hit-Wonder abzustempeln wäre also vollkommen verkehrt.
Für mich sind Tokio Hotel eine absolut perfekte Verkörperung dessen, was die Jugend der '00er Jahre fühlte und ausmachte. Dass Tokio Hotel einen derartig riesigen Erfolg hatten, lag nicht nur am Aussehen des Frontmannes - das würde nur den Anteil von kreischenden Tweengirls unter den Fans erklären, nicht aber jene der Ü-20er, die auch heute noch zu Hauf Tokio Hotel-Lieder in amerikanischen Bestenlisten des letzten Jahrzehnts wählen - sondern vor Allem daran, dass sie genau das darstellten, was eine Vielzahl an 12- bis 20-jährigen beschäftigte. Bevor Tokio Hotel kamen, hörten die männlichen Jugendlichen vorwiegend maskulin geprägten und (oftmals pseudo-) "harten" Gangsterrap, und die Mädchen gecastete Boybands oder Girlgroups, die die deutsche Medienlandschaft prägten. Der Massenerfolg von Tokio Hotel gab eine mehr als willkommene Alternative für "Andersartige". Der E-Gitarren lastige Sound war etwas rauer, aber immer noch leicht zugänglich, und die Gruppe war absolut nicht dem vorherrschenden Bild eines Mannes entsprechend. Das ist heute, in den 2010er Jahren, durch die Hipsters und ihrem sich mit Genre- und Rollenklischees spielenden Stil schon lange keine große Sache mehr, damals aber durchaus ein großer Schritt. Außerdem hat ihr Siegeszug den deutschen Studios und Labels gezeigt, dass es einen großen Markt für etwas punkigere und rockorientierte Mädchen und etwas düsterere und androgyne Jungs gab.
So viel also zum Auftreten und der Wichtigkeit der Band. Nun zum Wichtigsten: der Musik.
Tokio Hotel sind keine Emocore, sondern eine Emopop-Band. Sie vermischen klassische, einfache und eingängige Melodien und Strukturen mit Stilelementen, die man aus besagtem Rockgenre kennt: Dominanz von E-Gitarre und Schlagzeug bei gleichzeitigem Fokus auf weiche und gefühlvolle Arrangements. Das zieht sich durch die Alben von "Schrei" bis "Humanoid", wobei dieser Stil auf letzterem noch durch gelegentliche Synthesizer ergänzt wurde.
Und jetzt kommt der Punkt, an dem man besonders aufpassen und differenzieren muss: die Texte. Es macht nämlich einen immensen Unterschied, von wem diese stammen. Deshalb hier eine recht detaillierte Erläuterung der Musik. Ihr Debutalbum, "Schrei", wurde ohne Zutun der Band geschrieben und komponiert. Die Band spielte die Instrumente bzw. sang, und das war es eigentlich auch schon. Fast schon schmerzhaft versuchte man, der Band ein Teenager-Rebellen-Image zu geben, welches teilweise grotesk überzogen war. "Durch den Monsun" und "Rette mich" besitzen einen guten Text, der eigentlich auch von späteren Werken stammen könnte, aber alleine Lieder wie "Schrei" oder das doofe "Jung und nicht mehr jugendfrei" wirken so aufgesetzt, dass man mit etwas Erfahrung leicht durchschauen kann, dass es Texte sind, die widerspiegeln, was Ü40er denken, das Jugendliche hören wollen.
Nach 2 Jahren sollte der Nachfolger "Zimmer 483" folgen und es ist einfach kein Vergleich. Nicht nur ist Bills Post-Stimmbruch-Singorgan nun um Milliarden von Welten besser, die selbstgeschriebenen Lyrics von Bill und Tom Kaulitz sind qualitativ überlegen und wesentlich authentischer. Man muss aber auch sagen, pessimistischer. "Übers Ende der Welt" wäre hier das Pendant zu "Schrei", da es eine antreibende, stärkende Hymne symbolisiert, verwendet aber eine deutlich ominösere Bildsprache: hier geht es nicht ums Rebellieren gegen die, die einem ihren Willen aufzwingen wollen, sondern darum, immer vorwärts zu laufen, da die Welt, die man hinter sich zurücklasst, in sich zusammenfällt. "Spring nicht" und "Vergessene Kinder" finde ich besonders interessant. Es sind direkte Lieder um Themen von Suizidgedanken und Vernachlässigung - und genau dieser Umstand reflektiert den Zeitgeist am Besten wieder. Es war eine Zeit, als viele Jugendliche meinten, man höre ihren Problemen nicht zu oder würde sie nicht verstehen. Und ja, viele hatten Depressionen und fanden in der Idee Selbstmord (selten wirklichen Suizid) den letzten Hilfeschrei, gehört zu werden. Klar sind diese Lieder in keinster Weise subtil, sondern neigen zur Melodramatik. Sie wirken dabei aber authentisch und impulsiv. Besonders gefällt mir aber, dass sie doch Trost spenden. Sie sagen: "Seht ihr? Es geht nicht nur euch so." In der Musik von Tokio Hotel konnte der ein oder andere seinerzeit ein lauschendes Ohr finden.
Auf "Humanoid" sollten sie zwar weitgehend ihre Themen von Schmerz oder Aufbegehren beibehalten, diese aber deutlich abstrakter und metaphorischer gestalten. Die 2 Jahre zwischen "Zimmer 483" und "Humanoid" zeigen durchaus eine Entwicklung und ein Hang dazu, ein Bisschen mehr zu wagen. Bill und Tom sollten neben dem Texte schreiben und gelegentlichen Komponieren nun außerdem noch stark an der Produktion beteiligt sein. "Lass uns laufen" (die deutsche Version des oben erwähnten "The World Behind My Wall"), "Für immer jetzt" und "Kampf der Liebe" sind reifere Versionen ihrer früheren Themen, "Sonnensystem" stellt eine futuristisch verzerrte Version ihres Konzepts von "Übers Ende der Welt" dar.
Für den internationalen Markt erschien 2007 das Album "Scream", auf dem 4 Songs von "Schrei" und 8 Songs von "Zimmer 483" auf Englisch gesungen wurden. Besonders bei der neu eingespielten Version von "Schrei" hört man den Unterschied gut.
Da "Humanoid" bereits nach dem internationalen Duchbruch erschien, wurde das Album gleich in 2 Sprachen veröffentlicht und weltweit gleichzeitig veröffentlicht. Für diese Versionen haben Bill und Tom die Texte nicht selbst in Englische übersetzt, wohl, da sie die Sprache noch nicht einwandfrei beherrschten, man hielt ich aber äußerst genau an die deutschen Originale. Mir gefällt der englische Gesang allerdings noch einen Tick besser. Im.US-amerikanischen Raum erhielt der Überraschungserfolg "Scream" durchwegs eher positive Kritiken (vom Rolling Stone gab es 3 einhalb von vier Sternen. Also gleichviel wie die Slim Shady LP und einen halben Stern mehr als Nevermind, in der damaligen Erstreview), während "Humanoid" oft als enttäuschender Nachfolger bewertet wurde. Warum auch immer.
Nachdem ihnen der Druck der Öffentlichkeit und die Popularität zu viel wurden, wanderte die Band 2010 nach L. A. aus und beendete vorerst ihre Karriere. Erst 2014 meldeten sie sich überraschend zurück und brachten ein neues Album auf den Markt, welches sich stilistisch am Electronica orientierte und auch inhaltlich andere Strukturen aufwies. Außerdem ist "Kings of Suburbia" weltweit nur auf Englisch erschienen - diesmal aber von den Kaulitz-Zwillinge verfasst. Generell entsteht hier der Eindruck, Tokio Hotel würde nur mehr aus den beiden Brüdern bestehen, denn Bass und Schlagzeug sind bei diesem Album zumeist synthetisch. Was den Wandel ausmachte? Zum Einen, dass ihre Musik in großen Schritten Heranwachsen symbolisiert. Dann das Entdecken von sexueller Ästhetik. Und der generelle Wandel der Zeit - der Hipster hat den Emo als vorherrschenden Lifestyle abgelöst. Und Tokio Hotel gehen mit der Zeit. Das Album finde ich gut, aber bei Weitem nicht so herausragend wie die Vorgänger.
So... und damit sind wir im Hier und Jetzt. Ich hoffe, ich konnte hiermit etwas deutlicher machen, warum Tokio Hotel bei mir so häufig in Rankings aufscheinen und warum sie als eine DER Bands des 21. Jahrhunderts erachte. Und warum ich die für wichtige Popkünstler halte, die ich mir auch heute noch gerne anhöre und weshalb es sein kann, dass sie auch in Zukunft noch in meinen Rankings Auftritte haben.
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Meine Meinung zu den Alben in Moviepilot-Punkten:
Schrei: 4.5
Zimmer 483: 9.5
Scream: 10
Humanoid (deutsch): 9.5
Humanoid (englisch): 10
Kings of Suburbia: 7.5
Community
Woher meine Vorliebe für japanische Wohneinrichtungen kommt
16.01.2016 - 14:30 UhrVor 9 Jahren aktualisiert

Island
Ach, wie war das damals...
Der Dingo in Zivil lädt zum Blogfest ein: "Dog's Reservoir" ist ein Meinungsblog zum Thema Film, Musik, Internet und andere Medien, verfasst vom teuflischen Szene-Hund Martin Canine! Wuff!
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