Wie viele
Entwicklungen, Prozesse und Veränderungen das Genre in einem langen
Zeitraum mitgemacht hat, kann anhand des Materials und des
filmtheoretischen Kontextes erschlossen werden. Ist man auf der Suche
nach Bezeichnendem, ist ein weiter Sprung zurück gar nicht vonnöten,
waren doch die letzten zwanzig Jahre in hohem Maße fruchtbar, in erster
Linie, und das wird nicht jeder oder jede so sehen, in Bezug auf die
Genreprogression.
1999
Wir schreiben besagtes Jahr. Der Horrorfilm befindet sich in der Krise, oder, nein, vielleicht ist das übertrieben. Doch tatsächlich: blickt man auf die Dichte der in dieser Dekade veröffentlichten Meilensteine oder richtungsweisenden Filme, dann erweist sich das Ergebnis mitunter als überschaubar, überraschend handzahm, weniger offensichtlich. Zumindest als in früheren Jahrzehnten. Und möglicherweise hat dieser Mangel an herausragenden Filmen dazu geführt, dass dieses Jahrzehnt rückblickend als tendenziell schwach angesehen wird, was diese spezielle Gattung anbelangt. Doch ist es die ganze Wahrheit? Kann sie es sein? Nun, eben nicht. Wahrscheinlich nicht. Vielleicht teilweise schon.
Wie auch immer: Anständige Werke sind in jener Zeit sehr wohl produziert worden, man denke nur an die Ringu-Reihe aus Japan, mit einer ihrer Enttäuschung wegen aus dem Fernseher kriechenden Göre. Nicht zu vergessen das hypersensible und dezent angeknackste Milchbubi aus The Sixth Sense. Was ist mit Audition (OT: Ōdishon) von Skandalnudel Takashi Miike? Da war Anständiges dabei. Doch wie sieht es in Relation gesetzt aus? In den 60ern und 70ern veränderte sich das Genre grundlegend, da gab es ja faktisch Neues, dementsprechend zahlreiche Möglichkeiten, sich auszuprobieren. Tabus wurden gebrochen und neue Terrains bewandert. In den 80ern kamen zwar weitere Impulse hinzu. Etwa das Abdriften in das Komödiantische, Slapstickartige, oder auch die italienischen Genreregisseure sollen hier Erwähnung finden mit ihren partiell sehr drastischen Filmen. Gewiss machten sich nicht minder Abnutzungserscheinungen bemerkbar, wie es ähnlich immer wieder geschehen war. In den 90ern rutschte die Gattung etwas ab, salopp formuliert und verkürzt: die Luft war draußen. Gehörig.
The Blair Witch Project stand am Anfang einer neuen Reihe, oder begleitete den Start, gemeinsam mit anderen selbstverständlich. Haben sie damals nicht eine weitere Umbruchphase eingeleitet, mitgestaltet, quasi als eine Aufwärmübung des Genres, für das, was nachfolgen sollte? Die Found-Footage-Welle etwa mit Filmen wie Paranormal Activity oder Rec, wobei zweiterer einen Glanzpunkt darstellte, auf jeden Fall, wenn einem der Auftakt der Rec-Reihe in den Sinn kommt. Was ist mit Torture-Porn (Haute Tension)? Saw? Über Filme wie The Descent ging es dann weiter zu – auf der einen Seite – heftigeren Gewalteskapaden (Human Centipede, Serbian Film etc.), die jeglichen Rahmen sprengten, als ebenso hin zu einer Verfeinerung des Artifiziellen sowie Anspruchs, was sich in der gegenwärtigen Arthouse-Welle (The Witch u.v.a.) beinahe überdeutlich manifestiert zeigt, gar wie ein Facehugger ins Gesicht springt. The Blair Witch Project hat zu diesen Entwicklungen massiv beigetragen. Hauptsächlich wegen seines Looks.
Das Stilmittel Found-Footage mag schlimmer missbraucht worden sein als Sally in The Texas Chainsaw Massacre; nun dämmert langsam, wer daran schuld sein könnte, nämlich die Macher von Blair Witch Project, gleichwohl ist das hier so etwas wie die Mutter der Found-Footage-Streifen. Schwer zu bestreiten, die zahlreichen Epigonen liefern erste Beweise. Erfunden haben Myrick und Sánchez, die jungen Wilden allerdings nichts, denn Found-Footage gab es im Genre ein gutes Stück vor Blair Witch Project (Cannibal Holocaust lässt grüßen).
Na gut, es ist doch in der Tat erstaunlich: die beiden Filmstudenten haben 1999 mit einem Mini-Budget, das bei anderen Filmen gerade das Catering, ohne Alkohol und Extras, finanzieren würde, einen riesigen Hype kreiert – und das gelang ihnen mit einem ausgesprochen dreckigen Film. Einem Film, dem jedwede Hoffnung verloren gegangen zu sein scheint, der sich garantiert ernst nimmt, der mitsamt Laiendarstellern, gewagten Improvisationen sowie dem kaum vorhandenen Drehbuch realisiert worden ist. Nichts für schwache Nerven, unabhängig davon, wie jemand dazu stehen mag. Die kongeniale Homepage, welche das Verschwinden der drei Protagonisten fingiert hatte, hat ohne Zweifel Anteil am Erfolg gehabt.
Fazit
Wir befinden uns in
Burkittsville, Maryland. Unter Fans des Genres ist das
öde Kaff im Osten der USA sehr bekannt, in etwa so wie
Transsylvanien, die Elm Street oder Camp-Crystal-Lake. Wir blicken
uns um: Irgendwie wirkt dieses 200-Seelen-Städtchen gar nicht so
spektakulär, gar nicht angsteinflößend. Was soll besonders sein?
Nun, aus heutiger Perspektive wirkt alles etwas eingeschlafen,
vielleicht etwas angestaubt, zwanzig Jahre vergehen ja wie im Flug, mit
Veränderungen ist unweigerlich zu rechnen. Damals stand dieser Ort
für einen Wechsel, eine Wende, für die jungen Wilden, die plötzlich so aufgetaucht waren; mit nichts als einer Idee mischten sie alte bewährte Zutaten in einem Topf mit neuen, frischeren Ansätzen und
vereinten gleichsam gestern und heute, mitsamt einfacher Geschichte und
vulgärer Optik. Der Film ist Ergebnis und Postulat zugleich. Ein
Wegbereiter des postmodernen Horrorfilms, wenn auch teilweise in
Vergessenheit geraten, nach zwanzig Jahren mitunter belächelt von
jüngeren Generationen, aber doch seinen Platz in dieser vieljährigen
und turbulenten Genregeschichte behauptend. Nicht nur für Fans des
Backwood-Settings eine Bereicherung. Alles Gute zum zwanzigsten Geburtstag!