jp@movies - Kommentare

Alle Kommentare von jp@movies

  • Lassen sich Traumata, die von einer Generation an die nachfolgenden weitergegeben werden, überwinden? Wenn man diesen Gedanken überhaupt erstmal annimmt und begreift, dann ist die Antwort: ja, natürlich. Das ist das vielleicht wichtigste Thema, das man derzeit aufgreifen könnte, was in diesem Jahr sogar - CG Jung lässt grüßen - dreimal der Fall ist: In STAR WARS kommt die Skywalker-Saga gewohnt oberflächlich zu ihrem Ende, WATCHMEN jongliert virtuos damit und vielen weiteren Geschichts-Schneebällen, und THE AFFAIR macht eben das, was sie schon die vorangegangenen Staffeln ausgezeichnet hat: sie erfindet sich einmal mehr neu, ohne sich zu wiederholen.

    Trotzdem dieser Echos geht es hier jetzt allein um THE AFFAIR, denn ihr “unique selling point” wird viel zu selten in seiner Zentrifugalkraft gewürdigt, denn es ist gerade die Abwesenheit dieser einen zentralen Erzählperspektive, die sie so herausragend macht. Viele verkennen die Brillanz dieser Serie, weil sie sie gucken, wie jede andere auch. Das mag in der ersten Staffel funktioniert haben, wenn die Rahmenhandlung mit dem ermittelnden Polizisten eine “wahre Perspektive” und damit zuverlässigen Angelpunkt erahnen lässt, doch spätestens ab der zweiten Staffel ist man mit vier einander überschneidenden und oft widersprechenden Perspektiven konfrontiert, ohne jemals wieder die Sicherheit einer “wahren Sicht auf die Dinge” zu erlangen. Was anderswo als Continuity-Fehler angekreidet würde, ist hier nicht mehr als Erinnerung daran, dass wir gerade die selektive, verfälschende Wahrnehmung nur eines Charakters erleben, und damit nur seine bzw. ihre Ansicht und Interpretation der Wirklichkeit. Am deutlichsten wird das bei Helen, die in den Augen anderer (oder ihrer eigenen) jedesmal sehr anders wirkt oder “erscheint”. Nichts kommt unserer eigenen Wahrnehmung näher, als diese Form des Erzählens (die auch z.B. gerade die GAME OF THRONES Buchvorlage auszeichnet). Man wechselt nicht nur die Schuhe, um darin ein paar Meilen zu laufen, obwohl sie drücken und man Blasen kriegt, sondern sieht die Welt ganz sprichwörtlich noch einmal mit anderen Augen. Nur eben, dass all das ein labiles Konstrukt von Realität ist, an dem jede/r anders scheitert. Wer das nicht mitdenkt und fühlt, verpasst mehr als die Hälfte.

    Der Mut dieser Serie, diesem Konzept jedes Jahr etwas neues abzugewinnen, begeistert mal mehr, und mal weniger. Allein das Risiko einzugehen spricht für Sarah Treem, die Showrunnerin, die obendrein jedes Jahr neue AutorInnen um sich schart, und damit Karrieren startet. IN dieser letzten Staffel wird für meinen Geschmack zwar zu viel geredet, aber das tut dem sich schnell wieder einstellenden Genuss keinen Abbruch. Man muss halt zuhören können, und sich dann Zeit nehmen das Gehörte (und Gesehene, und Gefühlte) zu reflektieren - anders verpasst man halt wieder zu viel. Schade, das viele die nötige Aufmerksamkeitsspanne nicht mehr mitbringen oder zu investieren bereit sind, drum bleiben wirklich einzigartige, herausragende Serien wie diese auf der Strecke. Aber während andere längst wieder von Unkraut überwuchert sein werden, wird dieser Weg so frisch und gangbar bleiben, dass er auch noch in hundert Jahren jene Wanderer sicher ans Ziel bringen wird, die, wenn sie nur die ersten Schritte wagen, und einen langen Spaziergang nicht scheuen, jede Menge Freud (und Jung) und Leid unterwegs erleben wollen. Als Lohn wartet ein befriedigendes und schönes Serienfinale, wie ich nur wenige erlebt habe.

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    • Macht direkt auf dem Niveau der ersten Staffel weiter, vielleicht mit einer etwas stärkeren Gewichtung auf das Privatleben von Bill und Wendy, was besondern in Hinsicht auf zukünftige Staffeln sehr angenehm ist, weil beide hier größere Charakterentwicklungen erleben, als Holden (der immer noch an den Folgen der ersten Staffeln knabbert). Mit wärmsten Empfehlungen, es ist eine Wohltat, wenn Serien sich die Zeit nehmen, bis die Bücher wirklich ausgereift sind, ehe sie in Produktion gehen. Apropos, hier gibt es wunderbare BTS-Fotos der Staffel: https://whatswrongwithcomplicated.com/1

      Service-Anmerkung für Kameraleute und Cutter: Eine der besten Sehschulen für die 180º Regel mit wechselnden Achsen, die ich jemals gesehen habe. Es wird hier ja viel geredet, gerne mit mehreren Personen in einem Raum, die sich kaum bis überhaupt nicht bewegen, weil sie nun ja, meistens sitzen. Die Kadrierung und Achsenarbeit macht mir dabei fast noch mehr Spaß, als die ausgetüftelten Dialoge im großartigen Production Design des Studios bzw. der Locations, die immer wieder Mittel und Wege finden, mit Licht zu gestalten - was nicht wundert, denn Erik Messerschmidt ist ein von Fincher zum Kameramann befördeter Beleuchter. Das ist jedenfalls alles so durchdacht, dass es schnalzt, und der Detailreichtum so beiläufig in seiner Eleganz, wie Bill in der ersten Folge dieser Staffel seinen Whiskey-Schwenker hinter dem Rücken von Dr. Carr gegen ein Champagner-Glas austauscht, weil er weiß, was sich gehört, wenn man gleich vor ein Mikrofon tritt. So viel Stil, so viel zu entdecken, rundum gelungen.

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      • Wie bei den letzten Staffeln auch haben sich Jenny, Simon, Hari und der ... na, Dings wieder für einen Podcast zusammengefunden, um über das Ende dieser großen Serie zu sprechen, die uns so viel Freude (und Schmerzen) bereitet hat. Viel Spaß damit, vielleicht mildert er ja eure Entzugserscheinungen ein wenig:
        https://fortsetzung.tv/2019/05/31/got8/

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        • Wer die erste Staffel liebte, wird auch hier nicht enttäuscht - abgesehen von der traurigen Tatsache, dass nach der zweiten Schluss ist. Trotzdem fehlt einem nichts, hm, außer vielleicht noch mehr Olivia Colman, diese Lächelfassade ist dermaßen beeindruckend, weil da nichts bröckelt, man aber durch die Fenster trotzdem alles sehen kann. Diese Schauspielerin ist eine Wucht. Richtig viel Spaß macht auch Sian Clifford als Schwester, und dann ist da noch der unerwartete Love-interest. Aber womit Phoebe Waller-Bridge alles abschießt ist, die spaßige Metaebene derart unerwartet zu erden und mit Bedeutung aufzuladen, dass es überirdisch gut wird. Gott bzw. Glauben war noch nie anfassbarer oder ferner inszeniert, je nachdem, halt beides - nur lachen wir über das eine, das andere, unsichtbare raffen wir erst später, im Nachhinein, wenn überhaupt. Manchmal kapiert man eben sein Gegenüber, wie niemand sonst, und manchmal bleibt einem doch das wichtigste verborgen, versteht und akzeptiert aber, wie wichtig das für den anderen ist. Liebe kann so schön, und so tragisch sein.

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          • “We call our parents, and we wait for dark. It’s that simple.”

            Ich weiß ja womit ich anfangen würde, nämlich mit Folge 3. Vorher würde ich jetzt Staffel 1 nochmal gucken, um die fantastische Zweite überhaupt voll würdigen zu können. Dann aber wie gesagt erst Folge 3 gucken, um sich besser abgeholt zu fühlen. Allein um das zu verstehen müsst ihr jetzt die ersten drei Folgen gucken, und das ist gut so, denn dann könnt ihr eh nicht mehr aufhören.

            Es ist Segen wie Fluch, dass es so lange mit der Fortsetzung gedauert hat, aber das Ergebnis gibt dem Prozess Recht, denn es braucht ausreichend Zeit um etwas mit dieser Tiefe zu schreiben, das seine Figuren ernst nimmt, sie erforscht, ihnen Zeit gibt und die Wendepunkte der Geschichte nicht nur wie auf dem Reißbrett mit geraden Linien verknüpft. Dazu tritt sie auch mal auf die Bremse beim Erzähltempo, und überrascht dann immer wieder auf’s Neue mit Variationen von bekannten Motiven, die aber zu einem eigenen, harmonischen Ganzen werden - und damit hat THE OA einen meilenweiten Vorsprung vor oberflächlich ähnlichen Serien, wie STRANGER THINGS, DARK oder dem Spiegeluniversum aus STAR TREK - DISCOVERY. Das ist wie der Igel, der vor dem Hasen am Ziel ist, nur dass es dafür keinen zweiten Igel braucht, sondern einen Quantentunnel. Also wenn der Quantentunnel Schatten wirft, oder meinetwegen Echos hat, etwa von der dritten Staffel THE AFFAIR, allein schon wegen Irène Jacob, die hier einen sehr schönen Meta-Monolog hat, der ein bisschen die vierte Wand bricht, wenn man mit ihrer Filmografie vertraut ist.

            Und wieder droht diese tatsächlich herausragende Serie unter zu gehen, weil zu wenig über sie geschrieben wird, was schade und traurig ist, weil sie sich jetzt stellenweise auch ein wenig anfühlt, wie THE LEFTOVERS, HALT AND CATCH FIRE oder RECTIFY, nah an den dargestellten Menschen dran, mit einem Hauch Mystery, aber (meistens) geerdet, ohne Monster, also bis auf äh, vielleicht mach ich das Aquarium doch nicht auf. Ich meine Monster im Sinne von jenen, die wir in uns tragen und durch unsere Taten zur Welt bringen.

            “You killed him!” - “He killed you first.”

            Ja, die Serie ist komplex und manchmal ein bisschen langsam, aber sie liebt ihre Figuren, und sie liebt das Geschichten erzählen. Wer gerne zuhört und sich verzaubern lassen kann, ist hier jedenfalls goldrichtig. Aber Vorsicht, denn irgendwo ab Folge vier wird es euch dann vielleicht urplötzlich für eine Weile zu abgefahren, zu esoterisch oder schlicht durchgeknallt für euren Geschmack. Das wäre schade, denn man kann sich davon prächtig unterhalten lassen, wenn man mit hinein springt, sich von Bildern, Motiven und Geschichten mitreißen lässt. Wen man ein bisschen Durchhaltevermögen zeigt, dann holt einen die Serie auch wieder ab und bringt sie auf die Erde zurück. Und drunter. Und auch drüber. Auch die Tanzchoreographie aus Staffel 1, an der sich manche gestoßen haben taucht wieder auf, ja und? Muss nicht jedem gefallen, aber im Universum von THE OA wird sie jetzt besser integriert, ohne weniger albern zu sein. Entschädigt wird man durch die Abwesenheit von Plot-Blocking: gerade in Szenen wo man in Begriff ist aufzustöhnen, weil man sie schon hundert Mal so ähnlich erzählt bekommen hat, kriegt man hier endlich mal erfrischend anders präsentiert, so dass man jedesmal die Autoren dafür abklatschen mag, und es wie eine schallende Ohrfeige für all die ausgetretenen Pfaden folgenden Heerscharen von Abschreibern klingen möge.

            Der Schluss jedoch … erinnert mich leider verdächtig an das Finale von EERIE, INDIANA, worüber ich mich ein bisschen geärgert habe, aber nur ein bisschen. Für manche ist das vielleicht zu viel Augenzwinkern, ich für meinen Teil hab mich gut unterhalten gefühlt. Die Engel-Analogien verursachen mir zwar erneut kurz einen bitter-religiösen Beigeschmack, aber damit kann ich umgehen: Einmal Zähne putzen und es geht wieder. Schwieriger macht es mir die grausige Musik unter dem Abspann. Wäre es nicht schöner, wenn man dort Rachel endlich hätte singen hören können? Wie praktisch, dass Sharon Van Etten gerade eine neue Platte rausgebracht hat, die ein klein wenig zur Serie passt. Mit diesem fernen Echo entlasse ich euch aus meinem Kommentar: https://www.youtube.com/watch?v=j7sTHoeH0eA

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            • Nach den Episodenpodcasts gibt's noch eine Ehrenrunde zur ganzen Staffel, wie in den beiden letzten Jahren mit Jenny von Moviepilot und Simon von negativ-film/epd.

              Viel Spaß: http://fortsetzung.tv/2017/09/01/got-7-ehrenrunde/

              • Der ausufernde Podcast zum Staffelfinale in großer Runde mit Jenny Jecke und Simon Born ist jetzt online - viel Spaß damit:
                http://fortsetzung.tv/2016/06/30/game-of-thrones-podcast-ep-6-10-the-winds-of-winter/

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                • (...)
                  Für sich genommen weist auch die fünfte Staffel die gleichen bisherigen Stärken wie Schwächen auf, nämlich dass es einerseits mindestens eine überragende Folge pro Jahr gibt (diesmal wohl am ehesten “Bestattungsvorsorge”), während andererseits gut die Hälfte der Episoden an überlangen, theaterhaften Dialogen leidet, die manchmal obendrein von missionarischem Eifer durchzogen sind, was aufgrund der sicheren Inszenierung meist wieder in Vergessenheit gerät. Diese Staffel möchte den Finger behutsam auf diese Wunde legen. Meist kommt es dann zum Sprechdurchfall, wenn allzu offensichtlich ein konkretes Thema allzu kompetent abgehandelt wird, Vegetarismus und Fleischkonsum (“Fleischfresser”) etwa, oder Glaubensfragen (“Anbieterwechsel”) in der aktuellen Staffel. Geschieht dies jedoch spielerisch wie in der preisgekrönten Folge “Schottys Kampf”, wenn er sowohl mit einem intelligenten, als auch einem selten dämlichen Nazi konfrontiert wird, kann man grinsend darüber hinweg sehen. Das Thema hatte man schon so ähnlich in der ersten Staffel in der Folge “Nicht über mein Sofa” thematisiert, was in keinster Weise negativ gemeint ist – hatte mich doch genau diese Folge endgültig zum Fan gemacht, obwohl ich nichts von Autos verstehe. Darauf komme ich etwas später noch zurück.

                  Die schönsten und besten Momente waren für mich meist jene, in denen wir Schotty ganz ohne Konfrontation mit dem Gaststar der Woche beiwohnen durften, etwa dann, wenn er in “Über den Wolken” versucht, sich das Rauchen abzugewöhnen, das ihn sichtlich an der Arbeit hinderte. Oder wenn er in “Angehörige” die Requisiten eines Zauberers untersucht. In beiden Fällen leben die Szenen von der Beobachtung, dem Schauspiel und der Inszenierung, nicht den (oft grandios natürlichen) Dialogen.

                  Die finanziellen Einschränkungen der frühen Tage hat man der Serie damals kaum angesehen, um so wohltuender ist die Feststellung, dass die schwer erkämpften Freiräume für höhere Budgets und mehr Drehtage das Niveau der Folgen in ihrem production value erkennbar gesteigert haben, ob in Folgen wie “Carpe Diem” oder jetzt “E.M.M.A. 206” – ohne mehr Zeit und Geld wären Episoden wie diese gar nicht möglich gewesen. Außerdem erlaubt es dem Team am Set zu improvisieren, etwa die Sexszene in der Folge “Schweine”, die laut Drehbuch nur aus einem Satz bestand. Hier zeigt sich wie eingespielt und präzise das Team um Arne Feldhusen und seinen Star Bjarne Mädel funktioniert, die alles aus den Drehbüchern heraus holen, was darin angelegt ist.

                  Womit wir bei Mizzy Meyer angekommen wären, die alle bisherigen 24 Folgen im Alleingang geschrieben und bereits den Auftrag für die nächsten sechs bekommen hat. Dahinter verbirgt sich die renommierte Theaterautorin Ingrid Lausund, deren Nachname nicht umsonst dem der Reinigungsfirma “Lausen” verdächtig ähnlich klingt.

                  Ihre bisherige Arbeit kann man gar nicht genug loben, doch mein “aber” setzt trotzdem bei ihr an, weshalb ich sie hiermit auch allzu gerne in den Autoren’nen Podcast einladen möchte. Dort kann man nach Lust und Laune sprechen, das ist schließlich das Wesen eines Podcasts, weniger im Theater, noch weniger jedoch im Fernsehen. So gerne ich Schotty beim Reden zuhöre, noch mehr genieße ich es, ihm einfach nur zuzusehen, gerne auch gerade beim Nichtstun und Alleinsein. Und wie gerne würde ich ihn mal außerhalb seiner Arbeitszeit sehen, aber nicht nur im Abspann wie bei der „Wattolümpiade“.

                  Bisher dominiert die Episoden ihr jeweiliger Gaststar, und/oder ihr Thema. Horizontale Elemente haben zaghaft Einzug in die Serie gehalten, etwa mit dem fantastischen wiederkehrenden Bestatterduo, wie auch der Beziehung zu seiner tragischen, vergeblichen, großen Liebe Merle. Beides ist sehr zu begrüßen, wie auch das Crossover zu “Dittsche” und Olli Dittrich in “Carpe Diem” bzw. dem “Polizeiruf 110” in der Pilotfolge.

                  Die fünfte Staffel bietet Bjarne Mädel nun die seltene Gelegenheit, auch einmal richtig unsympathisch rüber zu kommen, wenn er pampig bis unsensibel auf Mitmenschen reagiert, die er nicht leiden kann, oder rechthaberisch wird und sich von einer unnachgiebigen Seite zeigt. Man bemüht sich also sichtlich um Abwechslung, ruht sich nicht auf seinen Lorbeeren aus und erforscht vielleicht eine Idee zu zaghaft neue Wege. Das ist an sich großartig und hat bisher auch gereicht, doch die fünfte Staffel ist nun die erste, die mich nicht nachhaltig zu begeistern wusste. Stattdessen mache ich mir nun Sorgen, dass die Serie stagniert, dass sechs Folgen im Jahr für Ingrid Lausund zu viel Druck bedeuten, wofür ich allergrößtes Verständnis habe. Es ist nicht so einfach, sich jedes Jahr alleine drei Stunden originelles Material aus dem Ärmel zu schütteln, das sollte man auch nicht erwarten. Gleichzeitig verstehe ich, wenn man sich als Zuschauer zwölf Folgen im Jahr vom NDR wünscht, wie auch nach wie vor einen verdammten, regelmäßigen Sendeplatz! Lieber NDR, das kann nicht so schwer sein, wie ihr euch anstellt. Das gilt mindestens ebenso laut für die ARD, die es ja besser machen könnte und selbst jetzt, nach dem Abschied von Jauch nicht auf den Gedanken kommt, das Offensichtliche zu tun, nämlich Schotty nach dem “Tatort” (oder meinetwegen „Polizeiruf“) den letzten Dreck wegputzen zu lassen.

                  Längst hat sich Schotty in unseren Köpfen festgesetzt, ist uns so in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir sein “Wa?” ebenso hören wie das dieses Jahr schmerzlich vermisste “Ja, dazu kann ich nichts sagen.” Schlimmer noch: Als ich vorletztes Jahr jemanden kennengelernt habe, der bei der “Spusi” (Spurensicherung) arbeitet, kam ich nicht umhin, mir vorzustellen, was passieren würde, wenn so ein akribischer Arbeiter nicht fertig wird, während Schotty von der “Spube” (Spurenbeseitigung) umso schneller damit anfangen will, am Ende aber beide gemeinsam dem wahren Täter auf die Schliche kommen. Perfektes Material für ein “spec script”, möchte man meinen, wie es bestimmt zuhauf weitere bei Kollegen im Lande gibt. Mehr als das würde ich Schotty ja gerne mal bei seinem Arbeitgeber erleben und Herrn oder Frau Lausen in der Firma kennenlernen, selbst bei der Lohnsteuerabrechnung möchte man Heiko Schotte zusehen dürfen! Bei seiner Arbeit haben wir ihn schon so oft erlebt, aber uns (na gut, oder nur mich) interessiert seine ganze Welt, weit über den Arbeitsplatz hinaus. Anknüpfungspunkte dafür gibt es zuhauf, aktuell ist mit seiner Mutter und den Freunden fast ein halbes Dutzend hinzu gekommen. Darüber habe ich mich mehr gefreut als über die zweimalige Referenz auf die in der ersten Staffel eingeführte Liebe zum Maserati, selbst wenn es so charmant daher kommt wie in diesem Ohrwurm: https://www.youtube.com/watch?v=9WBVrPy4UXo

                  Wenn solcherlei Selbstzitate überhand nehmen, dann geht man kein Risiko mehr ein, was schade wäre. Wenn Schotty endlos monologisiert wie in “E.M.M.A. 206”, dann können selbst die originellen Harfenklänge irgendwann die Eintönigkeit der Szene nicht mehr überspielen, deren Zeitsprünge man nach zehn Minuten einfach nicht mehr wahrnimmt, dann zerrt jeder weitere Satz leider nur noch an den Nerven. Dabei ist das Thema brandaktuell, wenn Schotty in einem unbeobachteten Moment dem Roboter an den Busen grapscht, nachdem er sich damit überfordert zeigt zu erklären, welchen Nutzen denn nun eigentlich Emotionen haben. Da wäre mehr drin gewesen – auch für Simon Schwarz übrigens.

                  Wenn es ein übegreifendes Thema in dieser Staffel gab, dann jenes des Feststeckens. Ob es das Auto der Bestatter im Wald ist, der immergleiche Geschmack von Pfirsichmelba, die wiederholte Frage rund um 500 Mark, der eingeschränkte Bewegungsradius des weiblichen Roboters, der Stillstand bei der Qual der Wahl, oder der berechtigte Wunsch nach einem freien Wochenende, den sich vor allen anderen einmal Schotty selbst gönnen sollte. Ihn möchte ich gerne als Zuschauer auf ein Wellnesswochenende begleiten. Gerne würde ich auch eine Episode sehen, in der Heiko Schotte niemandem am Tatort begegnet und eigentlich nur seiner Tätigkeit nachgeht, seinen Gedanken nachhängt und allein mit der Atmosphäre der Wohnung, deren Geist (nicht wörtlich wie in “Geschmackssache”) konfrontiert wird. Oder mit einer Erkältung daheim in seiner Bude. Oder wie wäre es mit einer Fortbildung? Weihnachtsfeier? Einer Prüfung am Arbeitsplatz? Muttertag? Tatsächlicher Vaterschaft (wie in der vielleicht schönsten Folge “Angehörige” angedeutet) und er hat sein Baby bei der Arbeit dabei?

                  Schotty ist so lebendig gezeichnet, dass er längst den Rahmen des Formats sprengt und zunehmend ungehalten auf der Stelle tritt, wenn wir ihn nur beim Putzen sehen. Der Putz bröckelt und vielleicht sollte man bei der Gelegenheit gleich mal eine Wand rausnehmen – “Der Tatortreiniger” wird es mühelos tragen und wir werden ihm neugierig überallhin folgen, wo immer es ihn in den nächsten Episoden auch hintreiben möge. Hoffentlich zu neuen Ufern.

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                  • Die großartigste Serie des Jahres bekommt kurz vor Weihnachten ihren eigenen Podcast gewidmet: http://fortsetzung.tv/2015/12/22/podcast-the-leftovers-staffel-2/

                    Wer errät, um welchen Moviepiloten es sich bei meinem Gast handelt, bekommt eine Schachtel Kippen spendiert und bei der kommenden Berlinale persönlich überreicht.

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                    • jp@movies: Film & TV Kamera 23.04.2015, 13:10 Geändert 23.04.2015, 13:10

                      Wöchentlicher Episoden-Podcast, vorraussichtlich jeweils ab Dienstag Abend online: http://torrent-magazin.de/category/podcast/

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                      • Für alle die es interessiert: Wir machen auch zur letzten Halbstaffel MAD MEN einen Podcast, innerhalb der Woche nach US-Ausstrahlung. Hört einfach mal rein:
                        http://torrent-magazin.de/category/podcast/

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                        • Diese letzte MAD MEN Staffel ist das vielleicht Beste, was ich jemals im Fernsehen gesehen habe. Es gibt nicht ansatzweise etwas besser geschriebenes, als das. Mehr geht nicht, das ist am Limit, und dennoch wirkt es locker, leicht, fast beiläufig. Das ist eine Balance, die ich so nirgendwo anders finde, nicht bei BREAKING BAD und auch nicht bei GAME OF THRONES. Gelegentlich erreich(t)en diese Serien das gleiche Niveau, aber MAD MEN halten es mit minimalen Abstrichen durch, und die Serie ist obendrein stetig besser geworden.
                          MAD MEN leistet alles was man von einer eigens fürs Fernsehen geschriebenen Serie erwarten kann - von daher verbietet sich beinahe ein weiterer Vergleich mit z.B. GAME OF THRONES, bei dem man sich mehr über die Adaption und Abweichungen von der Buchvorlage streiten kann, und es ist eine gänzlich andere Zeit, ein völlig anderes Genre.

                          Auch ein Vergleich mit BREAKING BAD ist nicht fair, denn dort entsteht der intensive Thrill eben auch aus dem Drogenmilieu und der kriminellen Energie drumherum. Die Serie hatte brillante Momente, und die letzte Staffel setzte für dieses Genre (Crime-Drama) Maßstäbe.
                          But MAD MEN is gliding over all. Jedenfalls für mich. Matthew Weiner und sein Team schaffen es Alltag glaubwürdig zu erzählen, nicht den von heute, sondern jenen der 60er Jahre. Man erschrickt mindestens ebenso häufig darüber wie wenig sich eigentlich verändert hat, wie über alles was heute unvorstellbar anmutet. Zigaretten, das Mobiltelefon der 60er, bei dem man einander aber noch anguckt als leidiges Beispiel. Das ist die Welt in der die Serie spielt, und auf die historischen Ereignisse reagiert man mal bestürzt, mal beiläufig, und manchmal gar nicht. Die Palette macht’s.

                          Der nächste überragend gut getroffene Bereich ist die Berufswelt die hier gezeigt wird, die Werbewelt - und man muss nicht selbst in der Werbung arbeiten oder gearbeitet haben, um zu spüren wie “echt” diese Agentur(en) dargestellt werden - von der Sprache, über die Hierarchien bis zu den nervenaufreibenden Grabenkämpfen. Da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht. Gründlichst.

                          Aber das Herz dieser, wie auch jeder anderen Serie sind die Charaktere. Man lernt sie kennen, Abneigungen und Sympathien bilden sich heraus und verändern sich über die Jahre und Staffeln. Man lebt mit ihnen. Die ersten Konflikte und Handlungsbögen verblassen, und die Serie kommt dem “wahren” Leben dann im Verlauf so erschreckend nahe, dass ich immer wieder aufs Neue verblüfft bin, als zaubere man vor meinen Augen ständig neue Hasen aus dem selben, alten, bodenlosen Hut.

                          Die Konflikte, die die Figuren im Leben haben, sind so universell wie eh und je, Liebe, Karriere, Familie, Sehnsüchte - alles kommt auf den Tisch, aber unnachahmlich präzise. Die Menschen sprechen wie Menschen, sie schweigen, sie kämpfen, weinen und verletzen sich selbst ebenso wie andere, und haben auch mal ihre lichten Momente, fünf Minuten Glück, vielleicht auch mal mehr.

                          Das Ganze wird dabei so atemberaubend elegant in Szene gesetzt, der Humor kommt nicht zu kurz, aber nie mit dem Holzhammer, und von der Schauspielführung, der Inszenierung, der Ausstattung, der Kamera bis hin zur Musik setzt die Serie Akzente; leider kann ich das vom Schnitt nur selten behaupten - über den ich mich immer wieder wie bekloppt ärgere. Dann gibt es aber auf der anderen Seite Einstellungen wie z.B. die Letzte der 6. Folge, die alles mit ihrer Ausstattung sagt, und gänzlich ohne Worte auskommt. Das ist Gänsehaut pur, und ich möchte den Fernseher in solchen Momenten vor Freude abklatschen. Das ist erwachsenes, reifes Drama aus einem Guß, an das derzeit anderes höchstens gelegentlich heranreicht.

                          Ich kann verstehen wenn man mit dieser an Action armen Serie nicht warm wird, vielleicht sind einem die Lebenswelten zu fern, und vermutlich muss man jenseits der 30 sein um sie gänzlich genießen zu können, wenn Fragen wie nach dem Kinder kriegen oder Karriere machen abschließend entschieden werden müssen zur Debatte stehen, und noch deutlich schwierigerem. Ein paar Jahre in einem Scheißjob gearbeitet zu haben (oder noch) ist auch hilfreich. MAD MEN ist dabei aber nicht Trost, sondern dringt immer zum bitteren Kern vor, überlässt es einem aber selbst was man davon hält.

                          Einen moralisch wild herumfuchtelnden Zeigefinger sucht man hier vergebens. Wahrscheinlich ist es genau das, was diese Serie vielen anderen voraus hat - sie behandelt seine Zuschauer so, als seien sie Erwachsene, ohne ihnen das sagen zu müssen. Man versteht sich auch so.

                          Diese Staffel wird erst nächstes Jahr vollendet, aber allein die Folgen 2, 3, 5 und 6 dieses Jahrgangs sind derart überragend, dass ich fassungslos vor Begeisterung auf Knien rutschend AMC und Matthew Weiner für diesen geschliffenen Diamant von Serie danken möchte.

                          So gut will ich auch mal schreiben, wenn ich wieder aufstehe*.

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                          * Falls ihr euch fragen solltet, warum an meinen Hosen die Knie ständig aufgescheuert sind.

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                          • Woohoo, die SceenJunkies haben einen HONEST TRAILER am Start: https://www.youtube.com/watch?v=SVaD8rouJn0

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                            • Noch. Ein. Trailer.
                              https://www.youtube.com/watch?v=f7hAmVVpo-s

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                              • Fire and Ice Foreshadowing: http://www.youtube.com/watch?v=J5iS3tULXMQ

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                                • Eine "deleted scene" aus Staffel 3 mit Tywin und Pycelle: https://t.co/VKRUgXRZDf enjoy!

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                                  • Wie die zweite Hälfte der Staffel nächstes Jahr weiter gehen könnte: http://blog.jensprausnitz.com/2012/breaking-bad-2/

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