Punsha - Kommentare

Alle Kommentare von Punsha

  • 10

    Wieder einmal haben die guten Amerikaner die bösen deutschen besiegt in einem Film, der so viel mit der Historie gemein hat wie Brad Pitt mit einem Apachen. Aus dem ernstesten Kapitel jüngster Menschheitsgeschichte fabriziert Quentin Tarantino in "Inglourious Basterds" einen Mordsspaß, der im Œuvre des leidenschaftlichen Filmfreaks weiterhin seinesgleichen sucht. Zu keinem Zeitpunkt wird hier ein ernster Ton angeschlagen und lediglich vereinzelt bemüht sich Tarantino ein auch nur leidlich differenziertes Bild der Nationalsozialisten wiederzugeben. Scheinbar völlig unbeachtet des heiklen Themas erzählt er scham- wie tabulos vom märchenhaften Untergang der Nazis, auf das sich die Amerikaner stolz wie eh und je auf die Schulter klopfen können. Und das ist alles gut so. Wenn Woche für Woche die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender von "Unsere Mütter, Unsere Väter" und Konsorten, von Zeitzeugen-Dokus und Hitlers Nachkommen blockiert werden, wenn den darauffolgenden Generationen tagtäglich eingetrichtert wird, nicht vergessen zu dürfen, dann möchte ich manchmal um Hilfe schreien, dann möchte ich für ein paar Stunden den Schrecken des 20. Jahrhunderts vergessen, über die Hitler-Karikatur lachen, mit der spitzbübischen Art des Judenjägers sympathisieren, einfach genießen, wie Tarantino mit heller Freude als Antwort auf all die bedeutungsschwangeren und (schein-)moralisierenden Produktionen alles auf den Kopf stellt. Klingt ein wenig nach Rodriguez-Klamauk, wären da nicht mehr als eine handvoll perfekt konzipierter Einzelszenen, die an dramatischer, inszenatorischer und schauspielerischer Intensität kaum zu überbieten sind und ein Nazi-Märchen zu einem modernen Kunstwerk machen, über das man nicht nur unbefangen lachen kann, sondern auch mit offenem Mund und glänzenden Augen staunen darf.

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    • 10

      Linda, Donnie, Jim, Frank, Jimmy, Phil, Earl, Claudia, Stanley, Rose - Sie alle habe ich in drei Stunden kennen und lieben gelernt. Ich weiß, wie zerrissen sich Linda fühlt. Ich habe tief in Donnies Herz geblickt und gesehen, wie viel Liebe in ihm steckt. Jim ist ein guter Zuhörer, Frank leidet noch immer unter seiner schweren Kindheit und Jimmy will nicht allein sterben. Phil glaubt fest an Wunder im Leben, während er sich um Earl kümmert, der gleichermaßen mit körperlichen Schmerzen wie mit denen seiner Vergangenheit zu kämpfen hat. Auch Claudia leidet nicht nur an ihrem fehlenden Selbstbewusstsein, Stanley hingegen will keine Puppe sein und Rose ringt mit der unerträglichen Wahrheit. Selbstverständlich kann man die Charaktere, denen ich begegnete und die mir, als gäbe es sie wirklich, seit ich den Film zum ersten Mal sah nicht mehr aus dem Kopf gehen, nicht in einem Nebensatz abhandeln, lebt doch Andersons Meisterstück geradezu (aber nicht ausschließlich!) von seinen von einem durchweg genialen Cast verkörperten, alltäglichen Figuren, die viel mehr zu sagen haben, als ich oder irgendjemand sonst es je zusammenfassen könnte. Aber natürlich erzählt "Magnolia" vom Schicksal, von Zufällen, von Irrtümern, von den schönen und schrecklichen Dingen des Lebens, von alten Wunden, von Erziehung, von Vergangenheitsbewältigung, von inneren Dämonen, von Reue, von ... man könnte die Liste ewig weiter führen, und doch täte man dem Film Unrecht, wenn man ihn auf eine Aneinanderreihung von Themen reduzieren würde, tritt er doch selbst für jene Unfassbarkeit und Undefinierbarkeit mancher Dinge im Leben ein, die in seiner unkonventionellen, scheinbar zusammenhangslosen Einleitung und zahlreicher weiterer Anspielungen verdeutlicht wird. Und obwohl man dieses Mammut-Werk mit seinen unzählbaren Inhalten als in höchstem Maße weise und sicherlich auch philosophisch, das Gesehene stets als universell einstufen kann, stellt es sich nie über sein Publikum. Im Gegenteil: "Magnolia" baut zum Zuschauer eine Nähe auf, wie man sie kaum für möglich hält und behält sich so die Kraft inne, aus tiefstem Herzen zu berühren. Wenn dann schließlich das aufgebaute Gerüst aus Lügen und verdrängten Erinnerungen über den Protagonisten zusammenfällt und letztlich in einem reinigenden Wunder mündet, kennen die Tränen kein Halten mehr. Nicht aus Trauer - aus Freude, die Melancholie überstanden zu haben. Doch wann kommt sie wieder? Statt mit dem letzten Kapitel zu enden, schlägt Anderson ein weiteres auf. Der Film endet, das Leben geht weiter. It's not going to stop.

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      • 10

        Intensiver, spannender und sexy Thriller, der immer wieder gekonnt mit der Erwartungshaltung des Zuschauers spielt und voll und ganz auf seine Hauptfiguren zwischen sexuell spürbarer Anspannung und geistiger Umnachtung setzt. Michael Douglas als der Jack Torrance des Polizeidienstes hat keine Mühe sich der erotischen Ausstrahlung einer anbetungswürdigen Sharon Stone hinzugeben und sich in ihr zu verlieren. Der perfekte Psycho-Thriller und, warum auch immer, ziemlich unterschätzt.

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        • 9

          Ein wortkarger Protagonist im maßgeschneiderten Anzug, kompromisslose Gangsterbosse, treudoofe Kleinganoven, viel Blut und jede Menge ausgestellte Coolness: Backe, Backe, Gangsterkacke - Möchte man zumindest meinen, wenn man sich auf jene stereotypen Zutaten beschränkt, die uns Kim Je-Woon mit seinem nächsten Genrebeitrag serviert. Gleichzeitig aber steckt in diesem Klischeebrei betörend(e) gefilmte Schönheit und weise Erkenntnis, indem er uns die tragisch-schöne Männerwelt vor Augen führt und uns daran erinnert, warum sich insbesondere das eine Geschlecht dem Gangsterfilm so verschrieben fühlt: Die Faszination Gewalt, der ebenso unser Held des Films ausgeliefert ist wie wir. Zu gern würde er mit der Frau seines Bosses, seiner heimlichen Liebe, durchbrennen, ihr seine Zuneigung gestehen, ein normales Leben führen, die Augen schließen und sich voll und ganz seinem Herzen hingeben, genau wie der posende Macho liebend gern bei "Titanic" Tränchen fließen lassen würde, aber beide sind Gefangene ihres Milieus und ihrer eigenen Rolle, die sie darin zu spielen haben. Bewusst oder unbewusst: Kim hinterfragt das Genre, indem er seinen Ursprung seziert, der wiederum bei uns Männern liegt. Und wenn schließlich alle aufgestauten Gefühle ein Ventil finden und in einem ekstatischen Finale voller Gewalt münden, dann fühlen wir uns erleichtert und befreit, wenn die bittersüßeste aller Männer-Fantasien endlich wahr wird: Unsere Geliebte scheinbar ohne jede Chance von einer Übermacht Gleichgesinnter zu befreien. Und heldenhaft zu sterben.

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          • 9

            Die Zerstörung eines Radiosenders mitten in einer Piano-Aufnahme - Damit beginnt Roman Polanskis preisgekröntes Holocaust-Drama "Der Pianist" und symbolisiert sogleich die nahende Destruktion jeglicher Kultur. In Zeiten des Krieges braucht man schließlich keine Musiker wie Władysław Szpilman, der in diesem erschreckenden Moment noch nicht einmal ahnt, was auf ihn und seine Familie zukommt und zu welchen Untaten der Krieg fähig ist. Wie eindringlich Polanski anfänglich den herannahenden Schrecken, die soziale Ausgrenzung der Juden und die fassungslosen Reaktionen aus der Sicht einer gewöhnlichen Familie schildert, ist schlichtweg herausragend. Erst sind es nur erniedrigende Verbote, dann sterben die ersten Menschen auf offener Straße. Der Zuschauer ist, wie soll es auch anders sein, fassungslos - von den Gräueltaten der Nazis, aber auch von der Illoyalität einflussreicherer Juden. Ohne die Verbrechen des Nationalsozialismus in irgendeiner Weise zu verharmlosen, verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen Gut und Böse. Klare Feindbilder, und das macht diesen Film so ehrlich, existieren nicht. Verstört von schonungsloser Brutalität und ergriffen vom unausweichlichen Schicksal der Juden gleitet der Zuschauer langsam in die zweite Hälfte des Films in der sich seine zweieinhalbstündige Länge hin und wieder bemerkbar macht, denn sie ist bestimmt vom großen Warten: Warten auf das Ende des Krieges, auf Befreiung, vielleicht aber auch nur das Warten auf den Tod. Die vorangegangene Grausamkeit der Nazis rückt wieder etwas in den Hintergrund, allerdings ohne die ständige Angst und Bedrohung zu verharmlosen. Stattdessen widmet sich Polanski in der unabwendbaren Isolation nun ungehindert der Person Władysław Szpilman und seinem unbändigen Überlebenswillen, bestärkt in der Hoffnung endlich wieder Klavier spielen zu können. Dass es schließlich so weit kam, hat er nichtsdestotrotz ausgerechnet einem Deutschen zu verdanken, dessen Wohltat den letztlichen Sieg durch die Alliierten zur Nebensache degradiert und stattdessen das Wesentliche auf den kleinen Menschen lenkt: Die Güte und Vernunft eines Einzelnen kann durch keine noch so starke Ideologie gebrochen werden. Die Geburt eines Helden in einer Zeit, die keine Helden braucht.

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            • 9

              Um es gleich vorweg zu nehmen: Der für sechs Oscars nominierte THE SIXTH SENSE stellt in M. Night Shyamalans Filmografie einen frühen Glanzpunkt dar und ist zudem ein einziger emotionaler Höhepunkt, in seinem Œuvre bis heute noch unerreicht und oft zu unrecht auf seinen Schlusstwist reduziert, der trotz all seiner Offensichtlichkeit viel zu selten vorhergesehen wird. Warum? Weil der Zuschauer jedes Mal von einer atemberaubenden Atmosphäre eingenommen wird, die alles andere vergessen macht. Bei all den "modernen Gruseleien", wie Zombies oder Aliens, die das Horrorgenre maßgeblich geprägt haben, sind es trotzdem immer noch Geister, unsichtbare Geschöpfe, vor denen wir nur noch mehr Angst hätten, wenn wir wüssten, dass sie existieren, vor denen wir uns am meisten fürchten. Diese Tatsache nutzt Shyamalan nur zu gut und vermag mit einem großartigen Score, facettenreichen Bildkompositionen und einem intensiven Schauspiel aller Beteiligten eine knisternde Spannung aufzubauen, die jeden in ihren Bann zieht, der sich nicht vor dem Unerklärlichen verschließt.

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              • 9

                Idyllische Ruhe suchte das junge Pärchen auf dem Land, gefunden aber hat sie lediglich die Angst. Sam Peckinpah macht es sich in seinem ersten Nicht-Western, der dennoch vom machohaften Saufgesindel bis zu eingeschlagenen Fensterscheiben genügend Genre-Ähnlichkeiten aufweist, zur Aufgabe, die Natur des Mannes zu charakterisieren. Dustin Hoffman spielt dabei in seiner vielleicht besten Rolle den gebildeten Astromathematiker in einem Käfig voller Primitiven, die ihn wegen seiner städtischen Unerfahrenheit und seiner sanftmütigen Art belächeln, während er wiederum sein arrogantes Ego ausspielt, im Wissen, mehr in der Birne als die ungebildeten Dörfler zu haben. Es ist der versinnbildlichte Kampf des Mannes zwischen Körper und Geist, zwischen Trieb und Vernunft, der zu einer Reihe gefährlicher Anspielungen und feindseliger Blicke führt, in denen Gewalt in der Luft liegt und die Angst vollkommen spürbar ist, bis die Spannungen schließlich kein Halten mehr kennen, die Vernunft verliert und die Taten in roher Gewalt münden, wenn sich in der finalen Krisensituation jede spießbürgerliche Fassade entblättert und sich auf ebenjene gewalttätigen, lüsternen Triebe reduziert, die der Gebildete anfangs zu verabscheuen schien. Und nach dem unausweichlichen Blutbad? Keine Reue, keine Bestürzung. Stattdessen ein Lächeln. Und du selbst, lächelst du auch? So konsequent und provokant ist Kino viel zu selten.

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                • 9

                  Hauptsächlich ist Rainer Werner Fassbinders Meisterwerk sicherlich als Antwort auf den naiven, deutschen Kleingeist und auf die fremdenfeindlichen Reaktionen zwei Jahre nach der Geiselnahme von München zu sehen, doch dient "Angst Essen Seele Auf" auch als eine Kritik an grundlegende veraltete Muster unserer Gesellschaft, indem hier Liebe, egal welchen Alters und egal welcher Abstammung, keinen gesellschaftlichen Normen unterliegt und das Recht haben sollte, in jeder möglichen Form, auch als einfachen Ausdruck der Verbundenheit, zu existieren. Die 60-jährige Witwe und Putzfrau Emmi hat sich in den 20 Jahre jüngeren marokkanischen Gastarbeiter Ali verliebt. Das Paar bekommt sogleich die Ablehnung ihrer Umwelt in voller Härte zu spüren. Der Marokkaner sei ein dreckiges, primitives Schwein, die Bindung sei vollkommen unanständig und würdelos. Entgegen dieser naiven Voreingenommenheit demaskiert Fassbinder die Scheinheiligkeit der Deutschen in zahlreichen Szenen, die die eigene Sittenlosigkeit untermauern oder die Gesamtheit betrachtend die Widersprüchlichkeit des Fremdenhasses aufzeigen, so zum Beispiel wenn der deutsche Ehemann seiner Frau Schläge androht, falls sie ihm kein Bier holt oder wenn in Hitlers ehemaligem Stammlokal der Stirn runzelnden Emmi ein "Aperitif" angeboten wird. Als blödsinnige Absurdität entlarvt, bleibt jedoch jene Feindseligkeit gegenüber Ausländern eine nur schwer erklärliche Größe in dieser tristen Welt, ein riesiges Fragezeichen, ein Paradoxon. Ebenso bleibt der gemeinsame Kampf zweier einsamer Menschen für Respekt und Akzeptanz ein hoffnungsloser, der Blick in die Zukunft verheißt nichts Gutes, und auch heute noch kann man jenes Problem längst nicht als gelöst ansehen, auch wenn bereits Fortschritte gemacht wurden und der hier dargestellte offensichtliche Rassismus meist nur noch einer der unterschwelligen Sorte ist. So ist "Angst Essen Seele Auf" nicht nur ein hell leuchtender Stern der deutschen Filmlandschaft, sondern auch ein extrem lehrreicher, Horizont erweiternder und kritischer Beitrag, der nicht nur im schulischen Lehrplan einen festen Platz einnehmen sollte.

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                  • 9

                    Das Bild wird hell. Bedrohliche, alarmierende Klänge schleichen über die staubigen Hügel Kaliforniens. Es ist die Warnung vor der Geldgier und vor der Scheinheiligkeit des Amerikanischen Traums. Schließlich entdeckt jemand Öl unter der Erde. Der Anfang vom Ende. Die Geburtsstunde eines Kapitalisten. Jede Warnung kommt zu spät.
                    Daniel Plainview (Daniel Day-Lewis) stieg zu einem mächtigen und reichen Ölunternehmer auf. Habgier, Lüge und Missgunst bestimmen sein Handeln. Doch alles läuft wie geschmiert, bis sich ihm der evangelische Prediger Eli Sunday (Paul Dano) zunehmends in den Weg stellt. Es beginnt ein erbarmungsloser Krieg Religion gegen Kapitalismus, geprägt von Macht, Einfluss und einer langen Reihe gegenseitiger Demütigungen, wodurch Daniel zusehends seine Menschlichkeit verliert und auch sein Umfeld, genau wie das ganze Dorf darunter leidet.
                    P.T. Andersons Charakterstudie eines von Gier und Besessenheit getriebenen Menschen ist, obwohl die Geschichte schon Anfang des 20. Jahrhunderts spielt, heute brisanter denn je, denn sie erklärt uns viele Zustände unserer modernen Gesellschaft und zeigt den frühen Zerfall religiöser und vor allem menschlicher Ideale, wie sie besonders heutzutage in ausgeprägter Form immer noch existieren. Zwar lässt die Story oftmals einiges unerklärt, aber dennoch werden dem Zuschauer viele simple Fakten vorgegeben, weshalb es nicht schwer fallen dürfte, ihre volle Aussagekraft zu erschließen. Vom Grundaufbau sehr einfach und verständlich gehalten, strotzt THERE WILL BE BLOOD nur so vor Metaphern und hat mit Andersons außergewöhnlich fesselnder und schockierender Inszenierung ein Element, das jeden herkömmlichen Rahmen sprengt und den Film auch äußerlich betrachtet einzigartig macht. Paul Dano und Daniel Day-Lewis haben an der Größe dieses Werks natürlich auch maßgeblichen Anteil, denn sie überbieten sich schauspielerisch gegenseitig, laufen so zur Höchstform auf und liefern wohl die beste Performance ihrer Karriere ab. Ein Meisterwerk, dessen Inhalt wohl in fünfzig Jahren noch präsent sein wird und dessen fesselnde Kraft den Zuschauer vermutlich für immer in seinen Bann zieht, fasziniert und begeistert.

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                    • 9
                      Punsha 25.06.2015, 01:28 Geändert 26.06.2015, 16:17

                      Pulsierend. Bebender Bass. Blau-weißes Neonlicht. Das Gesicht einer Frau. Victoria. Losgelöst. Glücklich. Sie geht zur Bar. Ein unbeholfener Flirtversuch. Sie kennt hier noch niemanden. Jedenfalls noch nicht. Was dann folgt sind witzige, aufregende, beinharte, schweißtreibende zwei Stunden. Keine Emotionsachterbahn, vielmehr ein freier Fall in absolute Tiefe. Mehr geht nicht.
                      In vollkommenen Bewusstsein des Pathos all dieser Worte: Sebastian Schippers Experiment eines gänzlich auf Schnitte verzichtenden Films als gelungen zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahres. Natürlich reicht es nun, den Figuren einfach zu folgen, anstatt ihnen bedeutungsvolle Drehbuchzeilen in den Mund zu legen, um sie zu kennen. Die unglaubliche Nähe zu den Charakteren ist sicher eine Stärke des Films, die, genau wie das herausragende Schauspiel, der Stil provoziert. Doch VICTORIA ist nicht nur zweistündiges, hautnahes Erleben, das man, sobald der Abspann rollt, abgeschüttelt hat. Es ist die nachhaltige oder vielmehr die nachhaltigste Vorführung der Sinnlosigkeit von Kriminalität. Eine Abschreckung. Körperlicher wie psychischer Horror. Das überstieg meine Erwartungen immens. Schipper hätte nicht das völlige Risiko gehen müssen. Er hätte die schwierigsten Szenen am Anfang abdrehen und den Rest des Films souverän über die Ziellinie bringen können. Er hätte mehr filmische Kniffe verwenden können, anstatt die Charaktere atmen zu lassen. Er hätte den erwartungsvollen Kuss vorziehen und die ungewohnte Schüchternheit wegstreichen können. Doch er will das Absolute. Pure Authentizität. Ekstase. Auch beim Zuschauer. Hier hat ausnahmsweise Mal die Masse Recht und die des Notizblock-Kritikers Unrecht. VICTORIA zeigt wie kein zweiter Film, dass das Medium so viel mehr zu bieten hat als raschelnde Drehbuchseiten, auch wenn die Veranschaulichung dessen sicher mehr als ein wenig Kopfschmerzen gekostet haben dürfte. Filme wie dieser werden daher eine Ausnahme bleiben. Aber die Willkommenste von allen.

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                      • 9

                        Einer gegen alle. Schnörkellos. Gnadenlos. Einer nach dem anderen versinkt im blutigen Kugelhagel und wird mit einem saucoolen One-Liner in die Hölle geschickt. Und das auch noch im Unterhemd. 100% Baumwolle. Ein feuchter Männertraum wird wahr.

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                        • 8 .5
                          über Carol

                          "Carol" wirkt mit seinem farblich fein abgestimmten Szenenbild auf Sirk-Niveau und Darstellerkino mit einem Hauch von Upper Class sicher ein wenig wie Oscar-Futter, doch ist der Film viel mehr als das. Wo Haynes noch in seinem damals schon feinfühligen "Far from Heaven" sexuelle Tabus der 50er zwischen scheinheiligen Vorort-Kaffeekränzchen mehr aus dem Blickwinkel Außenstehender beschäftigten, steht nun die gegenseitige Liebe zweier Menschen ganz im Zentrum, die nur zufällig dasselbe Geschlecht eint. Eine Liebesgeschichte schon fast im Sinne eines "Brokeback Mountain" beispielsweise, wo Gesten oder gar Blicke und Berührungen, man mag die Floskel mir verzeihen, mehr sagen als 1000 Worte. Wo die drei Worte "I love you" wirklich noch etwas bedeuten.

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                          • 8

                            Die Hitze und Einsamkeit spürbar. Nur sehr leise hört man wie ein Mann einen Fuß nach dem anderen auf die maroden Holzdielen setzt, während ein Windrad unentwegt quietscht und eine Fliege unaufhörlich um den Mund des grimmig dreinblickenden Fremden summt. Ein Zug kommt an und die Männer warten in Totenstille auf eine mögliche Gefahr, die sich jedoch vorerst bedeckt hält. Nichts rührt sich, doch das Unbehagen bleibt. Und schließlich ertönt in greifbarer Nähe eine Mundharmonika ...
                            Schon die Anfangsszene aus Leones Meisterwerk ONCE UPON A TIME IN WEST deutet voraus, was diesen Film so einzigartig macht: Die knisternde Spannung, die Kälte inmitten all der Hitze, hervorgerufen durch eine beunruhigende Wortkargheit und Kameraeinstellungen, die sorgfältig das regungslose Mienenspiel seiner Figuren beobachtet und mit verdächtiger Ruhe immer wieder leere Gebäude und einsame Schauplätze abfilmt. Dazu noch ein Ennio Morricone am Höhepunkt seines herausragenden Schaffens und eine Atmosphäre ist erzeugt, die einem die Schuhe auszieht und fast drei Stunden lang zum bedingungslosen Mitfiebern anregt. Sergio Leone hat hiermit ein inszenatorisches Wunder geschaffen, das jeden kleinsten narrativen Makel vollkommen nichtig macht und vermutlich heute noch seinesgleichen sucht.

                            9
                            • 8

                              Völlig zurecht einer DER Vertreter des neorealistischen Films und immer wieder Fixpunkt filmgeschichtlicher Aufarbeitungen. Der Film spielt in der Zeit der deutschen Besatzung Roms um 1943, Mussolini ist gestürzt und dennoch sehen sich die italienischen Bürger weiter dem Faschismus unterworfen. Die Dinge werden mit der Zeit schlechter und nicht besser. Wir atmen Zeitkolorit: Die Not, der Hunger und die Hoffnungslosigkeit, die beinahe im Nihilismus mündet. Wenn der Pfarrer beginnt, Menschen zu verdammen, was bleibt dann noch? – Doch da gibt es eine über allem stehende Ethik, die von keiner Ideologie tot zu kriegen ist, ein Gedanke, das Pfeifen der Kinder im Wind. Ein Hauch von Pathos inmitten grausamer Realitäten – genau das, was ein Filmliebhaber braucht.

                              8
                              • 8

                                Ein Tanzwettbewerb wird zur Eintrittskarte nach Hollywood und schon fängt das große Träumen an. Der Traum, ein Star zu werden, der Traum von einer Villa mit Swimming Pool und zwei süßen Chiwawas, der Traum von Tennis vormittags und Golf am Nachmittag, der Traum in allen Zeitungen zu stehen, der Traum ein Idol für andere zu sein - Nichts von alldem wird wahr werden. Nein, Hollywood wird zum Albtraum. David Lynchs zuerst verschleierte, letztlich jedoch kaum offensichtlichere Abrechnung mit der Traumfabrik kann bzw. muss man als ein cleveres zweiteiliges Konstrukt sehen, ein Spiel mit dem Publikum, mit der Hoffnung und mit der Zeit, das den Zuschauer für lange Zeit im Dunkeln tappen lässt und schließlich den emotionalen Sturzflug der letzten halben Stunde umso deprimierender macht. Naomi Watts ist eine Wucht. Die Flucht in aussichtsreiche Tagträume, in denen alle Mitmenschen nett und zuvorkommend sind, die Schuldigen die letzten Deppen darstellen und Karriere und Liebe Hand in Hand einer gesegneten Zukunft entgegentreten, wird zur Farce, sobald sie von der knallharten Realität wieder eingeholt werden, wenn eine Seele am schwärmerischen Mythos Hollywoods jämmerlich zugrunde geht. David Lynch tarnt die träumerische erste Hälfte, den Hauptteil des Films, mittels eher unerheblichen Story-Elementen und rätselhaften Details, die der eigenen Interpretation obliegen, als einfachen Mystery-Thriller, um letztendlich das halbe Drehbuch über Bord zu werfen und dem Film eine schockierende wie substantielle Note zu verleihen. Doch damit nicht genug: In einem letzten selbstzerstörerischen Akt der Wut, der Enttäuschung und der Eifersucht werden daraufhin Figuren, Namen und Leben ausradiert, sodass am Ende absolut nichts mehr übrig bleibt - außer ein geplatzter Traum.

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                                • 8
                                  über Michael

                                  Was löst schon allein das Wort "Kindesmissbrauch" bei jedem von uns verschiedenste emotionale Reaktionen hervor. Einige empfinden Mitleid, andere sogar Hass und wieder andere machen dicht und versuchen dem Thema aus dem Weg zu gehen. Unseriöse Medien beeinflussen die Meinung von Konsumenten, immer mehr Autos verkleiden ihre Heckscheibe mit der Aufschrift "Todesstrafe für Kinderschänder". Schön, dass es da einen Film wie MICHAEL gibt, der sich diesem höchst brisanten Thema sehr behutsam nähert und durch seinen dokumentarischen Stil den Zuschauer lediglich als Beobachter fungieren lässt, der seine Ansichten lieber selbst bestimmt. Den Fokus legt Schleinzer dabei auf den Entführer Michael, dessen Taten weder verharmlost noch verurteilt werden. Ob Michael für den kleinen Wolfgang kocht, ein Kinderzimmer für ihn einrichtet oder sogar mit ihm in den Zoo geht: Er ist noch weit entfernt von der Vaterfigur, die er darzustellen versucht, denn in dieser Beziehung fehlt es an Liebe und Verständnis und natürlich bleibt er ein gesellschaftlicher Außenseiter, sobald der Film tiefer geht, den Deckmantel Michaels gutbürgerlichen Lebens öffnet und den Kern seines Wesens aufzeigt. Da die Thematik schon fesselnd genug ist, belässt es Schleinzer bei einer schlichten Inszenierung, die den Zuschauer emotional dennoch mitreißt. Denn eigentlich makabere und bedrückende Szenen lösen durch ihre nüchterne, ja fast schon alltägliche Betrachtung ein ständiges Unbehagen beim Zuschauer aus. MICHAEL ist ein äußerst wichtiger Film, der mit einem schwierigen und vor allem sensiblen Thema wohl überlegt umgeht, nie zu viel und nie zu wenig zeigt und im idealen Moment den Abspann einleitet. Österreichiches Kino nahe der Perfektion.

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                                  • 8

                                    Wo schon Sam Mendes in AMERICAN BEAUTY und REVOLUTIONARY ROAD in den letzten Jahren das amerikanische Vorstadtleben studierte, nutzt auch Todd Field jenen Ort als stereotype Plattform für seine universelle Kritik an der Gesellschaft. Wohin diese hinausführt, kann der nachdenkliche Zuschauer bereits anfangs erahnen. Plappernde, einfältige Damen mit nichtigen Problemen, die wie kleine Schulmädchen einen gut aussehenden Mann anhimmeln, ohne mit ihm auch nur ein einziges Wort gesprochen zu haben, stehen sinnbildlich für die folgenden Ereignisse, welche die Bewohner von East Wyndam schonungslos demaskieren werden. Ob wir nun zwei Menschen beim Fremdgehen beobachten, die ganze Gegend vorurteilshaft gegen einen Pädophilen hetzt oder wir zu Beginn Zeuge jenes obigen Beispiels werden: Der Titel des Films springt einem von Szene zu Szene förmlich ins Gesicht und begleitet seine Figuren bis zu seinem schockierenden Ende. Ja, hier gibt es wenig zu lachen. Trauer und Schwermut stehen sowohl hinter, als auch vor dem Bildschirm im Mittelpunkt und gleitet hin und wieder in intensiven Seelenschmerz ab. So zum Beispiel, als der frühere Sexualstraftäter Ronald James McGorvey (Jackie Earle Haley) ein Schwimmbad voll mit Kindern besuchen will oder als die scheinbar einzig reife Person des Films und Protagonistin Sarah schließlich erkennt, dass auch sie sich nicht zwingend vom Rest des naiven Menschenschlags unterscheidet. Es ist schlichtweg beeindruckend, wie detailliert Field jede Einzelne seiner Figuren zu zeichnen vermag und so das Interesse des Zuschauers weckt, während er sie, trotz ihrer Schwächen, Fehler und manchmal hassenswerten Handlungen doch stets gewöhnliche Menschen sein lässt, die in uns Verständnis und Mitgefühl finden. Hinzu kommt ein bärenstarker Cast, der dafür sorgt, dass die clevere Story fast immer authentisch und nur sehr selten konstruiert erscheint.
                                    Fazit: LITTLE CHILDREN ist eine schlichtweg beeindruckende, teils verstörende Filmerfahrung, die einige schwierige Themen beinhaltet, diese aber stets sorgsam und niemals oberflächlich behandelt. Ein Film, dessen große Stärke in seiner beunruhigenden Stille liegt, die uns aus dem heilen Dasein oftmals erschüttert und scheinbar unmenschliche Charaktere zu Menschen werden lässt. Man bedenke, sie sind doch alle nur kleine Kinder.

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                                      Punsha 04.01.2020, 11:37 Geändert 04.01.2020, 13:31

                                      Der Humor ist teilweise echt blöd.
                                      Dennoch überzeugt Rian Johnsons Originaldrehbuch mit manch pointiertem Einfall und einer Story, die geschickt und überzeugend seinen Whodunit-Plot mit politisch-gesellschaftlichen Einschlägen verwebt.

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                                        Ein zu seiner Zeit sehr mutiger Klassiker, der nicht nur durch sein cleveres, herrlich groteskes Drehbuch amüsiert, sondern vor allem den blinden Gehorsam der Deutschen offenlegt und die Nazis überzeugend zu Witzfiguren degradiert.

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                                          Willkommen in der großen Stadt: Da, wo das Leben stattfindet, kleine zu großen Menschen wachsen, Chancen genutzt und vertan werden. Mittendrin ein junger Bursche voller Ideen und Visionen und unberührt vom Bösen, das unter all den Menschen auf ihn lauert. Und hoch hinaus will er, vom Keller bis in die letzte Etage des Hudsucker-Buildings, begeistert von seiner Erfindung, die "für Kinder" sei und von der er sich den großen Durchbruch erhofft. Von der ersten Liebe bis zu den ersten Erfolgen schafft er auch tatsächlich den Sprung nach ganz oben, doch was passiert, wenn man dort angekommen ist und es keine Treppe mehr gibt, die man noch hinaufsteigen kann? Im Schatten einer riesigen Turmuhr und unter dem Klang des zwölften Glockenschlag des 31. Dezembers zelebrieren die Coens schon auf dem Höhepunkt ihres inszenatorischen Könnens (dieser Balkonkuss <3) die seelische Reinigung Norville Barnes', einem Helden, der erst wieder ganz unten ankommen muss, zum Niemand werden muss, der er war, um zu erkennen, wer er wirklich ist. In Spielberg'scher Tradition und ganz im Sinne lebensbejahender Festtagsfilme Capras & Co erzählen die Brüder von guten und von bösen Menschen, von Träumen, Schicksalen und Zufällen, von Heldentum und Missetaten unter einem märchenhaften Zauber, der eine allzu verkopfte Aufmachung vollkommen überflüssig macht. Und so dürfen - nein, so sollten Feiertagsfilme auch sein.

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                                            Bitte am Wochenende schnell noch reingehen: Kreativ, magisch, außergewöhnlich, außergewöhnlich gut.

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                                              Von der Produktionsfirma eingehend verändert und kommerzialisiert, stellt der etwas andere Film noir „Im Zeichen des Bösen“, der als das Ende seiner genrebezogenen Ära gilt auch das Ende Welles' Hollywoodlaufbahn dar, der von dieser Bevormundung zurecht verärgert nach diesem Film nur noch in Europa arbeitete. Doch zum Glück gibt es inzwischen eine Version, die wohl weitestgehend den Wünschen des Regisseurs entsprach und von der ich nun in den nachfolgenden Zeilen berichten werde.

                                              Eine Bombe wird in den Kofferraum eines Autos platziert, welchem die Kamera minutenlang über befahrene Straßen, staubige Gassen und marode Häusern folgt. Doch schnell gebührt die Aufmerksamkeit eines nebenher vergnügt auf dem Fußweg entlangschlendernden Paares, die Frau Amerikanerin, der Mann Mexikaner. In dem Moment, in dem sich ihre Lippen berühren und der flüchtige Gedanke in ihren Köpfen weilt, gemeinsam hier in Los Robles, an der amerikanisch-mexikanischen Grenze, glücklich zu werden - Genau in jenem Moment explodiert die Bombe und in den Köpfen kehrt wieder Realität ein, der traurigen Wahrheit ausgesetzt, dass diese Stadt dreckig und verkommen ist. Diese populäre und unvergessliche Eröffnungsszene des Films führt den Zuschauer wunderbar in die raue Atmosphäre, die allgemeine Stimmung unter den Bürgern und den Zustand jenes Grenz-gelegenen Städtchens ein. Nutten gibt es hier reichlich, mit Drogen wird das große Geld gemacht, Morde und Gewaltverbrechen stehen an der Tagesordnung und über dem ganzen Schmutz steht, wie soll es auch anders sein, ein korrupter Polizeichef. Orson Welles höchstselbst spielt jenen zynisch-grimmigen Antagonisten Quinlan mit furchteinflößender Eleganz und zeigt erneut, was für ein begnadeter Schauspieler er war. Mühevoll versucht er sich durch hässliche Schandtaten beim Publikum unbeliebt zu machen. Welles zeichnet Quinlan aber hintergründig als einen bemitleidenswerten Mann, der für die hohe Kriminalität in seiner Stadt nicht verantwortlich ist, sondern an ihr zugrunde ging, bis er selbst zu dem wurde, was er einmal zu bekämpfen glaubte. Er hat die Welt gesehen und das, wozu sie fähig ist.

                                              Nicht so sein junger, idealistischer und mexikanischer Gegenpart Vargas (Charlton Heston), der der Korruption den Kampf ansagt und der festen Überzeugung ist, die Stadt noch säubern zu können. So kommt es zu einem erbitternden, scheußlichen Krieg zwischen zwei scheinbar grundverschiedenen Charakteren, in dem der Kampf zwischen Engel und Teufel nicht selten auch zum Wechselspiel avanciert. Genauso also wie es hier gute und böse Mexikaner, gesetzestreue und gesetzlose Amerikaner gibt - nicht zufällig spielt der Film an einer Staatsgrenze -, verschwimmen langsam grundlegend die Grenzen zwischen Gut und Böse, bis sie kaum noch voneinander zu unterscheiden sind. Immer öfter hört man dem Schurken die unheilvolle Wahrheit aussprechen, zu der der Zuschauer zum Kopfnicken verdammt ist und immer seltener fiebern wir mit dem für Gerechtigkeit kämpfenden Helden mit. Welles zerstört filmtypische Rollenerwartungen und Klischees und stellt in einem spannenden wie ergreifenden Film eine neue Ordnung her, indem er die Gleichheit aller Individuen, das Unmenschliche im Menschlichen, das Gute im Bösen gesucht und gefunden hat.

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                                                Mit welcher Ruhe und Präzision Mike Leigh seine liebevoll geschriebenen Figuren Stück für Stück entblättert und hier die Schattenseiten des auf den ersten Blick ach so harmonischen Spießbürger-Daseins offen legt, ist schlichtweg bewundernswert. Das alles geschieht aus der Perspektive des aufmerksamen, unparteiischen Beobachters, der dem Zuschauer unauffällige, doch umso vielsagendere Blicke und Gesten offenbart, die dem harmoniesüchtigen Ehepaar Tom und Gerry (die Namen sind Programm) entgehen oder entgehen wollen. Die Probleme ihres Umfelds nämlich, so gut gemeint und wohl erzogen sie sie auch halbherzig zu lösen versuchen, werden mit zunehmender Vehemenz zum Dorn im Auge, das die scheinbare Idylle stört.

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                                                  Swingerpartys, Partnertausch, Cybersex, Loveparade, das erste Mal mit 14, Brustimplantate, Oberteile mit Ausschnitt, geschiedene Ehen, Borats Badeanzug: Es hat etwas von einem zweiten Urknall, der irgendwo in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben muss, wenn man unsere heutige Gesellschaft mit der vor gerademal fünfzig Jahren vergleicht. Und tatsächlich gab es einen solchen Urknall mit der sexuellen Revolution Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, die ein Umdenken der Sexualmoral unserer Gesellschaft einleitete. Doch wenn man die oben genannten Beispiele als Resultate dieser Entwicklung heranzieht, stellt sich die Frage, ob der Wandel zu einer freizügigeren und sexuell aufgeklärten Gesellschaft tatsächlich positiv zu bewerten ist. Ang Lee stellt in seinem dramatischen Meisterwerk DER EISSTURM zumindest das infrage, wovor viele Soziologen schon seit langer Zeit warnen: Dem Verfall unserer Gesellschaft.
                                                  Um sich nun möglichst tiefgreifend mit dem Thema auseinanderzusetzen, versetzt Lee uns zurück in die Zeit, in der alles ihren Anfang nahm und sich neue Anschauungen der Moralität bereits auf die amerikanischen Vorstädte ausbreiteten. Im Jahre 1973, wo die Worte Vietnamkrieg und Watergate-Affäre politische Diskussionen beherrschten, waren gemeinschaftliche Diskussionen schon von Ehekrisen und Vibratoren geprägt. Eine neue Redefreiheit etablierte sich, die kaum noch Tabus kannte und die Menschen über jede weitere abgeworfene Last sittlichen Denkens euphorisch stimmte, womit uns Lee gleich zu Beginn vertraut macht. Ben (Kevin Kline) und Elena Hood (Joan Allen) scheinen ihre Freiheiten in allen Zügen zu genießen. Doch umso tiefere Einblicke der Zuschauer mit fortschreitender Dauer in die familiären Beziehungen bekommt, desto deutlicher werden ihm die Missstände klar, die der gesellschaftliche Umschwung trotz seiner Vorteile mit sich bringt. Kinder ohne Kindheit sind Resultate mangelnder Erziehungserfahrung und Fürsorge der Eltern, die zunehmend der Gleichgültigkeit, der Lethargie und einem ungesunden Egoismus verfallen. Erst ein tragisches Ereignis scheint die handelnden Protagonisten schließlich aufzuwecken und Besserung anzustreben. Ein wenig zu spät möchte man meinen.
                                                  Dass Lee hier mit seiner geradezu minimalistischen Inszenierung eine solch ergreifende und aufwühlende Sozialstudie schafft, ist schlichtweg beeindruckend. Kühl und nüchtern passt er seinen Film auf die Grundstimmung seiner Figuren an, ohne jemals zu langatmig zu geraten, bis die Emotionen letztlich aus den Protagonisten, genau wie aus dem Zuschauer förmlich herausplatzen und in einem Meer voll Tränen münden. Der gesamte Cast, angefangen bei einer 16jährigen Christina Ricci mit ihrer wohl bisher besten Karriereleistung bis zum für mich viel zu unterschätzten Kevin Kline, liefert hier fernab großer Gefühlsausbrüche, dafür aber mit authentischem und lebhaften Schauspiel eine regelrechte Meisterleistung ab. Worin aber die größte Stärke des Films liegt, ist seine Zurückhaltung, die dem Publikum weder eine Meinung aufzwingt, noch über seine Figuren mit dem großen Zeigefinger richtet. Stattdessen werden wir aufgefordert, uns zu hinterfragen, werden nachdenklich gestimmt und schließlich in dramatischen Gefilden vom Schicksal ergriffen und erschüttert. Unfassbar also, dass DER EISSTURM an den Kinokassen floppte, aber das ist wiederum ein anderes gesellschaftliches Dilemma. Wahrscheinlich sollte Lee darüber auch noch einen Film drehen.

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                                                    WALL-E schaffte genau das, was nur den allerwenigsten Animationsfilmen gelang: Für Kinder und Erwachsene gleichermaßen zugänglich zu sein, zu unterhalten und zu fordern. Das detailreiche Zukunftsszenario wird ebenso für clevere und schrullige Einfälle wie die kritische Auseinandersetzung besorgniserregender Entwicklungen des neuen Jahrtausends genutzt. Ob Einsamkeit, Leere, Trauer, Euphorie oder Liebe: Den zumeist schweigsamen Robotern vermochte man weitaus mehr Leben einzuhauchen als das ein Will Smith im ähnlich dystopischen I AM LEGEND vermochte, sodass der Zuschauer problemlos eine tiefe emotionale Bindung mit den Trickfiguren eingeht, was WALL-E zugleich zu einem spaßigen, süßen, emotionalen wie auch nachdenklich stimmenden Erlebnis macht. Wohl das beste, was Pixar je hervorgebracht hat.

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