At Eternity's Gate: Wir wissen Willem Dafoe nicht genug zu schätzen

03.09.2018 - 19:15 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
At Eternity's Gate
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At Eternity's Gate
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Willem Dafoe spielt Vincent van Gogh in At Eternity's Gate, ein perfektes Casting. Außerdem stellt László Nemes in Venedig Sunset vor, den Nachfolger seines oscarprämierten Debüts Son of Saul.

Willem Dafoe ist zwar nicht der meistbeschäftigte Mann in Hollywood. Diese Ehre geht an Eric Roberts, der laut IMDb für dieses und die nächsten Jahre sage und schreibe 67 Projekte in variierenden Stadien der Produktion hat. Die Serien habe ich nicht mitgezählt. Dafoe ist dennoch überall. So überall, wie es nur ein Charakterdarsteller sein kann. Er springt von Indie-Filmen wie The Florida Project zu Aquaman, taucht in chinesisch-amerikanischen Experimenten auf (The Great Wall), erweist sich als das einzig sehenswerte Element eines Netflix-Films (Death Note), verfeinert Krimi-Kost (Mord im Orient-Express), spielt große (Pasolini) und kleine Rollen für Autorenfilmer (Dog Eat Dog) und wirft für Wes Anderson Katzen aus dem Fenster (Grand Budapest Hotel). Willem Dafoe ist im Kino zu allem bereit und einer der wenigen Schauspieler in Hollywood, die sich vom Fernsehen in seinem golden wuchernden Zeitalter fernhalten. Stattdessen spielt er mal eben den gequälten Künstler schlechthin, den Post-Impressionisten Vincent van Gogh und läuft damit beim Festival in Venedig. At Eternity's Gate heißt das Biopic, das sich ähnlich wie der neue Film von Son of Saul-Regisseur László Nemes (Sunset) an die Perspektive seiner Hauptfigur klammert, mit unterschiedlichen Mitteln und ähnlich beschränkten Ergebnissen.

Willem Dafoe spielt Vincent van Gogh - eine Idealbesetzung

"Do you get angry sometimes", wird Vincent van Gogh in dem Film von Julian Schnabel (Schmetterling und Taucherglocke) gefragt. Er hatte mal wieder einen dieser Ausbrüche, an die sich der im Süden Frankreichs lebende Maler nicht mehr erinnern kann. "Yes", lächelt van Gogh, sprich: lächelt Willem Dafoe, und zwar das breite, bei dem sich die Zähne zeigen. Das bösartig breite Grinsen des Grünen Kobolds sehen wir nicht, vielmehr eine weiche, schüchterne Version. So breit lächelt nur Willem Dafoe. Die spitz zulaufende Nase tritt hervor, die Wangen legen sich in Falten, die Zähne blitzen auf. Willem Dafoe, der Mann, der seine Wäsche selbst macht, hätte den Joker aus Tim Burtons Batman-Film ohne Schminke spielen können. Für die Rolle war er damals, wenige Jahre nach seinem Durchbruch in Straßen in Flammen, im Gespräch gewesen.
At Eternity's Gate

In At Eternity's Gate spielt er naturgemäß in einem sanfteren Kaliber. Van Gogh ist ein Einzelgänger, der die intellektuelle und freundschaftliche Verbindung sucht. Er will an die blühende Künstlerszene in Paris anschließen, doch Kollegen weisen seine Versuche einer Künstlergemeinschaft ab, und er seinerseits die überfordernde Stadt. Hier setzt der Film ein. Julian Schnabel, hauptberuflich Maler, startete seine Regiekarriere mit einem Künstlerfilm (Basquiat). Er betont, seine Annäherung an van Gogh sei keine "forensische Biografie eines Künstlers". Nichtsdestotrotz hält sich der Film an die berühmten Stationen des Vincent van Gogh, wie wir ihn heute kennen, nämlich in seinem Stil angekommen. 1888 zog van Gogh von der Hauptstadt in den Süden nach Arles, wo einige seiner bekanntesten Werke entstehen. Wo es zum Bruch mit Gauguin (Oscar Isaac) kommen wird und zur Selbstverstümmelung.

At Eternity's Gate wirft sich in van Goghs Perspektive

Van Gogh begibt sich auf die Suche nach einem neuen Licht und die Kamera von Benoît Delhomme folgt ihm über saftige Wiesen, Felder und Hügel. Sie heftet ihren Blick mit ihm an die ausgetretenen Lederschuhe im hohen Gras und an seine knochigen Hände, die das Wahrgenommene auf der Leinwand übersetzen. Subjektiv, ganz der Hauptfigur verschrieben, zeigt sich die Inszenierung von At Eternity's Gate, die vielfach van Goghs Blick zu imitieren sucht. Der Versuch, ein Gefühl für seinen mentalen Zustand filmisch einzufangen, geht so weit, dass die Bilder gelb getüncht werden. Überlagerungen und Unschärfen am unteren Rand sollen das geistige Bröckeln manifestieren.

Inszenatorisch greift Schnabel auf Mittel zurück, die ihn für Schmetterling und Taucherglocke Jubel einbrachten. In At Eternity's Gate zeigt der Drang nach Subjektivität jedoch nur, wie viel trotzdem verborgen bleibt. Die Versuche van Goghs Welt erfahrbar zu machen, verstellen durch die gestelzte Perspektive den Blick. Van Gogh erklärt, beim Malen nicht denken zu müssen. Bei Schnabel erscheinen ausgerechnet diese Szenen zerdacht. Die wenigen Ausnahmen: das stille Beisammensein mit Bruder Theo (Rupert Friend) im Hospital, eine Diskussion über das Wesen seiner Kunst mit Gauguin, eine mit einem Priester (Mads Mikkelsen). Da werden nämlich die Darbietungen nicht filmisch zugekleistert.

Sunset

Sunset, der Nachfolger des Oscar-Gewinners Son of Saul

Ein anderes, ähnliches Problem der Perspektive offenbart sich in Sunset, dem Wettbewerbsbeitrag des Ungarn László Nemes. 2015 hatte er mit dem Holocaust-Thriller Son of Saul in Cannes für Aufsehen gesorgt, dort den Grand Prix und später den Oscar für den Besten fremdsprachigen Film gewonnen. In seinem Zweitling Sunset widmet sich Nemes mit seinen Ko-Autoren Clara Royer und Matthieu Taponier Österreich-Ungarn ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Speziell geht es um die aufstrebende Metropole Budapest. 1913 steigt hier eine junge Frau aus dem Zug, die von der Kamera in den kommenden 140 Minuten so gut wie nie aus dem Blick verloren wird.

Írisz (Juli Jakab) heißt mit Nachnamen Leiter, genau wie das glanzvolle Hutgeschäft, in dem sie auftaucht und um eine Stelle bittet. Vor Jahren hatte es ihrer Familie gehört. Ein Feuer hatte dem ein Ende gesetzt, vielleicht war es ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung. Es würde zu der Stadt passen, die tagsüber glanzvoll in der Sonne aufleuchtet, als wäre das neue Jahrhundert hier als erstes angebrochen. In den Schatten bricht die Gewalt zügellos hervor, hereingetragen von Vertretern der österreichischen Krone, aber ebenso den diffusen Schichten Budapests. Diffus, weil Sunset im Wesentlichen daraus besteht, dass Írisz von wortkarger Gestalt zu wortkarger Gestalt irrt, um nach ihren Eltern und ihrem Bruder zu fragen, und die für wortkarge Gestalten erwartbaren Antworten erhält.

Unschärfe regiert in Sunset von László Nemes

140 Minuten Spießrutenlauf beschreibt Sunset ganz gut, was durch die selbst auferlegten Beschränkungen der Perspektive verstärkt wird. Wie schon in Son of Saul klemmt sich die Kamera über weite Strecken an die Schulter der Heldin, während die restliche Welt in Unschärfe verfällt. Es ist also keine echte Einnahme ihrer Perspektive (oder sie sollte dringend zum Augenarzt), sondern visuelle Taubheit, die dadurch erzeugt wird. Bei Son of Saul fügte sich das in den Umgang der Hauptfigur mit dem täglichen Grauen ein. In Sunset frustriert diese zwanghafte Enthaltsamkeit.

In gewisser Weise ist das subversiv für einen Film, in dessen Wiederauferstehung des historischen Budapest viel Geld geflossen ist. Ebenso lässt sich nicht abstreiten, dass Nemes ein Händchen für die Suggestion von Unmittelbarkeit besitzt. Man wähnt sich am Flussufer der Donau, wo Hunderte ihr Lebewohl rufen, bevor der Dampfer nach Wien ablegt. Das Gefühl des Aufbruchs in der Metropole fängt Sunset durch die Tongestaltung und das Gewimmel auf den Straßen außerordentlich gut ein. Letztendlich sehen wir hier einem Künstler bei einem Entfesselungstrick zu, der nicht aufgeht. Írisz' Suche nach Antworten verläuft sich in der Redundanz, was übrigens auch auf die Gewalteinbrüche zutrifft. Die großen szenischen Gesten - wenn man also merkt, dass da jemand etwas ausdrücken möchte über dieses Land und sein Schlittern in den Krieg - bleiben unverdient. László Nemes ist ein talentierter Regisseur, aber dieses Korsett hat sich bereits beim zweiten Film abgenutzt.

Dass weder Sunset noch At Eternity's Gate in ihrer überspannten Inszenierung auf die Nerven fallen, liegt an den Darstellern im Bildmittelpunkt der Kamera. Es ist ein Wunder, dass Juli Jakabs eiserner Blick die Menagerie an abstoßenden Männergestalten in Sunset nicht zum Einstürzen bringt. Willem Dafoe lässt indes tief blicken in die Zerbrechlichkeit und Einsamkeit seines Maler-Genies. In Hollywood-Filmen gibt Dafoe das ideale Schurkengesicht ab. Mit dem Strohhut auf dem Kopf und der Staffelei auf dem Rücken ist er nun die ideale Besetzung eines sensiblen Künstlers. In den Zügen, die sich sonst so bitterböse zusammenziehen können, spiegelt sich van Goghs erschöpfende Empathie für seine Umwelt. Willem Dafoes Gesicht - das könnte ein Maler erfunden haben.

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