Polizeiruf 110: Ein aufreibender Paranoia-Thriller

19.10.2014 - 20:10 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Polizeiruf 100: Smoke on the Water
BR/ARD
Polizeiruf 100: Smoke on the Water
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Mit dem heutigen Polizeiruf aus München präsentiert uns Regisseur Dominik Graf einen ausgezeichneten Paranoia-Thriller zwischen Münchner Adel und Politik. Geradliniger als Grafs letzte Sonntagskrimis, aber nicht weniger sehenswert. Im Gegenteil.

Als Matthias Brandt in Polizeiruf 110: Cassandras Warnung in den Abspann tanzte, dürften so manche Zuschauer verstört ins Bett geflüchtet sein. Auch nach Tatort: Aus der Tiefe der Zeit fielen die Reaktionen vielerorts ins Extrem. Je nachdem, wen man fragte, war es ein kleines TV-Meisterwerk oder abgehobene Möchtegern-Kunst ohne ersichtlichen Spannungsbogen. Ich habe keine Ahnung, ob Polizeiruf 110: Smoke on the Water das Wort mit dem großen M verdient, von einem bin ich aber überzeugt: Es gibt kaum einen Krimi, der eingängiger darstellt, was die TV-Arbeiten von Regisseur Dominik Graf für einen Kreis Cinephiler so attraktiv macht. Der neue Sonntagskrimi um Hanns von Meuffels (Matthias Brandt) nimmt sich einer an Polizeifilme und Paranoia-Thriller der 1970er erinnernden Ästhetik an, um EU-weite Korruption aufzudecken. Ein Mord aus Leidenschaft, wie er zu Beginn noch angenommen wird, wäre im Vergleich ein Sonntagsspaziergang.

Polizeiruf 110: Smoke on the Water

Günter Schütter schrieb schon die Drehbücher für Grafs Tatort: Frau Bu lachtPolizeiruf 110: Der scharlachrote Engel und Cassandras Warnung. In Smoke on the Water beginnt alles mit der Auflösung eines Falls: Von Meuffels verhört den Jazz-Musiker Mischa Eigner (Marek Harloff), der eine Journalistin ermordet haben soll. Allein sitzt der Kommissar mit Eigner in einem kargen Verhör-Zimmer. Die S-Bahn-Licher sausen über die Wände, Flashbacks brechen das Gespräch auf, mal zur Tatnacht, mal zur Tatortsicherung. Ein Geflecht verschiedener Zeitebenen verwirrt zunächst, bis Eigner plötzlich gesteht und zusammenbricht. Alles scheint unter Dach und Fach. Aber wenn von Meuffels zu melancholischen Saxophon-Klängen durch die erwachende Stadt läuft, werden zweierlei Dinge offenbar: Eigner deckt jemanden, und wir befinden uns mitten in einem 70er Jahre-Krimi. Als hätte Alan J. Pakula eine Folge von Derrick inszeniert.

"Ist es nicht seltsam, dass Glück nie Spuren hinterlässt?"

Das körnige Bild, sinnliche Bläser, treibende Percussion-Rhythmen und plötzliche Zooms auf erregte Frauengesichter lassen keinen Zweifel: Von Meuffels hat mit seinem Markenzeichen-Trenchcoat eine Zeitreise ins München vor 40 Jahren unternommen, um ein Nest korrupter Politiker auszuheben. FKK-Sonnenanbeter im Englischen Garten, spontane Orgasmen beim Mittagsmahl ("Das passiert mir öfter.") und überstilisierte Sexszenen sind da nicht fehl am Platz. Und doch stört etwas: die Computersoftware, um Schädelmodelle herzustellen, eine hochmoderne Fabrik für Präzisionstechnik, Chips unter der Haut, die den Kommissar orten lassen und natürlich die EU; nur gegründet, um als "Beute" aufgebahrt zu werden, wie Strahlemann von Cadenbach (Ken Duken) mal erklärt. Das wirkt etwas aktueller, als es der Polit-Idealist wahr haben will. Doch Schütters Drehbuch verlegt sich im Zusammenspiel mit Graf und Kameramann Hendrik A. Kley weniger auf den erhobenen Zeigefinger, wobei eine gewisse Empörung über den Stand der Dinge sich kaum verbergen lässt, wenn die Hintermänner hoch über der Stadt per Telefonkonferenz über Leben und Tod entscheiden.

"Reichtum hat doch nur einen Sinn, wenn es ein Publikum gibt."

Nach 40 Minuten erfahren wir in einem ausgedehnten Flashback, wer die Journalistin ermordet hat, aber damit nimmt das wahre Unheil erst seinen Lauf. Nach und nach verschwindet der anfänglich sehr willkommene Humor aus dem Krimi. Bewegt sich von Meuffels in der ihm wohlvertrauten adligen Parallelgesellschaft, erweisen sich auch deren schnöselige Vertreter bald als kleine Fische in einem Teich voller Haie. So spitzt sich die Lage im Finale zu, wenn aus Krimi Psychothriller wird, wenn der Kommissar nur hilflos zusehen kann, anstatt triumphierend durch die Reihen der Verdächtigen zu schreiten. Das ist herausforderndes Fernsehen wie immer bei den Filmen von Dominik Graf, der Filme dreht, bei denen selten abzusehen ist, was als nächstes kommt: eine Hommage ans italienische Kino der 70er oder, wie diesmal, ein Thriller im Stile des deutschen Fernsehens dieser Jahre, als die Produktion für die Mattscheibe noch zum Experiment, zum Überschreiten von Grenzen einlud? Am Ende des neuen Polizeirufs jedenfalls wird nicht getanzt. Es regiert die Fassungslosigkeit.

Mord des Sonntags: Das Blut spritzt bis an die Decke.

Zitat des Sonntags: "Ich glaube, Distanz ist die Voraussetzung jeder Wahrnehmung.


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