Im Kommentar der Woche stellen wir jede Woche einen eurer zahlreichen Kommentare auf die Bühne und lassen ihn singen, egal ob laut oder leise, alt oder neu, verstörend allegorisch oder auf den Punkt – die Voraussetzungen für den Kommentar der Woche kann theoretisch jeder Kommentar erfüllen. Wenn ihr über einen gestolpert seid, der euch um den Schlaf gebracht hat, schlagt ihn uns vor! Am besten per Nachricht an sciencefiction oder Kängufant.
Der Kommentar der Woche
Diese Woche bringt uns Intrastruktur einen Kommentar, der ebenso verstörend, so alptraumhaft, und so ultimativ beeindruckend und fesselnd ist, wie David Lynchs Meisterwerk Blue Velvet selbst.
Ab und an, auf einer weiten, saftgrünen und zumeist, wie durch Zauberhand wohltuend geordneten, zurechtgestutzten Alpenwiese, inmitten derer Kühe grasen, Bienchen summen und an deren Flanken Bauern ihre Ziegen von der Alm abtreiben, liegt ein Spiegel ohne Rahmen. Mehr eine reflektierende Fläche, die zerspringt, wenn ich mich nähern will. Das kenne ich schon. Daher schiele ich hinüber, von hinter dem Zaun, weil ich um das Sein dort drüben weiß und es ein wenig fürchte. Als würden da groteske Fratzen, bunte Clowns auf der Fläche tanzen, Kinderängste und Phobien.
Oben steht ein großer, künstlich gestreckter Mann an einer Grube,
langes Gesicht, schreiender, weit aufgerissener Mund, hält sich die
Augen zu, weil er nicht sehen will, aber schielt durch die
voreinander-ineinander geschobenen Finger ins tiefe Schwarz. Dort unten
ein Baby, klein, wehrlos, eingewickelt in vorgewärmte Decken, gestillt
mit vorgewärmter Milch; es leidet, es schreit zurück. Alles, was mich
von innen anstarrt, bin ich selbst.
Ich wende mich ab von diesem Zaun, lache mit verzerrter, weinender Grimasse. Scham und Schaum triefen aus den Mundwinkeln.
Zurück zur Wiese, denke ich, die Wiese. Langsam drehe ich den Kopf
zurück, mein Atem im Takt einer, wie ein rosa Zungenpendel schwingenden
Kuhglocke, die dumpf an zwei Fixpunkte der Hallen ihres Bronzeverlieses
klopft und hoffnungsgebrochen ihr Wehmutsmantra besingt. Alles
verlangsamt auf das Zehnfache seines Schmerzes. Auf das Zehnfache seines
Horrors. Das ist nur eine Glocke, denke ich, nur eine verdammte
Kuhglocke.
Plötzlich ist es da.
Holt mich ab.
Das Gefühl, über das ich nicht spreche.
Es kriecht sich seinen Weg über meinen Rücken in mein abgetrenntes Ohr. Flüstert mir seinen Reiz. Ich verfalle.
Jetzt sehe ich:
Es sitzt unter meiner Haut, genau wie unter meinen Nägeln. Wenn ich
morgens zum Bäcker laufe, sitzt es in den Ahornblättern, die es mir
kreischend flüstern. Es sitzt in paranoiden Blicken am Bahnhof, die mir
glasig, lüstern auf die Hände fallen, im Heben und Senken eines Bartes,
im Lachen eines Mädchens, im Takt des Klöppels in seinem
Glockengefängnis, in den blutgierigen Mücken am Fell meiner Lider. Es
sitzt unter jeder Fläche, in jedem Ding.
In meinen Träumen geht es mit mir, spricht mit mir, da bin ich sein.
Wie in Trance steige ich, seinem Ruf folgend, über den Zaun Richtung
Spiegel. Die Fläche hat sich verwandelt, ist längst nicht mehr nur
Spiegel, vom Zerbrechen befreit. Projektionsraum jetzt, hier hat es
mich, kann mich fassen.
Moment.
Da ist noch etwas Anderes. Jemand Anderer. Wer projiziert?
Er sitzt aufrecht auf einer Couch inmitten meines bunten Zimmers,
sein entstelltes Gesicht fällt auf und in meines hinein. Er leidet
schwer, sehr viel schwerer als Ich, der ich nur Tourist bin, gemästet,
geduscht, geshoppt und gefördert, meine Seele verhätschelt, seine Seele
gebrochen. Als wir uns anschauen, sehen wir uns. Ab da sind wir durch
uns und mit uns, fühlen unseren Schmerz.
Es ist noch da, aber wir teilen es jetzt. Schauen gemeinsam hinter Flächen.
Nur das Lauschen und das Schweigen, das macht jeder weiter für sich.
Und ich hör es noch, sein Rauschen im Gras, sein Zittern in den Blättern, sein Schreien in der Luft.
Sein Flehen in jedem Ding.