Virtuelle Realitäten - Gefesselt an das Holodeck

09.06.2016 - 09:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
The VR Cinema
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Anfang dieses Jahres hat in Berlin das erste Virtual Reality Cinema Europas eröffnet. Ist das der Höhepunkt der wechselseitigen Beeinflussung zwischen Filmen und Computerspielen? Wir wagen einen Blick in die mögliche Zukunft digitaler Unterhaltung.

Jedes Zeitalter sucht nach seinem geeigneten Medium, um den unbeantwortbaren Fragen der menschlichen Existenz auf den Grund zu gehen“, schrieb die Literaturwissenschaftlerin Janet H. Murray in ihrem 1997 erschienenen Klassiker Hamlet on the Holodeck, in dem sie erstaunlich genaue Voraussagen über die Zukunft des interaktiven Erzählens aufstellte. Für Murray lag diese Zukunft nicht etwa in den Hypertext-Geschichten, die mit dem Aufkommen des Internets gerade eine besonders hohe Popularität genossen, noch war sie in den Videospielen zu finden, die Ende der 1990er ebenfalls Hochkonjunktur hatten. Vielmehr stellte sie sich eine Form der interaktiven Unterhaltung vor, die eher an das aus Star Trek bekannte Holodeck erinnerte. Murray erhob die digitale Simulation zur Technologie, welche die Eigenschaften digitaler Umgebungen am besten ausreizt und prophezeite eine vollständige virtuelle Welt von in gegenseitiger Beziehung zueinander stehenden Entitäten, ein Universum, das wir nach Gutdünken betreten, manipulieren und dessen Wandel wir unmittelbar beobachten können.

Noch sind wir weit davon entfernt, mittels Holodeck durch virtuelle Welten zu streifen. Seit Anfang dieses Jahres können wir allerdings zumindest einen kleinen Blick darauf erhaschen, wo die Reise möglicherweise hingehen könnte. Nachdem er bereits in seiner Heimat Amsterdam erste Versuche unternahm, gründete der 26-jährige Unternehmer Jip Samhoud im Dachgeschoss der ehemaligen Münzerei mitten in Berlin das erste ständige Virtual Reality Cinema  Europas. Auf den ersten Blick wähnt man sich dort gar nicht in einem Kino, vielmehr erinnert das Etablissement an eine typische Szene-Bar mit rustikalem Ambiente. Macht nichts, Popcorn gibt es hier trotzdem.

Für 12,50 € bekommt man von Mittwoch bis Sonntag die Gelegenheit, ein etwa halbstündiges VR-Programm bestehend aus einigen Kurzfilmen und -dokumentationen zu sehen. Möglich wird dies durch eine GearVR-Brille, die aus der Kombination eines in einem speziellen Gehäuse befindlichen Galaxy-Smartphones von Samsung sowie Sennheiser-Kopfhörern besteht. Platz nimmt man in einem Drehsessel, um vom 360-Grad-Anblick der gezeigten Filme profitieren zu können.

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In erster Linie ist das Virtual Reality Cinema noch ein Event, das zwar viel Potenzial erkennen lässt, dem es aber noch an ausgereiften Techniken mangelt. Das Erlebnis steht im Vordergrund, und so wiederholt sich gewissermaßen die Evolution des Kinos, das ja ebenfalls als Jahrmarktsattraktion begann. Statt einer auseinandertobenden Menge bei der Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat schaut man hippen jungen Menschen dabei zu, wie sie sich quiekend um die eigene Achse drehen und die virtuellen Eindrücke auf sich wirken lassen. Dass der Spaß nach nur einer halben Stunde wieder vorbei ist, hat dabei auch seine gute Seite, denn noch kränkeln viele VR-Filme an dem berüchtigten Bahnhofeffekt: Dem Auge wird eine Bewegung vorgetäuscht, obwohl sich der Körper im Ruhezustand befindet, ähnlich wie die Illusion, dass unser Zug ins Rollen gerät, obwohl es nur der vom Gleis gegenüber ist. Kopfschmerzen und Übelkeit können die Folge sein.

Die Geburt des Zuschauers aus dem Geiste der Technik

Auch in einem technischen Sinne wiederholt sich im VR Cinema die Geschichte, denn die Sprache des Kinos lässt sich nicht vorbehaltlos auf das neue Medium anwenden, sondern muss von Grund auf neu erlernt werden, und das sowohl von Filmemachern als auch von den Zuschauern selbst. Beispielsweise gibt es keinen Bildausschnitt mehr, in den die Handlung gerahmt werden könnte. Da die Zuschauer in jede beliebe Richtung blicken können, müssen andere Techniken angewandt werden, um die Aufmerksamkeit zu steuern. In Verbindung mit den oftmals mehrminütigen Plansequenzen hat man deshalb häufig das Gefühl, Teilnehmer eines Schauspiels zu sein, statt sich in einem Film zu befinden. Ebenfalls Probleme bereiten Kameraschwenks, die gleichmäßig und sehr langsam vonstatten gehen müssen, um Unwohlsein zu vermeiden, von Techniken wie der Montage, Überblendungen oder anderem Schnickschnack ganz zu schweigen. Diese Beschränkungen sind deshalb notwendig, weil VR Cinema dreimal so anspruchsvoll für das menschliche Gehirn sei wie ein traditioneller Film, sagt zumindest Jip Samhoud in einem Gespräch mit Wired .

Eine weitere Schwierigkeit aktueller VR-Filme ist das sogenannte Cockpit-Problem: Da es heutzutage technologisch noch nicht praktikabel ist, findet die virtuelle Realität momentan noch an einem fixen Standpunkt statt, wodurch der Zuschauer an seinen Sitz gefesselt wird. Weitläufige Erkundungen, wie sie Murray prophezeite, sind also noch Zukunftsmusik. Im schlimmsten Fall wird der Zuschauer dadurch überfordert, gleichermaßen als Regisseur und Schnittmeister zu fungieren, der im 360-Grad-Gewusel ständig nach neuen Story-Häppchen Ausschau halten muss.

Zusätzliche Problematiken von VR, die noch der Überwindung bedürfen, ergeben sich beim Dreh. Da in 360 Grad gefilmt wird, müssen Kamera, externe Lichtquellen, Mikrofone und sonstige visuelle Überbleibsel der Dreharbeiten in der Postproduktion mühselig am Computer entfernt werden. Dasselbe gilt für Regisseur und Crew, die sich entweder verstecken oder aus der Distanz arbeiten müssen, wohingegen sie an einem normalen Set allgegenwärtig sind. Die Geburt des Zuschauers wird in der virtuellen Realität also gewissermaßen mit dem Tod des Regisseurs erkauft, um Roland Barthes zu paraphrasieren. Die Demokratisierung des filmischen Prozesses kann dabei jedoch auch als Chance verstanden werden: Nicht der Regisseur lenkt mehr unsere Blicke, sondern wir selbst tun das.

Was dem Medium aber vor allem noch fehlt, sind aussagekräftige Filme. Noch bewegt sich die Technologie eher auf dem Niveau von vielversprechenden Grafikdemos und visuellen Appetitanregern, doch richtiges Storytelling sucht man meistens leider noch vergebens. Dass die virtuelle Realität aber auch ganz anders genutzt werden kann, schauen wir uns nächste Woche in unserem abschließenden Text zum Wechselspiel zwischen Games und Filmen an.

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