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Warum ich meinen Lieblingsfilm nie wieder sehen will

29.08.2015 - 09:00 Uhr
Unten am Fluss
Filmverlag der Autoren
Unten am Fluss
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Aktion Lieblingsfilm 2015

Ich habe meinen Lieblingsfilm nur einmal vor über 15 Jahren gesehen. Ich erinnere ich mich nicht genau wann, warum oder wo. Es war ein Tag wie jeder andere, oder vielleicht war es auch ein besonderer Tag.

Wie mir Jahre später erst Rutger Hauer erklären sollte, sind Erinnerungen wie Tränen im Regen. Sie zerfließen. Sie bilden kein gestochen scharfes Bild der Vergangenheit, sondern ein diffuses Gefühl, eine Vorstellung von dem was war. Eine Idee, die die Gegenwart genauso stark prägt wie umgekehrt.

Vielleicht saß ich wie jeden Freitag…war es ein Freitag? Ich glaube. Ich meine, dass ich mich immer auf das Wochenendprogramm gefreut habe, als ich klein war. Aber da sind auch Erinnerungen an Ausflüge und Episoden, während derer der Fernseher aus blieb. War es davor? Danach? War es Sommer und draußen lockten die letzten Sonnenstrahlen vergeblich, weil mich die Schattenkaninchen auf dem Bildschirm in ihren Bann gezogen hatten? Es könnte aber auch Herbst gewesen sein und die Reise von Hazel und Feiver war eine spannende Ablenkung von den Stürmen, die ums Haus tosten. Waren Schulferien? War ich überhaupt schon in der Schule? Kannte ich meine Freunde schon? Noch?

Je angestrengter ich in meinen Erinnerungen wühle, desto weniger gelingt es mir, das Dickicht zu durchdringen. Es kommen vereinzelt Bilder, Momente, Gesichter, Gefühle, sogar Gerüche und Geschmäcker. Von fröhlichen und von verheulten Stunden; von erhebendem Glück und bodenloser Ungerechtigkeit. Aber es kommt keine Ordnung.

Ich kann keine Chronik schreiben und datieren: „Hier fing meine Leidenschaft für Filme an!“ Es war einer von vielen Filmen, die ich zufällig im Fernsehen sah. Aber ich weiß, dass ich ihn sah. Ich weiß, dass er mich beeindruckte. Ich weiß, dass sich mir Bilder eingebrannt haben, die ich heute noch vor Augen habe. Big Ben, der in einer Drahtschlinge mit dem Tode ringt. Feivel, in dessen Kopf sich seine Heimat blutrot färbt. Das im Moment des Todes panisch aufgerissene Auge, des Kaninchens, welches mit seinen Artgenossen in seinem Bau erstickt. Ich höre den heiseren Schrei des Überlebenden, der leise durch den Nebel dring. Ich spüre den dicken Kloß im Hals, als das schwarze Kaninchen Hazel holen kam.

Ich kann kein Psychogramm entwerfen. Ich weiß nicht, ob der Film bleibenden Eindruck auf meine Gedanken hinterlassen hat. Vielleicht hat er meine Einstellung zum Tod, zum Töten, zu Gewalt in Filmen oder gar generell verändert. Ich höre die Stimme meiner kleinen Schwester, die nach den ersten Minuten zu meiner Mutter murmelt „Das eine Kaninchen hat die anderen getötet“ und wundere mich, wieso ich den Film sehen durfte. Vielleicht hat mich der Film politisch geprägt. Vielleicht haben die Bulldozer, die den Kaninchenbau zum Massengrab machten, den einst flammenden Wunsch entfacht, mich für die Umwelt einzusetzen. Vielleicht hat mich das vernarbte Antlitz des grausamen Kaninchenanführers so weit nach links gerückt, wie ich heute stehe.

Ich weiß es nicht.

Ich will es nicht wissen.

Ich weiß, dass dort etwas war. Dass da etwas ist. Dass es mich geprägt hat. Wie stark oder schwach, vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß nicht einmal, ob die Namen oder Szenen, die ich hier beschrieben habe, korrekt sind. Ich habe nicht nachgeschaut. Ich habe mich erinnert. Oder es zumindest versucht. In meinem Kopf verbinden sich Momente, fließen Dialogfetzen, Szenen und Klänge ineinander über. Wie viel sich davon mit dem Film deckt, kann ich nicht beurteilen. Ich kann nur noch grob die Handlung umreißen. Visionen, Flucht, scheinbare Sicherheit, Flucht, ein Baum, Flucht, die Bösen, ein Hund. Für mich hat das Sinn, aber es ist eine fragile Erinnerung, die schon beim Aufschreiben Risse bekommt.

Ich erinnere mich an Filme aus meiner Kindheit, meiner Jugend, von vor wenigen Jahren, deren Bilder in meinem Kopf prächtiger aussehen, als jede Blu-Ray es je zu zeigen im Stande wäre. Ich erinnere mich an Filme, die ich nie gesehen habe, aber deren Trailer oder nur Plakate so beeindruckend waren, dass sie für mich die Welt waren. Ich erinnere mich an schöne Momente und schreckliche Momente im Kino. Ich erinnere mich nicht mehr an die Filme, die ich dabei gesehen habe.

Die Vergangenheit sei ein schöner Ort zum Besuchen, aber kein guter Ort zum Verweilen, heißt es. Aber was, wenn solch ein Besuch die Vergangenheit verändert? Ich bin heute ein anderer. Ich habe Menschen aus meiner Vergangenheit getroffen und gemerkt, wie wenig ich noch mit diesen Weggefährten teilen kann, außer Erinnerungen. Ich habe Ort gesucht, die verschwunden sind, und die ich nur noch in meinen Erinnerungen besuchen kann. Ich könnte die DVD jederzeit in den Player schieben und mich wieder auf die Reise begeben. Aber was erwartet mich da? Der beste Film aller Zeiten? Antworten auf die Fragen, die mich jetzt bedrängen? Die große Ernüchterung? Vielleicht wäre es heute nur ein weiterer Film.

Die Erinnerungen würden bleiben oder vielleicht nur zu Erinnerungen an Erinnerungen werden. Ich denke an diesen Film – und viele andere – und erinnere mich. Vielleicht erkenne mich viel mehr selbst. Vielleicht klingt das kitschig, vielleicht pathetisch. Vielleicht möchte ich meinen Lieblingsfilm nie wieder sehen. Vielleicht erkenne ich dann nämlich, dass es diesen Film nur in meinem Kopf gab.

Vielleicht ist es aber Zeit, dass ich mich aufmache. Vielleicht schaue ich noch einmal nach, wie es dort ist, Unten am Fluß.

~

Dieser Community-Blog ist im Rahmen der Aktion Lieblingsfilm 2015 entstanden. Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen Medienpartnern und Sponsoren für diese Preise:


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