Wie viel Armutsporno darf es heute für Sie sein?

07.06.2015 - 07:30 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Soziales Experiment: Das Leben stinkt20th Century Fox
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Reality-TV könnte erhellend und spannend sein. Stattdessen befriedigt es lieber die niederen Instinkte der Fernsehzuschauer. Aktuell überbieten sich die britische BBC und der US-amerikanische Sender CBS gegenseitig an Geschmacklosigkeit.

Als ich bei moviepilot angefangen habe, dachte ich: Hurra, ich kann über Filme schreiben – eines meiner liebsten Hobbies. Ich beschäftige mich also eigentlich mit etwas Schönem und Wertvollem. Aber mittlerweile setze ich mich ständig mit den unangenehmsten Ausformungen der Film- und Fernsehwelt auseinander. Meistens wohlgemerkt mit dem Fernsehen, denn das liefert zuverlässig und regelmäßig gleich mehrere Aufreger wöchentlich. Den Grund für die ganze Aufregung liefern diese Woche gleich zwei Fernsehsender: BBC und CBS.

Beim US-amerikanischen Sender CBS läuft bereits The Briefcase, das aktuell für harsche Kritik und traumhafte Einschaltquoten sorgt. Darin müssen sich zwei ahnungslose und finanziell schlecht gestellte Familien entscheiden, ob sie 100.000 US-Dollar behalten oder doch lieber verschenken wollen. Das Geld geht jeweils an die andere Familie und keiner weiß, wie freigiebig die andere Seite sein wird. Übrigens wissen beide Familien im Voraus angeblich auch nicht, worauf sie sich einlassen. Sie gehen davon aus, an einer Dokumentation zum Thema Geld mitzuwirken. Was der schamlosen Zurschaustellung prekärer Verhältnisse die skandalöse Krone aufsetzt. Wir dürfen uns an der Armut des Pöbels ergötzen, während wir uns freuen, dass es uns besser geht.

Ähnliche Wege geht die britische BBC. Dort soll Britain’s Hardest Grafter den Voyeurismus der Zuschauer befriedigen. Darin treten Arbeitslose oder Geringverdiener gegeneinander an und können, wenn sie sich nur ordentlich anstrengen, am Ende stolze 15.000 Pfund mit nach Hause nehmen. Das sind umgerechnet etwas mehr als 20.400 Euro. Sowohl die BBC als auch die Produktionsfirma sehen darin allerdings ein seriöses soziales Experiment, das mit viel Sensibilität angegangen worden sei. Hört, hört! Hierbei handelt es sich nämlich keineswegs um einfache Armutsporno-Unterhaltung, sondern um eine Reality-Doku, die gesellschaftliche Entwicklungen und Auswirkungen in den Fokus rückt. Hier können Großbritanniens härteste Schufter endlich einmal zeigen, was wirklich in ihnen steckt.

The Briefcase schlachtet die Armut seiner Protagonisten gnadenlos aus, nennt sie aber nie beim Namen. Die hier gezeigten Familien werden konsequent als Mittelklasse-Familien beschrieben. Das gibt ein unschönes Bild davon ab, wie es in den USA anscheinend um die Mittelschicht bestellt ist. Die Briefcase-Familien "erfahren finanzielle Rückschläge", heißt es konsequent seitens CBS. Sie sind hoch verschuldet und haben teilweise keine Krankenversicherung. Das Wort Armut nimmt der Sender trotzdem nicht in den Mund. Mir drängen sich hier unweigerlich die deutschen Begriffe "Unterschichten-Fernsehen" und "Hartz IV-TV" auf, auch wenn ich sie nicht mag. Das klingt aber deutlich ehrlicher, als von "Mittelklasse-Familien" mit "finanziellen Rückschlägen" zu sprechen. Fragt sich nur, was hier gemeint ist: Dass die Unterschicht darin abgebildet wird oder dass es für die Unterschicht produziert ist? Oder beides?

Das "seriöse soziale Experiment" der BBC soll zeigen, wie hart die Geringverdiener tatsächlich arbeiten und ihren Ruf verbessern. Denn Großbritannien hat ernsthafte Probleme. Nicht nur Arbeitslose haben zu wenig Geld zum Leben, sondern auch diejenigen mit Jobs und abgeschlossenen Ausbildungen. Denn die Löhne sinken, die Lebenshaltungskosten steigen und Arbeitsplätze werden abgebaut. Aber statt die Hintergründe und Ursachen zu beleuchten und die Problematik eventuell gesamtgesellschaftlich zu betrachten, sollen die Arbeiter gegeneinander antreten. Wer am Ende übrig bleibt, erhält ein Jahresgehalt. Wohlgemerkt das eines Geringverdieners außerhalb Londons . Weil die Sendung noch nicht angelaufen ist und sich noch in der Planungsphase befindet, bleibt zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass stimmt, was die Produktionsfirma sagt :

Wenn die Menschen das Endprodukt sehen, werden sie erkennen, dass das Thema mit viel Sensibilität behandelt wurde.

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