Locarno hat den Ruf eines der gemütlichsten europäischen Filmfestivals zu sein. Zu Recht! Denn wenn am malerischen Lago Maggiore die Sonne untergeht, verwandelt sich ganz Locarno in ein einziges Freilichtkino. Abend für Abend werden dann auf der Piazza Grande – wo sonst Espressi geschlürft oder regionale Spezialitäten verkauft werden – Festivalfilme unter freiem Himmel gezeigt und ziehen nicht nur Filmkritiker und Festivalgäste, sondern ganz Locarno in ihren Bann.
Gestern wurde nun die 63. Auflage des Festivals eröffnet. Kommen Eröffnungsfilme sonst als eher konsensfähig und gefällig daher, gilt dies für den ersten Film des Schweizer Festivals mit Sicherheit nicht. Regisseur Benoît Jacquot erzählt in seinem neo-romantisch anmutenden Deep in the Woods – Verschleppt und geschändet die Geschichte einer geistigen und körperlichen Besitznahme. Die Doktorentochter Joséphine (Isild Le Besco) wird von einem halbwilden Landstreicher (Nahuel Pérez Biscayart) mit übersinnlichen Fähigkeiten zuerst mittels Hypnose gefügig gemacht, entführt und dann in der Tiefe der Wälder immer wieder vergewaltigt. Dabei verwischt zusehends die Grenze zwischen erzwungenem Sex und ehrlich empfundener Lust. Konsens-Kino für ein breites Publikum sieht anders aus!
Dass nicht Konsens, sondern Lust an der Provokation und der Diskussion das Festival regieren, liegt an Olivier Père, dem neuen Leiter des Festivals. Er kommt aus Cannes, wo er für die Reihe „Quinzaine des réalisateurs“ verantwortlich war, und hat streitbare junge Autorenfilme nach Locarno eingeladen. Die Presse schwärmt angesichts des neuen Direktors bereits von „Locarno Reloaded“. So hat Père das Programm ein wenig entrümpelt und die Zahl der gezeigten Filme beschränkt. Im Kern bleibt sich das Festival aber treu: Im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden konkurrieren überwiegend unbekannte Arthouse-Filme aus aller Welt. Die diesjährige Retrospektive ist Ernst Lubitsch, dem Großmeister der Komödie gewidmet.
Besonders gespannt erwartet man heute die Premiere des neuen Werks von Bruce La Bruce L.A. Zombie. Der Zombiefilm vermischt munter Elemente des Horrorfilms und des schwulen Pornos und wird aufgrund seiner expliziten Sexszenen erst um 23 Uhr und nur ab 18 gezeigt werden. Ich bin gespannt, wie das Publikum auf diesen kalkulierten Affront reagieren wird. Bis jetzt geben sich die Schweizer jedenfalls betont gelassen, auch bei der Pressekonferenz gab es keine allzu kritischen Nachfragen. Auf der Piazza wird außerdem der isländische Film King’s Road mit Daniel Brühl gezeigt. Ob heute Abend Türen oder Sektkorken knallen, erfahrt ihr morgen!