Eine BeWireräucherung
Ich fing an als kleiner Cornerboy, als Laufbursche, der gerade in die Stadt gezogen war, sich nun in den Flachbauten zurechtfinden musste und noch keine Ahnung hatte, wem die Hochhäuser gehörten. Gleichzeitig startete meine Karriere als kleiner Fisch im Western District Police Departement. Ich wusste nicht so genau, was Polizeiarbeit hier bedeutete und auch die oft zitierte Befehlskette war wegen der vielen neuen Namen schwer nachzuvollziehen. Andernorts versuchte ich als Hafenarbeiter Fuß zu fassen, aber da ich nicht wusste, wie man geschickt schmuggelt, wer der Grieche war, und warum zum Teufel die Fahrrinne erneuert werden musste, fand ich dort ebenfalls schwer Anschluss.
Ähnlich schlecht kam ich mit meinem neuen Job im Rathaus klar, da ich über die Zusammensetzung des Stadtrates völlig uninformiert war und sich mir die Aufregung über diesen Major Colvin und sein Hamsterdam zu Beginn noch nicht recht erschloss. Auch meine Anfänge als Wahlkampfhelfer waren wegen der verqueren Situation der Stadt nicht die leichtesten. Wer musste mit ins Boot, um die Chancen zu erhöhen? Wen musste man dafür wie hoch bestechen? Was musste man tun, um als Weißer die Akzeptanz der Schwarzen zu bekommen? Genauso wenig einfach verliefen meine ersten Schulwochen in Baltimore, in denen ich erst einmal lernen musste, die Lehrer zu täuschen, den Respekt der anderen zu bekommen und dabei auch noch Zeit fürs Dealen zu haben. Als ich dann auch noch meine Stelle bei der Baltimore Sun antrat und mich in fingierte Berichterstattung, gutes Zitieren und den dickens’schen Aspekt einarbeiten musste, war der Stoß ins kalte Wasser perfekt.
Sowohl Ganster, Polizist, Pole, Russe, Grieche, Politiker, Schüler als auch Reporter in mir waren komplett überfordert – niemand stellte sich mir vor, niemand erklärte mir etwas. Trotzdem fühlte es sich gut an, mittendrin, statt nur dabei zu sein. Ich brach unter der Last der vielen neuen Bekanntschaften nicht zusammen, ich stemmte sie – langsam, aber sicher. Ich wollte nun auch nichts mehr vorgekaut bekommen, ich wollte selbst verstehen. Und so konnte ich schon bald erahnen, welches große Ganze alle Parteien verband. Es war nicht etwa das Genre eines Krimi-Dramas – es war vielmehr ein Biopic der Stadt, in der ich mich befand. Ich lernte sie jedoch nicht nur kennen, ich lernte ihre Motive, ihr Verhalten, ihr Denken. Je länger ich mir das Treiben ansah, desto klarer sah ich die Fäden, an denen Baltimore zog, um seine Einwohner tanzen zu lassen. Es war als suchten sie den Goldtopf am Ende des Regenbogens. Nur gab es in Baltimore weder einen Regenbogen, geschweige denn den Goldtopf – es gab nur Regen.
Eine Weile unternahm ich den Versuch, etwas zu verändern, aber dagegen wusste sich die Stadt zu wehren. Verschwand ein Omar nahm ein Micheal seinen Platz ein. Dukies wurden Bubbels und Sydnors wurden McNultys. So war das einzige, was mir blieb, meine Geschichte zu erzählen um wenigstens die Grausamkeit mitzuteilen, die ich gesehen hatte. Ich beschönigte und verharmloste nichts, ich hielt mich stets realistisch und ließ jedem Ereignis den Raum, den es brauchte, um die Beweggründe zu zeigen. Manchmal waren es nur kurze Augenblicke in Schwulenbars, die in einer Sekunde so viel erklärten und manchmal dauerte es länger, um Pläne von gefälschten Obdachlosenmorden zu verdeutlichen, aber ich ließ nie Langeweile aufkommen. Als ich mit meinem Bericht geendet hatte, wusste ich, dass es Zeit war.
Mein Ausstieg aus Baltimore war hart
Ich hatte die Stadt in ihrer Ganzheit gesehen, ihre besten und ihren dreckigsten Seiten. Ihre Helden, ihre Schurken und alles was dazwischen lag. Ihre angenehmen Rauschzustände und ihre Höllentrips. Ich war längst kein Teil mehr, ich stand mit der Stadt auf einer Stufe. Ich fragte mich, ob sie das ständige Ausstreuen von Brotkrumen aus Hoffnung, die einen zum Weitermachen zwangen, absichtlich tat oder ob sie nur wie Katze war, der man dabei zusieht, wie sie den eigenen Schwanz jagt. Bis heute weiß ich keine Antwort auf diese Frage, aber ich weiß, dass sie sich auf ewig im Kreis drehen wird und ich nichts daran ändern kann. Darum muss ich sie schweren Herzens verlassen. Meine Liebe, meinen Hass, meine Hassliebe – Baltimore.
Ich bin nicht Jimmy, ich bin nicht Bunk, nicht Kima. Ich bin kein Omar, kein Avon, Stringer oder Marlo. Ich bin weder Junkie noch Dealer, weder Mörder noch Leiche, weder Sobotka noch Valchek, weder Grieche noch Pole, weder Wähler noch Gewählter, weder Lehrer noch Schüler, weder Journalist noch Leser. Ich bin sie alle – ich bin The Wire.
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