Stell dir vor, das Flugzeug, in dem du sitzt, stürzt irgendwo im Nirgendwo ab, mitten über dem Meer, und du findest dich alleine auf einer einsamen Insel wieder, ohne Hoffnung auf Rettung – was würdest du tun? Vermutlich das gleiche wie jeder andere: Dir – nach einer angemessenen Schonfrist – einen Rauschebart wachsen lassen, die nächsten vier Jahre sinnschwangere Konversationen mit einem Volleyball führen und dafür auf einen Oscar hoffen. Logisch.
Nun stell dir vor, außer dir gibt es noch 47 weitere Überlebende, die mit dir auf der Insel gestrandet sind. Was machst du also? Arbeitsteilung kommt in den Sinn: Vielleicht versteht sich jemand auf den Bau improvisierter Funkgeräte, jemand anderes hat Erfahrung mit dem Jagen wilder Tiere, und es mag sogar jemand dabei sein, der dazu fähig ist, ein Floß zu bauen. Schon sieht die Situation nicht mehr ganz so düster aus, oder?
Und jetzt stell dir bitte vor, dass deine einsame Insel außer euch noch ein paar Eisbären beherbergt, eine schießwütige Französin, einen Stamm wenig zimperlicher Eingeborener, ein riesiges Monster aus Rauch und einen zauseligen Schotten, der in einem unterirdischen Bunker damit beschäftigt ist, den Weltuntergang zu verhindern. Weiterhin führe dir vor Augen, dass die einzigen unter den anderen Überlebenden, denen zuzutrauen wäre, ein wenig von deiner Verantwortung als Anführer der Gruppe zu übernehmen, eine entflohene Kriminelle sind, ein zynischer Redneck, ein irakischer Foltermeister und ein Prophet, der sich in dieser Tropenhölle furchtbar wohl zu fühlen scheint. Lass dir die Situation eine Minute durch den Kopf gehen, vielleicht auch zwei, und dann sag mir: Was machst du jetzt? Den Kopf in den Sand stecken? So viel Alkohol auftreiben, wie du in die Finger bekommst? Augen schließen und hoffen, aufzuwachen?
Wenn ja, dann gut, dass du nicht Jack Shepard bist. Jack nämlich, eigentlich Chirurg von Beruf, wird von J.J. Abrams und Konsorten gleich in der ersten Folge von Lost in genau dieser Situation ausgesetzt, inmitten eines gottverlassenen Dschungels, unweit der rauchenden Trümmer der Oceanic 815. Freilich wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nichts über Jack, ebenso wenig wie über irgendeinen der anderen Charaktere, die vor dem Abenteuer ihres Lebens stehen. Im Laufe der Zeit, die wir mit diesen Menschen verbringen, lernen wir sie nach und nach kennen, sowohl durch ihr Handeln, ihren Kampf ums Überleben als auch die vielen, vielen Rückblenden, die uns in die Vergangenheit der Figuren zurückholen, ungeklärte Rätsel lösen und oftmals wieder neue aufwerfen. Jeder der Charaktere wächst bei diesem Abenteuer, wird uns nach und nach vertraut, doch endet das Abenteuer für manche von ihnen vorzeitig. Schließlich ist eines der ersten Dinge, die wir auf der Insel erfahren: Niemand ist sicher.
Es ist eine gruselige Idee, die Lost aufwirft, gruselig und spannend; sie regt zum Nachdenken an, nicht nur darüber, wie wir uns in einer solchen Situation fühlen würden, sondern vor allem über das, was dort auf der Insel geschieht, oder präziser: Was wir glauben, das dort geschieht. Denn Lost lebt, weit mehr als von seinen Geschichten oder dem großartigen Ensemble, von dem, was uns nicht erzählt wird, was wir uns zusammenreimen müssen aus den raren Brocken, welche uns die Serie vor die Füße wirft. Wir hadern mit jedem Cliffhanger, stricken uns unsere liebsten Lösungen für jedes noch so perfide Rätsel zurecht, nur um in der nächsten Folge zu erleben, wie diese Lösung über den Haufen geworfen wird oder, noch ärger, das Rätsel beiläufig beiseite gewischt und ein völlig neuer Handlungsstrang aufgetan wird, in den wir sofort wieder eintauchen. Und schon geht das Spiel von vorne los. Das ist Lost.
Was sagt das über die Serie aus, und was über die Sorte Mensch, die – wie ich – Lost vergöttert? Immerhin wird gerne behauptet, die Serie sei eine Mogelpackung; sie baue Erwartungen auf, die sie ohnehin nie erfüllen kann, was man ja nur zu gut an den enttäuschten Meinungen zur finalen Staffel sehe. Das mag jeder sehen, wie er möchte. Mir allerdings ging es nie um die Auflösung all der Rätsel, mit denen ich mich all die Jahre herumgeschlagen habe. Ich mag keine finalen Schlussstriche, kein phantasieloses The End-Narrativ, ich will mehr als das, ich will selbst entscheiden, mit selbst vorstellen, was diese fabelhaften sechs Jahre Lost für mich bedeutet haben und immer bedeuten werden.
Lost ist längst nicht mehr nur eine Geschichte, die den Zuschauern von einer Handvoll Drehbuchautoren vorgesetzt wird. Wir waren dabei, wir haben mitgefiebert mit Jack und Kate, mit Sawyer und Sayid, mit Locke und Ben, mit Sun und Jin, mit Claire und Charlie, mit Hurley, Desmond und all den anderen, haben ihnen sechs lange Jahre auf der Insel beigestanden, haben mitgekämpft, mitgelitten. So sehr ich viele andere Serien lieb gewonnen habe, bin ich dort doch immer nur Zuschauer. Bei Lost bin ich dabei, irgendwo im Nirgendwo, auf einer einsamen Insel, ohne Hoffnung auf Rettung, ohne Volleyball – dafür mit der besten Serie aller Zeiten.
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