Ein Wohnwagen brennt in Aus dem Nichts. Ein Fahrrad kommt bei einem Anschlag zum Einsatz. Am prägnantesten evoziert der neue Film von Fatih Akin die medial verbreiteten Bilder und Informationen über die Anschlagsserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in solchen Details. "Das waren Nazis," ist Katja Sekerci (Diane Kruger) sich nach der Ermordung ihres türkischstämmigen Ehemannes und ihres gemeinsamen Sohnes sicher, während die Polizei das Motiv für die Nagelbombe in der Biografie ihres vorgestraften Mannes sucht. Noch so ein Detail. Katja sucht Gerechtigkeit in Aus dem Nichts, der sich ganz auf die Perspektive einer Hinterbliebenen rechtsradikaler Gewalt einlässt. Ihr Leidensweg vom Verlust über den Prozess bis zum Leben danach spielt sich hauptsächlich im Gesicht Diane Krugers ab, die ein ums andere Mal unter der Last des plötzlichen Nichts zusammenbricht. Eingerahmt wird der emotionale Krisenzustand durch unausgereifte Nebenfiguren und eine seltsam fade Inszenierung. Sein brisantes Finale vermag sich das meist konventionelle Drehbuch nicht recht verdienen, doch es hakt sich fest, will fragen, anstoßen und stören, was von den wenigsten Beiträgen beim diesjährigen Festival Cannes behauptet werden kann.
Die Verbrechen des NSU werden erst in der obligatorischen Abspanntafel erwähnt, die manch internationalem Zuschauer die Einordnung von Aus dem Nichts vereinfacht haben dürfte. Und doch reizt der Film zum Sinnieren über die Bedeutung des kulturellen und zeitgeschichtlichen Kontextes als eines seiner implizierten Bestandteile. Gerade bei einem Festival wie Cannes, in dem Weltkino und internationales Publikum aufeinander treffen. Vor ein paar Jahren wartete ich mal mit einer Kommilitonin auf Einlass in ein Jenaer Kino und sie war im Gespräch fest überzeugt, dass Filme, bei denen man auf Untertitel angewiesen ist, nie dieselbe starke Wirkung erzielen könnten wie solche, deren Sprache man versteht. Ich hielt fest dagegen (in meinem Kopf, auf der Heimfahrt in der Straßenbahn), ihr Argument hat sich jedoch bei mir eingebrannt. Die imaginäre Diskussion setzt sich jedes Mal fort, wenn ich einen chinesischen Film über gebrochenes Englisch zu verstehen suche. Oder mich in internationale Kritiker hineinzuversetze, die naturgemäß nur ein kursorisches Wissen über den NSU in einen Film wie Aus dem Nichts hineintragen.
Oder wenn ich einen Wettbewerbsfilm wie Die Sanfte von Sergey Loznitsa in Cannes sehe, der eine Vielzahl russischer Lieder, politischer und kultureller Symbolik und historischer Verweise auf seinem surrealen Spießrutenlauf durch die Bürokratie streift. Gogol und Dostojewski halten in dem Film Einzug in die russische Gegenwart, in der Soldaten mit Geheimauftrag vom Erdboden verschwinden und dafür als Helden des Vaterlands gefeiert werden. Eine zierliche Frau (Vasilina Makovtseva) versucht Kontakt zu ihrem inhaftierten Mann zu erhalten, doch je näher sie dem Gefängnis kommt, desto geringer werden ihre Chancen. Willkür und Korruption stehen im Weg und auch die florierende Schattenwirtschaft der Gefängnisstadt. Die Sanfte ist ein maßloser Film voller grausamer Geschichten und trauriger Gesänge, der sein satirisches Potenzial in einem affektierten Finale verspielt, dem man quasi in Superzeitlupe dabei zusehen kann, wie es bedeutungsschwer zum Paukenschlag ausholt. Er ist quasi das atmosphärische Gegenteil des eisigen Loveless von Andrey Zvyagintsev, der am Anfang dieses Festivaljahrgangs stand, und wühlt sich durch seinen eigenen Hobbes'schen Leviathan.
Der stoischen Leidenden aus Russland steht die in einem Zustand der Auflösung begriffene Witwe Katja aus Fatih Akins Aus dem Nichts gegenüber. Zunächst wird ihr Trauma durchlaufen, das sie von ihrer Familie isoliert. Die zu erwartenden Schuldzuweisungen von Eltern und Schwiegereltern werden treffend beobachtet, ihren Sprachrohren mangelt es aber an charakterlicher Tiefe. Das trifft auf die meisten Figuren in Aus dem Nichts zu. Diese latente Leere von Katjas Umwelt setzt sich im Gerichtssaal fort, wo die vorhersehbaren Wortgefechte über Katjas Zurechnungsfähigkeit als Zeugin und die Vergangenheit des toten Nuri (Numan Açar) geführt werden. Das angeklagte Pärchen mit Verbindungen zur neonazistischen "Goldenen Morgenröte" aus Griechenland wird derweil auf seine erschreckende Gewöhnlichkeit heruntergebrochen. Die Möllers (schon der Name!) erhalten kein Podest in Aus dem Nichts, ihre politische Stimme bleibt Nebensache. Den Tätern wird jedes Faszinosum geraubt. Diese konsequente Verweigerung dürfte der radikalste Schritt in dem Film sein, der bisweilen mit einer sonntagabendlichen TV-Produktion verwechselt werden kann.
Aus dem Nichts regt weniger als Film selbst an und auf, denn als Idee zu einem Film. Als Idee zu einer Auseinandersetzung mit dem jüngeren rechten Terror, die filmisch in ihrem Anfangsstadium steckt. Katjas "Das waren Nazis" wohnt eine Selbstverständlichkeit inne, die sich in dem filmischen Phantombild der Täter spiegelt. Das waren Nazis und sowas passiert in Deutschland - darf man sich dazudenken.
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