Die erste Folge von Adolescence bleibt unerreicht – sie zeigt, was die Serie so stark macht

02.04.2025 - 11:12 UhrVor 29 Tagen aktualisiert
Adolescence
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In vier aufwühlenden Episoden versucht die Netflix-Serie Adolescence, die Motivation eines 13-jährigen Jungen zu verstehen, der eine Mitschülerin ermordet hat. Doch welches ist das eindringlichste Kapitel?

Adolescence wartet mit vielen Momenten auf, die einem lange im Gedächtnis bleiben. In vier Episoden erzählt die Miniserie bei Netflix eine erschütternde Geschichte und hadert jede Sekunde mit der Unfassbarkeit des Geschehenen: Der 13-jährige Jamie Miller (Owen Cooper) ermordete ein Mädchen aus seiner Klasse. Was in aller Welt hat ihn zu dieser grausamen Tat verleitet? Die Ratlosigkeit ist vernichtend.

Was Adolescence von ähnlichen Krimi-Dramen abhebt, ist die Art und Weise, wie Regisseur Philip Barantini die von Jack Thorne und Stephen Graham geschriebene Serie in Szene setzt: Er arbeitet komplett ohne Schnitte. Jede Folge wurde in einer Einstellung gedreht, was uns die Ereignisse in Echtzeit erleben lässt. Am besten funktioniert das Konzept im Auftakt, wenn das Leben einer Familie auseinanderbricht.

Eine Einstellung ohne Schnitt: Die Inszenierung von Adolescence ist ein großes Wagnis

Die Entscheidung, einen Film oder eine Serienepisode ohne Schnitt zu drehen, wartet mit spannenden Möglichkeiten auf, birgt aber auch ein Risiko in sich. Überzeugt die Inszenierung oder wirkt sie willkürlich? Kann man sich in die Figuren hineinversetzen oder denkt man nur über die technischen Aspekte des Filmemachens nach? Wie haben sie das geschafft? Und, Moment, war da nicht doch ein heimlicher Schnitt?

Schon Alfred Hitchcock musste sich für Cocktail für eine Leiche einige Kniffe einfallen lassen, damit der Film wie aus einem Guss wirkt. Das lag damals vor allem daran, dass auf eine analoge Filmrolle kein vollständiger Film passte. Also suchte er dunkle Dinge im Bild, in die sich die Kamera hinein- und hinausbewegen konnte, um einen unsichtbaren Schnitt zu ermöglichen. Das bestimmte den Erzählfluss maßgeblich.

Adolescence ist digital gedreht und muss daher sich keine Gedanken über Filmmaterial machen. Von Schnitten fehlt weit und breit jede Spur. So werden wir immer tiefer in die Geschichte hineingezogen. Genau wie für Jamie und die anderen Figuren gibt es kein Entkommen. Wir sind der Situation gewissermaßen ausgesetzt und müssen die ganze Stunde der Episoden ohne Unterbrechung, ohne Luftholen durchstehen.

Die erste Episode von Adolescence ist die beste, weil Form und Geschichte im Einklang sind

Barantini, Thorne und Graham wissen das oft zu ihrem Vorteil zu nutzen. Im Verlauf der Serie kommen sie aber nie wieder auf das Niveau der ersten Episode zurück. Denn hier befindet sich das Erzählte am ehesten im Einklang mit der filmischen Form. Wo bei anderen Kapiteln durchaus ein Schnitt für noch mehr Eindrücke und Emotionen hätte sorgen können, geht die gewählte Herangehensweise hier perfekt auf.

Die erste Folge von Adolescence beginnt in den frühen Morgenstunden, als ein Einsatzteam der Polizei das Haus der vierköpfigen Familie Miller stürmt. Auf einmal stehen maskierte Gestalten mit Sturmgewehren im Kinderzimmer. Innerhalb weniger Minuten sitzt Jamie in Handschellen auf der Rückbank eines Transporters und befindet sich auf dem Weg zur Polizeiwache, wo direkt das Verhör inklusive Überführung folgt.

Ein Paukenschlag folgt auf den nächsten, sodass man gar nicht durchatmen kann. Zu keiner Sekunde wirkt das Filmteam bemüht, die Zeit mit Übersprungshandlungen zu füllen, um den One-Take zu wahren. Wir tauchen ein in einen kalten Albtraum aus Prozessen, bei dem jede fassungslose Frage mit dem Hinweis kollidiert, dass man nichts sagen darf. Denn alles, was man sagt, kann und wird vor Gericht gegen einen verwendet.

Die erste Folge von Adolescence fasst die Essenz der Serie in einer sehr dichten Stunde zusammen

Was die erste Episode von Adolescence so stark macht, ist das Spannungsverhältnis, in dem diese Unmittelbarkeit stattfindet. Auf der einen Seite liegen die Nerven blank, auf der anderen Seite wartet die Gleichgültigkeit des Polizeiprotokolls, das Punkt für Punkt abgearbeitet wird. Die Kamera schleust uns durch alle Stationen durch – mit einer dermaßen flüssigen Bewegung, dass niemand Widerspruch einlegen kann.

Die Sogkraft dieser Episode ist bemerkenswert. Jedes Mal, wenn Jamies Eltern denken, sie könnten eingreifen, das Geschehen neu ordnen und das Schlimmste abwenden, ist die Episode bereits weitergezogen. Aus der wahnsinnig kontrollierten Inszenierung entsteht ein Gefühl für Ohnmacht. Alles ist vorbei, ehe man realisiert, was genau passiert ist. Innerhalb eines Sonnenaufgangs geht die Welt der Millers unter.

An diese erzählerische Dichte durch Form und Geschichte kommt Adolescence in keiner der nachfolgenden Episoden heran – auch nicht im viel gelobten Kammerspiel von Folge 3. Mit seinem ersten Kapitel liefert der Netflix-Hit eine der konzentriertesten Episoden jüngerer Vergangenheit ab, die jedes beiläufige Detail in einen Strom verwandelt, gegen den man unmöglich anschwimmen kann. Plötzlich ist es passiert.

Genau daran zerbrechen später die Figuren – an diesem Plötzlich, das sich nicht genau definieren lässt. War Jamie nicht eben noch ein lieber Junge? Adolescence versucht, den Finger auf den Moment zu legen, in dem etwas kippte. Vielleicht in der Hoffnung, die Zeit anzuhalten und etwas zu verändern. Aber die ist vorbeigezogen, genauso unaufhaltsam wie der One-Take, der erst mit dem Schwarz des Abspanns endet. Vorbei.

Adolescence streamt seit dem 13. März 2025 bei Netflix.

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