Kurz nach Erscheinen des ersten Bandes “Adèle und das Ungeheuer” riefen japanische Filmmacher bei Jacques Tardi an und wollten eine Cartoon-Serie aus der Comicvorlage drehen. Auch diverse amerikanische Produktionsfirmen zeigten großes Interesse, doch erst Luc Besson konnte Jacques Tardi mit seinen Vorstellungen der Adèle Blanc-Sec überzeugen und bekam den Zuschlag für adele.
Wer Die Mumie mit Brendan Fraser in der Hauptrolle mochte, wird sicher auch an adele Gefallen finden. Die witzige Abenteuerkomödie von Luc Besson läuft am 30. September bei uns an. Im Interview erzählt der französische Comic-Autor, was ihn dazu trieb, eine weibliche Comicheldin zu erfinden.
Woher stammt die ursprüngliche Idee für Ihre Figur Adèle Blanc-Sec?
Jacques Tardi: Der Comicbuch-Verlag Casterman hatte mein Frühwerk gesehen und beauftragte mich mit einer Reihe. Also brauchte ich eine Hauptfigur, um die sich alles drehte. Um ehrlich zu sein: Viele Ideen hatte ich nicht. Das war in den Siebzigerjahren, und damals tendierte ich eher zu abgeschlossenen Geschichten. Dennoch war das Konzept reizvoll, und so sah ich mir diverse Comichelden genauer an, fast alle männliche Figuren – Rennfahrer, Flieger, Soldaten, Cowboys und Polizisten. Weibliche Charaktere gab es kaum, abgesehen von Bécassine, einer Maid aus der Provinz, die nicht einmal einen Mund hatte, und Barbarella, die in eine erotischere Kategorie fällt. So kam ich auf die Idee für eine Heldin, die all diesen Kerlen ebenbürtig wäre.
Ich habe mich immer für die Fortsetzungsromane interessiert, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert populär waren. Einer der bekanntesten französischen Vertreter war Arsène Lupin, der 1910 zum ersten Mal auf der Bildfläche erschien. Daraufhin entschied ich, dass meine Heldin eine Zeitgenossin von Arsène sein sollte. Blieb die Frage, welcher Arbeit sie wohl nachgehen könnte. Wenn man genau hinsieht, stellt man fest, dass die meisten Comichelden – von den Soldaten mal abgesehen – keinen bestimmten Beruf haben. Man sieht sie nie bei der Arbeit, man weiß nicht, wie sie ihr Geld verdienen oder wie ihr Alltag aussieht. Dass meine Heldin nicht gerade eine Baufirma leiten würde, lag auf der Hand, aber sie könnte durchaus denselben Job haben wie ich.
Übertragen auf 1910 bedeutete das: Sie schreibt Fortsetzungsromane. So sehen wir Adèle gelegentlich an ihrer Schreibmaschine oder bei ihrem Verleger, und sie spricht über ihre Arbeit. Auch wenn wir sie nicht oft bei der Arbeit beobachten, gibt uns das doch Hinweise auf ihren Lebensstil und -standard: Sie stammt nicht aus einer wohlhabenden Familie. Sie ist eine unabhängige Frau, die sich ihren Lebensunterhalt selbst verdient. Und sie ist entschieden modern – ganz anders also als die Frauen jener Zeit. Schließlich brauchte ich noch die Szenerie. Ich benutze Schauplätze in Paris, weil ich sie so gern zeichne. Ich mag Museen, weil sie mich inspirieren, und ganz besonders die Botanischen Gärten mit ihren Glasdächern, den Vitrinen und all den wissenschaftlichen Utensilien darin. Ich hatte also meine Hauptfigur und den Ausgangspunkt meiner Geschichte, die Botanischen Gärten und – lange vor Jurassic Park und Indiana Jones, möchte ich betonen – einen 136 Millionen Jahre alten Pterodaktylus, der aus seinem Ei schlüpft und das Paris um 1900 terrorisiert.
Worauf geht die fantastische Dimension in Adèle zurück?
Jacques Tardi: Was den Fantasy-Aspekt angeht: auf Fritz Lang. Und von Jules Verne habe ich entliehen, Dinge aus dem Nichts zu erfinden”. Das ergibt eine ziemlich poetische Mischung aus Science Fiction, atemberaubenden Situationen und unorthodoxen Geschichten, die nicht unbedingt Sinn ergeben, von denen man sich aber gern mitreißen lässt, wie ein Kind.
Haben Sie je daran gedacht, dass Adèle ein guter Filmstoff wäre?
Jacques Tardi: Gleich nachdem der erste Band erschienen war, wollten die Japaner eine Cartoon-Serie daraus machen. Aber die Änderungen, die vorgenommen werden sollten, machten eine Adaption unmöglich. Auch ein amerikanisches Studio war interessiert. Aber ihre Fassung war so amerikanisch, dass meine Heldin und ihre Welt ihre Identität verloren hätten, also wurde das Projekt nicht weiterverfolgt. Dann bekundeten mehrere TV-Produktionsfirmen Interesse. Und schließlich, vor zehn Jahren, rief Luc Besson an.
Und? Ist sein Drehbuch dem Geist Ihrer Comics alles in allem treu geblieben?
Jacques Tardi: Eigentlich müsste ich Nein sagen. Denn man muss akzeptieren, dass jede Adaption ein Betrug ist – nachdem ich selbst eine Reihe von Romanen in Comics umgeschrieben habe, weiß ich, wovon ich rede. Sobald man das Format ändert, verändern sich auch die Ausdrucksmittel und die Art, eine Geschichte zu erzählen. Ein Comic ist eine Abfolge von Standbildern, Schnappschüsse, die eine Story erzählen, zu der der Leser zurückkehren oder bei der verweilen kann. Bei einem Film bestimmt der Regisseur den Rhythmus, gibt das Tempo vor, er entscheidet, ob wir eine Nahaufnahme sehen, ein Gesicht, einen Gegenstand etc.
Dann ist da noch die Auffassung von einer Serie. Wenn ich mit der Arbeit an einer Story beginne, fügt sich nie sofort eines ins andere, sondern explodiert zunächst in alle Richtungen. Am Ende greife ich oft auf den guten alten Trick zurück: “Fortsetzung folgt…” Damit gebe ich den Lesern ein Versprechen, ohne zu wissen, ob ich es halten kann. Bei Filmen ist das anders: Man braucht ein Ende, auch wenn man sich natürlich die Möglichkeit für ein Sequel offenhalten kann. In Filmen folgt die Handlung anderen Gesetzen als in Comicbüchern. Beim Umgang mit den Charakteren ist der Unterschied noch eklatanter. Auf der Leinwand kann nicht auf einmal eine Nebenfigur oder ein Statist die Hauptrolle übernehmen – in einem Comic dagegen schon. Manchmal gestatte ich mir einenRiesenumweg mit Hilfe einer kleinen Nebenfigur, der in der Geschichte plötzlich einewichtige Rolle zukommt, einfach weil ich sie gern zeichne. Genau das ist mit Edith Rabatjoie passiert. Zunächst sollte adele nämlich “Les aventures extraordinaires d’Edith Rabatjoie” heißen. Es scheiterte einzig daran, dass mir die Figur keinen Spaß machte. Als dann Adèle in der Geschichte auftauchte, um sie zu entführen, übernahm sie gleich die Hauptrolle in der Serie. Meiner Ansicht nach haben Filme und Comics nur eines gemein: Bilder.
Was muss eine Schauspielerin mitbringen, um Adèle Blanc-Sec zu verkörpern?
Jacques Tardi: Sie muss in der Lage sein, Adèles Persönlichkeit anzunehmen, physisch zu Adèle zu werden und dieselben Charakterzüge an den Tag zu legen. Es wäre absurd gewesen, eine Schauspielerin auszuwählen, nur weil sie meiner gezeichneten Adèle ähnlich
sieht. Insbesondere weil sie sich im Verlauf der Reihe auch körperlich verändert – die Adèle der ersten beiden Bände sieht ganz anders aus als die Adèle in den letzten Büchern. Sie hat sich allmählich verändert, ist mehr Karikatur geworden. Ihre Nase zeigt etwas weiter nach oben – alles nur, weil ich keine Lust habe, mich bei der Arbeit zu quälen. Manche Comiczeichner fertigen präzise Skizzen an, bevor sie ausmalen. Meine Entwürfe sind sehr grob und nehmen erst richtig Gestalt an, wenn ich nachbessere und Farbe hinzufüge. So kommt es, dass sich meine Figuren schrittweise verändern und entwickeln. Ich würde sagen, dass Louise Bourgoin eine exzellente Wahl ist, weil ihre Darstellung den Geist der Figur einfängt. Sie wird auf der Leinwand zu der quirligen, selbstbewussten, wissbegierigen Heldin, die nicht recht in ihre Zeit passen will.
Haben die Kulissen besondere Bedeutung für Sie?
Jacques Tardi: Die Kulissen und Schauplätze sind wesentlich, ja. Adèle spielt kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in einem überladenen Umfeld: in Apartments, wo kein Quadratzentimeter Platz ist. Ich mag Orte, die förmlich überquellen, denn es ist immer interessanter, einen alten Stuhl oder einen antiken Bistro-Tisch mit verschnörkelten Beinen zu zeichnen als etwa einen Resopal-Tisch. Ich ziehe Häuser aus dem 19.
Jahrhundert modernen Gebäuden vor, denn dazu müsste ich die Geometrie austüfteln – das nervt mich. In meinen Geschichten ist die Ausstattung immer auch Bestandteil der Handlung, wie die Mumie, die erst nur zum Dekor gehört, dann aber eine wichtige Rolle übernimmt. Darüber hinaus brauche ich Gegenstände, die die Aktionen repräsentieren, die ich beschreibe. Da bin ich nicht so flexibel wie ein Schriftsteller. Im Grunde habe ich die gleichen Probleme wie ein Szenenbildner.
Mathieu Amalric sagt, dass er Ihre Comics sexuell aufgeladen” findet. Wie sehen Sie das?
Jacques Tardi: Die Frage nach Adèles Sexualleben stellte sich natürlich schon sehr früh. Dazu muss man sich aber vor Augen halten, wann ich die ersten beiden Bände geschrieben habe. In den Siebzigern konnte ich auf keinen Fall Adèle beim Sex zeigen, also versuchte ich das Problem mit Anspielungen zu umgehen. Uns wird zum Beispiel klar, dass sie Lucien Ripol vor der Guillotine bewahren will, weil sie ihn liebt. Dann gibt es die Sequenz, in der Zborowsky – der ja in Adèle verliebt ist – einen Traum hat, in dem sie halb nackt auf einer Klippe entlang rennt, umringt von prähistorischen Viechern. Das zielte nicht unbedingt auf Erotik ab. Aber es erschien mir ganz natürlich, dass eine moderne Heldin, die ihrer Zeit so weit voraus ist, auch ein Sexleben hat. Was die Darstellung angeht: Erotisch angehaucht sind nur die Bilder von Adèle im Bad. Dann macht die Handlung Pause: Im Badezimmer denkt Adèle über alles nach. Und es hat Spaß gemacht, sie so zu zeichnen.
In Ihrer Vorlage hasst Dieuleveult Adèle. Aber offensichtlich fühlt er sich zugleich
zu ihr hingezogen.
Jacques Tardi: Es ist doch klar, dass die Bösewichte, die Adèle das Handwerk legen wollen, auch von ihr angezogen sind. Viele Leute würden sie gern loswerden, aber sie ist einfach nicht kleinzukriegen. So halte ich die Story am Laufen. Jeder hat ein Motiv, Adèle nachzustellen. Oftmals ist das gar nicht ihr eigenes Verschulden – so wie in jener Episode, in der ein Zahnarzt Adèle eine Plombe aus einer Speziallegierung einsetzt, die für Bohrer benutzt wird, mit dem die Bösen einen Safe knacken wollen. Ich spiele gern mit solchen Situationen.
Wird die Beziehung zwischen den beiden im Film nicht ambivalenter dargestellt?
Jacques Tardi: Höchstwahrscheinlich. Es könnte aber auch sein, dass Dieuleveults maßloser Hass auf Adèle die Anziehung überdeckt. Einige Charaktere hassen Adèle von Anfang an. Sie nennen sie diese Blanc-Sec-Frau. Nehmen Sie die Wissenschaftler, die alle das Wort dieu (Gott) im Namen haben – Dieuleveult, Esperandieu… Das ist meine Art, mich über sie zu mokieren, denn sie halten sich für höhere Wesen, die zum Wohle der Menschheit handeln. Auch die Polizeibeamten, wie Caponi, mögen Adèle nicht besonders. Und dann gibt es noch undurchsichtigere Nebenfiguren, die ich aus anderen Bänden entliehen habe. Im Großen und Ganzen finde ich es interessanter, wenn Wissenschaftler verrückt sind. So wie der, der in einer der letzten Adèle–Folgen auftaucht und umgehend bei einem Unfall stirbt. Überhaupt Bösewichte. Alfred Hitchcock hat gesagt: Ein Film ist gut, wenn es einen guten Bösewicht gibt.
Hat die Reihe eine politische Botschaft?
Jacques Tardi: Nein. Ich verwende einfach nur das, was Sie jeden Tag in den Zeitungen lesen – niederträchtige Polizisten, korrupte Politiker – wirklich beängstigend. Adèle ist Anarchistin: Sie hat keinen Gott und keinen Herrn. Sie steht den Institutionen der Macht äußerst misstrauisch gegenüber. Aber Adèle ist definitiv kein politischer Comic. Das ist wirklich nicht meine Absicht.
Alle Ihre Figuren zeichnen sich durch hervorstechende physische Merkmale aus.
Jacques Tardi: Es stimmt, dass sie alle eine befremdliche Schönheit an sich haben. Ich zeichne eben gern solche Charaktere, mit hohen Wangenknochen, spitzen Nasen und schwarzer Kleidung. Da bin ich vom expressionistischen deutschen Film beeinflusst, dieser Stil fließt mir so leicht aus der Feder! Diese Figuren auf der Leinwand zum Leben zu erwecken, erfordert natürlich eine Menge Arbeit in der Maske.
Erzählen Sie uns von Adèles Schwester.
Jacques Tardi: Im Comic erfährt Adèle erst sehr spät von der Existenz ihrer Schwester, und die beiden können sich von Anfang an nicht leiden. Mireille (im Film heißt sie Agathe) ist überzeugt, dass ihre Schwester Adèle ihr den Verlobten ausspannen will, was überhaupt nicht wahr ist. Warum ich die Schwester ins Spiel gebracht habe? Nun, ich brauchte eine weitere weibliche Figur, die sich von Adèle abhebt. Außerdem wollte ich die Familie einführen, ein Element, das Adèle verunsichert – genauso wie ich zeigen wollte, dass sie einen Job hat. Das ist ein Weg, die Figur in der Realität zu verankern, ihr Wurzeln zu geben.
Warum trägt Adèle immer einen grünen Mantel?
Jacques Tardi: Das ist eine Hommage an Bécassine, die erste weibliche Comicgestalt des frühen 20. Jahrhunderts. Adèle ist eine Art Anti-Bécassine. Und sie ist rothaarig, da passt Grün wunderbar.
Sie bringen bald Ihren zehnten Adéle-Band heraus. Können Sie uns schon etwas
darüber verraten?
Jacques Tardi: Ja, ich veröffentliche das zehnte und letzte Buch, weil ich finde, dass die Serie einen Abschluss braucht. Ich habe das Bedürfnis, sie abzurunden.
Was haben Sie am Filmset gefühlt?
Jacques Tardi: Tiefe Bewunderung für Luc Besson. Denn ich habe das Gefühl, dass es viel einfacher ist, Charaktere auf dem Papier zum Leben zu erwecken!
Mit Material von Universum Film