Als junger, angehender Filmfan mit gutem Willen, das Medium kennenzulernen, aber wenig Erfahrung und Kenntnissen, nimmt man sich oft eine Quelle, nach der man sich richtet, am Besten eine Liste mit den vermeintlich besten Filmen aller Zeiten. Früher waren es sicherlich Filmlexika oder prestigeträchtige Zeitschriften, aber in Zeiten des Internets eignen sich für cineastisch interessierte Teenager und Nachwuchsfilmliebhaber wohl am Besten die (sich ständig aktualisierenden) Top 250 des Internet Movie Database. Auf dieser Auflistung findet man die namhaftesten Klassiker der goldenen Ära, die großartigsten Werke New Hollywoods und auch die Highlights der letzten Jahre. Man hat, nimmt man sich dieser Filme an, einen Großteil des Filmkanons als Basis abgedeckt, und ist recht gut in der Lage, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, wenngleich natürlich auch ein paar wichtige Filme fehlen. Wie ein Best of-Album eines Musikers ist solch eine Liste ein guter Einstieg in die Welt des Kinos.
Für mich bedeutete das Monate über Monate mit erstklassigen Filmen. Nur selten fand ich einen davon überbewertet. Mit der Zeit aber werden die noch abzuklappernden Werke immer weniger, und man beginnt, sich anderswo nach Filmen umzusehen, und die Gelegenheitskäufe häufen sich. Immer mehr erlebt man gute Unterhaltung, immer weniger Meisterwerke und Perfektion - was nicht heißt, dass sie nicht doch noch da draußen lauern, doch kann man ihnen nicht mehr so gezielt auflauern. Man stolpert über sie wie über eine Münze auf dem Straßenrand. Ich erwartete mir nichts weiter als einen ganz guten Film, als ich mir den unbekannten 50er Jahre-Streifen Solange es Menschen gibt kaufte. Das Cover des als Melodram bezeichneten Films zeigte Lana Turner und John Gavin wie bei Schinken der klassischen Ära so üblich, umschlungen, sich liebkosend, und doch irgendwie bedrückt. Filme aus dieser Zeit kann ich generell blind nehmen, sie sind nahezu stets gut unterhaltend, selbst die weniger anspruchsvollen. Und es war nicht mal der einzige Film, den ich damals mitgenommen hatte. Zum Geburtstag hatte ich einen Gutschein geschenkt bekommen und plünderte planlos die Regale des Geschäftes, wobei mir nebst anderen dieser Film von Douglas Sirk in die Hände fiel - von dem Regisseur kannte ich bis dato nichts, wusste jedoch, dass das mit Julianne Moore besetzte Drama Dem Himmel so fern sich für seinen 50er Jahre-Look von dessen Werken inspirieren ließ. Tatsächlich war es sogar nur einer von 2 Streifen dieses Filmemachers, die ich mir damals unter den Nagel riss.
Der Erwerb der DVD liegt nun etwa 1 Jahr zurück, und siehe da, über welchen Film ich nun bei der Aktion Lieblingsfilm schreibe. Was würde ich dafür geben, meinem Vergangenheits-Ich sagen zu können, was für einen wertvollen Schatz es da in den Händen hält. Stellt euch vor, ihr kommt nach 1, 2 Wochen, in denen sie bei euch im Schrank steht, dahinter, dass die gerade von euch gekaufte Glasfigur in Wirklichkeit aus lupenreinem Diamant besteht. Und das beschreibt nicht mal annähernd, was ich nach der Sichtung fühlte.
"Solange es Menschen gibt" ist einer der großartigsten Werke, die ich je gesehen habe, und besitzt alles, was ich an Filmen lieben kann, komprimiert auf 2 Stunden.
Die Geschichte beginnt auf einem mit Menschenmassen gefüllten Strand, auf dem 5 Personen aufeinandertreffen, die ihr gegenseitiges Leben fortan beeinflussen werden. Die verzweifelte Mutter Lora Meredith kann ihre Tochter, Suzie, nicht mehr wiederfinden. Sie sucht kreuz und quer an jedem Platz unter der prallen Sonne, doch das Mädchen ist nicht aufzuspüren. Sie stolpert über den jungen Fotografen Steve, der ihr bei der Suche nach Suzie behilflich ist, und sie letztlich auch entdeckt. Suzie sitzt neben einem anderen kleinen weißen Kind, Sarah Jane, und einer schwarzen Frau, Annie, die auf die beiden jungen Mädchen aufpasst. Während diese miteinander spielen, kommen die Erwachsenen ins Gespräch, und Annie bittet Lora, eine arbeitslose Schauspielerin, ihr eine Stellung als Hausmädchen zu geben. "Könnten Sie sich denn von diesem Kind hier trennen?" fragt Lora. "Nein" erwidert Annie, "meine Tochter kommt natürlich überall hin mit". Sarah Jane ist, obwohl von afroamerikanischer Herkunft, nahezu gänzlich hellhäutig: "Sie kommt ganz nach ihrem Vater - er war fast komplett weiß".
Das Aufeinandertreffen von Annie, Lora, Sarah Jane, Suzie und Steve sollte fortan das Leben jedes Einzelnen bestimmen.
Doch das sonnige Zusammenleben dieser kleinen Familie bleibt nicht ohne Gewitter:
Obwohl auf dem Papier quasi nicht existent, gab es in den Vereinigten Staaten der ausklingenden 1940er Jahren, in denen die erste Hälfte des Filmes spielt, strikte Plätze für Schwarze und strikte Plätze für Weiße, die sich keine der beiden Seite zu hinterfragen traut. Bereits als Kind bekommt Sarah Jane dies zu spüren, und zwar auf überaus schwierige Art und Weise. Ist sie alleine unterwegs, wird sie als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft behandelt und, so hart es klingt, verliert all diese Vorzüge, sobald sich ihre Mutter zu ihr gesinnt und sie als Schwarze "outet". Bereits als Kind erkennt sie den sozialen Unterschied, den die rassistische Gesellschaft des mittleren 20. Jahrhunderts Leuten mit dunklerer Hautfarbe entgegenbringt. "Warum müssen wir immer im Hinterzimmer schlafen?" protestiert sie. Ihre Mutter hat darauf keine Antwort. Es ist eben einfach so. Das Mädchen ist sich aber auch ihres Aussehens bewusst, und dass nur ihre Mutter von ihrer Herkunft, und dem damit verbundenen "Platz", zeugt - und vermeidet daher bereits als junges Kind, mit ihr gesehen zu werden. Annie will ihrer Tochter eine gute Mutter sein, die sich um sie sorgt und kümmert, und immer für sie da ist, weiß aber kaum, was sie auf die direkten Fragen ihres Sprösslings sagen soll. "Wie bringt man seinem Kind bei, dass es auf die Welt gekommen ist, um zu leiden?"
Lori bandelt inzwischen mit Steve an, mit dem sie, und auch Suzie, sich gut versteht. Währenddessen versucht sie sich durch diverse Jobs minderer Qualität über Wasser zu halten. Ihre Schauspielkarriere beschränkt sich auf eine Rolle als Fotomodell für Haustierpflegeprodukte, in denen sie nichts weiter zu tun hat, als die beworbenen Artikel in der Hand zu halten und heuchlerisch in die Kamera zu lächeln - als glückliche Hausfrau. Doch das erfüllt sie nicht. Sie möchte richtige Rollen spielen können. Ein mutiges Unterfangen beginnt: durch eine Lügengeschichte macht sich die zwar begabte, aber unbekannte Darstellerin erstmals bei einem Agenten mit Verbindungen interessant - erst recht, als ihr Trick auffliegt. Doch als sie sich mit dem Mann trifft, wird ihr bald offenbart, wie die Welt für noch unbekannte, weibliche Theaterdarsteller aussieht - sie will es zu etwas bringen, doch nur ihr Talent alleine reicht nicht. Empört stürmt sie davon, sie sei nicht so billig. Doch sie weiß auch, dass sie kurz davor ist, eine verheißungsvolle Karriere am Broadway zu starten. Steve und sie entfernen sich voneinander, und als sie in Erwägung zieht, den Mann doch noch einmal aufzusuchen, kommt es zum heftigen Streit - und zur Trennung.
Der Film macht einen Sprung ins nächste Jahrzehnt - zum Ende der 50er Jahre, der damaligen Gegenwart - und Lora ist inzwischen eine erfolgreiche Theaterschauspielerin und ein regelrechter Publikumsmagnet, und lebt in einer Beziehung mit ihrem Agenten, den sie zwar nicht liebt, der es aber "verdient hätte", er habe ja viel für sie getan. Die Familie lebt im Luxus, alles ist überfüllt mit Diamanten, teurer Garderobe, edlen Dekorationen und kostspieligem Schnickschnack - und doch ist es trotz der Lichtreflektion im Gold erschreckend kalt in der übergroßen Villa.
Alles hat sich verändert - außer der Freundschaft zu Annie und Sarah Jane, die nachwievor im Hause Meredith leben und arbeiten. Sarah Jane und Suzie sind mittlerweile an der Schwelle zum Erwachsenwerden - ein schwieriges Alter, und schwierige Bedingungen.
Suzies Mutter ist mit ihren Bühnenauftritten derartig beschäftigt, dass sie kaum mehr Zeit in ihrer prunkvollen Behausung verbringt, und garnicht bemerkt, dass ihr kleines Kind längst keines mehr ist. Um etwas über Jungs oder das Erwachsenwerden zu erfahren, kommt sie zu Annie, zu der sie ein weit engeres, vertrauteres Verhältnis aufgebaut hat als zu ihrer leiblichen Mutter, der sie komplett fremd geworden ist. Und Annie bedeutet Suzie genauso viel - denn je älter ihre rechte Tochter wird, desto größer wird die Kluft zwischen ihnen. Sarah Jane sieht und fühlt sich als Weiße und verleugnet ihre Herkunft komplett - sie trifft sich mit weißen Jungen, sie nimmt Jobs in Nachtclubs für Weiße an und setzt sich über jegliche ungeschriebenen sozialen Gesetze hinweg. Sie kann es, denn niemand würde dahinterkommen, sie wäre schwarz - wäre da nicht ihre Mutter, die nichts mehr will, als ihrem Kind nahe sein, welches sie regelrecht verstößt.
Alle paar Jahre lässt sich auch Steve blicken. Ihn verbindet ein freundschaftliches Verhältnis zur Familie und doch liegt zwischen Lora und ihm immer noch der Geist der Vergangenheit, und die Erinnerungen an schönere Zeiten.
"Solange es Menschen gibt" ist ein Abgesang auf die Missstände der 50er Jahre, der alle Kunstgriffe der damaligen Zeit anwendet, um auf eindringliche und erschütternde Weise die Fehler und Probleme seiner aGesellschaft aufzuzeigen. Mutig und ungeschönt lässt das vielschichtig geschriebene Drehbuch dem Zuschauer kaum eine Möglichkeit, sich für eine Lösung zu entscheiden.
Annie tut uns leid, da sie nur die Liebe ihrer Tochter will, und dafür von ihr verleugnet wird. Aber ist Sarah Jane wirklich die Böse? Tut sie uns nicht genauso leid, als sie von einem ehemaligen Freund zusammengeschlagen wird, als dieser von ihrer Herkunft erfährt? Wer kann es ihr übel nehmen... und gleichzeitig: wer kann es gutheißen? Ist eine der beiden glücklich, leidet die andere - unausweichlich.
Und dann ist da Lora, deren einziges Talent in der Schauspielerei besteht. Sie musste sich seinerzeit für einen Beruf oder ihrer Liebe entscheiden, und entschied sich für ersteres. Aber was wäre, hätte sie es nicht gemacht? Womöglich wäre sie immer noch in der beinahen Armut, in der sie sich einst befand. Und sie wusste selbst ganz genau, dass sie als Frau mittleren Alters mit Kind nicht unbedingt den Idealtyp darstellt, um den sich Produzenten streiten. Steve hingegen wurde herrschsüchtig und befahl ihr regelrecht, sich nicht für ihre Karriere zu entscheiden. Und was ist mit Suzie? Sie und ihre Mutter sind durch deren Beruf getrennt und sind sich nahezu fremd geworden - kann sie von ihrer Mutter verlangen, ihre Karriere an den Nagel zu hängen? Vielleicht. Sie sind mittlerweile wohlhabend, und Lora bräuchte nicht mehr zu arbeiten, ist jedoch mittlerweile auch schon längst Teil der High Society und wird mit hohen Ansehen belohnt - wer würde daraus aussteigen? Vor Allem, nachdem sie dafür ihre Prinzipien verraten und aufgegeben hat.
Und wenn es einen Sündenbock gibt, dann ist es die Gesellschaft, die die Normen, ungeschriebenen Gesetze und sozialen Plätze verteilt.
Seit der Veröffentlichung des Films sind 56 Jahre vergangen. Unsere Gesellschaft hat viele ihrer Vorurteile, ihrer Regeln und ihrer Unterschiede von Generation zu Generation gefiltert, und die Fortschritte sind deutlich bemerkbar - wer etwas anderes sagt, der hat entweder keine Augen im Kopf oder ist unverbesserlicher Pessimist. Und dennoch gibt es die Probleme, die uns dieser Film zeigt, immer noch. Vielleicht nicht so häufig, vielleicht nicht so offen und so extrem, aber dennoch. Und solange wir diese Zustände nicht komplett beseitigt haben, solange die Gesellschaft noch Unterschiede kennt, und solange es Menschen gibt, ist dies einer der wichtigsten Filme, die es je gab.
"Solange es Menschen gibt" ist exzellent und facettenreich geschrieben, mit großer Wirkungskraft und Aufwand inszeniert, von umwerfend agierenden Darstellern authentisch verkörpert und steckt voller Botschaften, die auch in Hunderten, nein Tausenden von Jahren noch nichts von ihrer Aussagekraft verlieren werden.
Filme wie diese viel zu unbekannte Perle sind es, die meine Filmliebe begründen. Filme, die mein Herz bluten und auch höher hüpfen lassen.
Community
Mutterliebe und Rassenhass solange es Menschen gibt ...
29.08.2015 - 09:00 Uhr

Universal
Zum Leiden geboren
Der Dingo in Zivil lädt zum Blogfest ein: "Dog's Reservoir" ist ein Meinungsblog zum Thema Film, Musik, Internet und andere Medien, verfasst vom teuflischen Szene-Hund Martin Canine! Wuff!
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