Hell's Kitchen ist kein schöner Ort. In der Realität mag das nicht mehr so sein, doch in Marvel's Daredevil ist der Name zweifellos Programm: Korrupte Anwälte, Auftragskiller und Schergen der russischen Mafia drücken sich hier vergnügt die Klinke in die Hand, während Matt Murdock (Charlie Cox) alles tut, um diesen moralischen Fehlschlägen den Garaus zu machen. Flächendeckend alles und jeden klein hauen ist da sicherlich eine Option, doch Effizienz sieht anders aus. Das weiß auch Matt und so macht er sich an die Arbeit, die Wurzel des Leids ausfindig zu machen.
Rabbit in a Snowstorm arbeitet hart, um uns den Kopf dieses kriminellen Schlaraffenlands schmackhaft zu machen. Wilson Fisk, der Voldemort New Yorks, der, dessen Namen nicht ausgesprochen werden darf. Seine Omnipräsenz wurde auch schon in der vorangegangenen Episode angedeutet, doch hier wird die Einführung seiner Figur erstmals strukturiert und sorgfältig vorbereitet, um Kingpin dann letzten Endes ganz leise und nicht ganz ironiefrei vorzustellen.
Dabei fängt alles unscheinbar an. Der Betreiber eines Etablissements zur Freizeitgestaltung wird ganz klassisch mit einer Bowlingkugel getötet - im Auftrag von Wilson Fisk (Vincent D'Onofrio), wie wir bald herausfinden werden. Es ist aus vielerlei Hinsicht ein bemerkenswerter Einstieg in die Episode. Daredevil wird hier erstmals sehr deutlich in seiner Gewaltdarstellung, ohne sie als Stütze für Murdocks innere Aggressionen zu nutzen. Der Kopf des Opfers bekommt zur Zermalmung liebevoll eingesetzte Matsch-Sounds in großzügiger Lautstärke, der gebrochene Arm des armen Mannes ist samt herausragendem Knochen gar direkt vor der Kamera zu sehen. Diese Szene etabliert natürlich in erster Linie eine Form von roher, gnadenloser Gewalt, die auf den großen Bösewicht hindeutet, der uns am Ende dieser Episode präsentiert werden soll. Wir können uns früh denken, dass es sich hier um einen Auftrag von ganz oben handelt und so assoziieren wir diesen Gewaltausbruch direkt mit dem geheimnisvollen großen Mann, den jeder zu fürchten scheint. Das Bowlingbahnmassaker nimmt Kingpins gewaltige Macht jedoch nicht bloß in der graphischen Gewalt vorweg, sondern auch in dem Verhalten des Auftragsmörders John Healy (Alex Morf). Als seine Waffe nicht funktioniert (sehr befremdlich: ein Guy Ritchie-artiger Flashback zum vorangegangenen Deal), schaltet Healy reflexartig auf zügellose Fausteskalation um, als gäbe es kein Morgen mehr. Er interessiert sich nicht im Geringsten für die Sauerei und die entsprechenden Folgen, weil er weiß, dass er diesen Job um jeden Preis zu Ende bringen muss. Wenn er die Bowlingkugel wiederholt auf sein Opfer schmettert, spricht aus ihm vor allem die Angst, seinen Boss zu enttäuschen. Wer auch immer diesen Auftrag gegeben hat, duldet ganz offensichtlich keinen Fehler.
Diese Angst vor dem großen Chef wird später in der Episode auf die Spitze getrieben, als Matt den Namen, der nicht ausgesprochen werden darf, aus John Healy herausprügelt. Healy spießt sich lieber freiwillig auf, als am Leben zu bleiben, jetzt wo er von Fisk gesprochen hat ("He'll find me, he'll set an example. And then he'll find everyone I ever cared about and do the same to them"). Er zieht die einzig logische Konsequenz daraus und rammt sich die Metallspitze des nächsten Zauns durch das Auge. Wie bei allen anderen Themen dieser Serie ist Daredevil auch in der Charakterisierung der allumfassenden Angst vor Wilson Fisk alles andere als subtil, doch sie macht im Rahmen einer Comicverfilmung unheimlich Spaß. Zumal wir den Kingpin persönlich in der anschließenden Szene kennenlernen: Wie angewurzelt starrt er ein weißes Bild an, nervös mit den Fingern zuckend. "It's not about the artist's name or the skills required. All that matters is, how does it make you feel?", kommentiert die charmante Kunsthändlerin Vanessa (Ayelet Zurer), worauf unser gefürchteter Tyrann eine klare Antwort hat: "It makes me feel alone."
Dank der umfangreichen Vorbereitung macht allein diese kurze Szene Kingpin zu einem der interessantesten Bösewichte im Marvel Cinematic Universe. Glücklicherweise lässt In the Blood dieses Potential nicht ungenutzt und zeigt uns mehr von seinem Charakter. Sein unbeholfener Versuch, Vanessa zum Essen einzuladen, ist so süß, dass es einem kalt den Rücken runter läuft. Doch in seinem Wesen steckt mehr als ein sozialer Fremdkörper, der auf denkbar ungeschickte Weise versucht, eine Kunsthändlerin rumzukriegen. Nicht zuletzt dank Vincent D'Onofrios Performance erkennen wir Kingpin vom ersten Moment als eine überaus tragische Figur. Er kauft sich das weiße Bild und hängt es sich ins Schlafzimmer ("That’s either very romantic or very sad"), er freut sich über die Qualität seines Lieblingsdesserts ("Isn't that what children have at birthday parties?") und er vernichtet Schädel mit Autotüren aus Scham darüber, dass er vor Vanessa blamiert wurde. Während seines Dinners mit ihr zeugt jede Geste, jeder Satz von Verletzlichkeit und Einsamkeit, von der verzweifelten Suche nach Liebe und von dem so ermüdenden Kampf, als sozialer Teil der Gesellschaft anerkannt zu werden. Das macht Fisk ebenso bedrohlich wie mitleiderregend, denn ähnlich wie bei Matt zeugen auch seine Gewaltausbrüche von weit mehr als bloß von der Herstellung einer Ordnung oder vom notwendigen Übel der Branche. Es ist viel mehr der einsame Pfad aus der Frustration, das Abfallprodukt einer nicht funktionierenden Gesellschaft zu sein.