Wir schauen The Leftovers - Staffel 1, Folge 6

05.08.2014 - 08:59 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
The Leftovers
HBO
The Leftovers
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Wie in Noras Fragebogen ergibt sich auch nun bei den Episoden ein Muster: Sobald sich The Leftovers auf das Schicksal einer einzelnen Figur konzentriert, ist das Endergebnis eine faszinierende, mitreißende und außerordentlich produzierte Glanzleistung, die das Potential dieser Ausnahmeserie verdeutlicht.

Wir Menschen sind gut darin, die Realität zu leugnen. Wir entwickeln ausgefeilte Systeme, Parallelwelten und Mechanismen, die unsere Tagesabläufe bestimmen. Wir geben uns ihnen freiwillig hin, um der schmerzenden Wahrheit zu entkommen. Die Wahrheit in The Leftovers ist, dass vor etwas mehr als drei Jahren zwei Prozent der Menschen ohne Erklärung verschwand. Das Ereignis ist nicht zu erklären. Wie gehen wir damit auf der individuellen und der gesellschaftlichen Ebene um? Und rechtlich gesehen, erinnert uns ein betrunkener Partylöwe inmitten der Folge, werden die verschwundenen Personen gar nicht als tot anerkannt. Sie sind einfach weg. Wie soll man damit umgehen? Alte Systeme fallen in sich zusammen, neue entstehen.

Nora Durst war bislang nur eine Randfigur in der Figurenkonstellation Mapletons. Dabei vereint sie die thematische Spannung aus Trauer und Schuld sowie das Spannungsverhältnis aus Individuum und Staat wie kein anderer Charakter der Serie. Ihre gesamte Familie, bestehend aus Ehemann und zwei Kindern, verschwand am 14. Oktober. Auf der einen Seite plagt sie eine tiefe Trauer. Sie will und kann all dies überhaupt nicht wahrhaben. Daher geht sie immer noch für die gesamte Familie einkaufen. Ungeöffnete Müslipackungen der Kinder werden mit neuen ersetzt. Die Kinderzimmer bleiben unberührt zurück, ein wahrhaftes Puzzle, das nur von den Verschwundenen wieder gelöst werden kann und bis zu ihrer Rückkehr verharren muss. Auf der anderen Seite aber treibt sie ein tiefe Schuld, dass gerade sie zurückgelassen wurde. Die Chance ist gering – 1 zu 128.000, wie sie später kühl bemerkt. Was hat sie falsch gemacht? Wieso ist sie noch hier? In der Figur der Nora Durst vereint sich die zentrale Thematik der Serie, weshalb es an der Zeit war, ihr mehr Raum zu schaffen.

Zu Beginn der Episode geht sie ihrem Alltag nach, zu dem ein Interview mit dem Ehemann eines Verschwundenen, aber auch das Stalking der Lehrerin gehört – der Lehrerin ihrer Kinder und der Affäre ihres Mannes. Könnten die Kinder sogar in ihrer Anwesenheit verschwunden sein? Ein ständiger Begleiter, eine Magnum in der Handtasche, deutet jedenfalls tiefergehende Rachefantasien an. Die Waffe dient aber auch einem weiteren Zweck. Gegen Abend bestellt sich Nora eine Prostituierte namens Angel (ha!), die sie mit der Waffe, unterlegt zu Slayers „Angel of Death“, anschießt. Nora verliert kurz das Bewusstsein, trägt jedoch eine schusssichere Weste und überdenkt die Tat. “Was ist Ihnen nur passiert?“, fragt gerade ausgerechnet die Prostituierte. Es geht ihr weniger um die womögliche Nahtoderfahrung. Die Kugel symboliert den Schlag, den ihr Leben erfahren hat. Sobald sie merkt, dass sie sich loslösen könnte, braucht sie ihre Dosis.

Danach führt uns Noras Beruf beim Department of Sudden Departures nach Manhattan (eine weitere 9/11-Referenz). Dort findet ein nationales Treffen der Regierungsbeamten und der Vertreter aus Religion und Wirtschaft zum 14. Oktober statt. Bereits die Ankunft gestaltet sich kurios und gespenstig. Vor dem Eingang belästigen Demonstranten alter und neuer Religionen vereint die Fachbesucher. Während ein Christ in der kunterbunten Menge das Verschwinden des Papstes als Verschwörungstheorie deklariert und direkt aus einem Monty Python-Sketch entsprungen sein könnte, wird die Situation schlagartig gefährlich, als ein Mann ihr eine Mk2-Handgranate in die Hand drückt und den Ring zieht. Nora ahnt im Gegensatz zum Zuschauer direkt, dass es sich hier um eine Attrappe handelt. Auf der Granate steht: „Any time now.“ – eine Erinnerung an die Worte von Chief Garvey aus dem Piloten, dass die gesamte Situation kurz davor ist zu explodieren.

Damit dies nicht passiert, hat sich ein durchdachtes und komplexes System aus der Regierung und der Wirtschaft gebildet. Nora trifft auf einer hemmungslosen Drogenparty („The FDA is gonna approve it next year“ – Gesellschaftskritik und ein Zeichen für die hoffnungslose Serienwelt in einem) nicht nur auf den Verkäufer von Loved Ones, der Firma hinter den lebensgetreuen Puppen, sondern wird auch mit der lächerlichen Farce ihres Berufs konfrontiert. Der Fragebogen kann und soll keine Ergebnisse liefern – er bringt Ruhe und eine Möglichkeit, mit dem 14. Oktober abzuschließen. Die Hinterbliebenen können sich von dem erhaltenen Geld über die nicht wirkenden Lebensversicherungen hinwegtrösten oder bei Loved Ones eine Beerdigung erkaufen. Das System funktioniert, alle gewinnen. Man kann weiterhin die Realität leugnen und versuchen, ein normales Leben zu führen, wie auch immer sich das gestalten mag. Doch will man das wirklich? Der Schmerz bleibt bestehen, die Figuren leiden weiter, es ist ein Teufelskreis aus Trauerphasen, dem niemand gänzlich entkommen kann.

Ähnlich wie Kevin Garvey gehen auch Nora Dursts Gegenstände verloren. Bereits nach sechs Folgen wirkt dieser Kniff der Autoren etwas abgedroschen. Die Tiefe fehlt, die Metapher ist zu lasch. Doch bei Nora handelt es sich nicht nur um eine kleine Randnotiz wie bei den verschwundenen Hemden aus der letzten Episode. Ihr verschwundener Ausweis dient als Basis für eine kleine Wendung später in der Folge mit einer Aktivistin, die sich auf das Treffen und die Podiumsdiskussion gemogelt hat. In einem starken Moment, der an einen entscheidenden Plot Point aus Contact erinnert, scheint Regisseur Carl Franklin die Zeit still stehen zu lassen. Die Aktivistin entpuppt sich jedoch als relativ harmlose Verschwörungsfanatikerin, die zwar die Theorie der unnützen Fragebögen und Verbrennungsanlagen (gesehen in Gladys) bestätigt, im nächsten Satz jedoch über Plasmawaffen des Mossads aus dem Jahre 2005 predigt und damit ihrer These jegliche Legitimität raubt.

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