- Erster Teil: Blicke in die oft verborgenen Winkel der Menschheit
- Zweiter Teil: Automatisiert Menschen, alte Tücher und Heroin im Sumpf
- Dritter Teil: Starre, zerbrechliche und wandelbare Menschen
Samstag 31.10.2015
Wie schon am Freitag starte ich heute gemütlich um 13:00 Uhr in den Kinotag. Zunächst habe ich mir als ergänzenden Programmpunkt, zu den beiden Südkorea-Dokus (siehe 2.Teil), eine der auf Grund von Restriktionen gegenüber Journalisten seltenen Dokus aus Nordkorea auf den Plan gesetzt. So bin ich nun also schon einigermaßen gespannt, was "Under the Sun", neben den seitens der diktatorischen nordkoreanischen Regierung streng zensierten Filmaufnahmen, für den Zuschauer parat halten. Tatsächlich fallen diese gar nicht all zu vielfältig aus, allerdings reichen die wenigen Handlungsorte locker, um das Bild einer kruden Gesellschaft in betoniertem Stillstand offenzulegen. Der vornehmlich und für die Filmemacher offensichtlich von Schauspielern inszeniert norkoreanische Alltag und beispielhafte Szeenen vom Tanzenden dem ewigen Führer "Kim Jong-Un" ergebenen, seine Sehnsüchte und Träume besingende Volk, wirken absolut absurd. Sie sollen harmonisch wirken, aber sie können es einfach nicht. Zu deutlich ist die Körper und Gesichtsprache der agierenden. Im Angesicht des klar erkennbaren Gleichschritts, der bereits in der Schule fundamentierten Gleichmacherei sowie dem versteckt gehaltenen wirklichen Alltag in Nordkorea, kann eine Harmonie auch nicht gegeben sein. Fast schon quälend lang sieht man dem getürkten Treiben zu, spürt aber gerade durch diese Länge, wie es sich wohl als Nordkoreaner*in in solch einer Entwicklungsstarre anfühlen muss. Wenige Randnotizen der Dokumacher und aussagekräftige Detailbilder genügen um das inszenatorische Bild zu demontieren. So sieht man den kondensierenden Atem und sich die Hände warm reibende Grundschüler im kühlen Klassenzimmer oder erfährt, dass die Busfahrt zur Schule so in der Realität nie stattfindet, sondern die Kinder gleich vor Ort im Schulgebäude wohnen. Fast immer spricht die Szenerie allein für sich. So zum Beispiel, wenn eine Riege von altgedienten Offizieren aus dem Koreakrieg sich in einer Halle voller in Jugendorganisationen eingegliederten Kindern in Bewegung setzt und die tausenden Orden an den Mänteln der Ex-Soldaten in den Kinoreihen des DOK-Filmfestivals leise zu klingen und zu klimpern beginnen. Orden, die einen fragwürdigen Glanz der Vergangenheit aufrechterhalten sollen. Bannend, diese fragwürdige Ideologie für mich und die anderen zuuschauer im Kinosaal, fast so starr sitzen wir, wie die im propagandistischen Griff gefangenen Grundschüler*innen, als ihre Lehrerin sie auf
den westlichen Feind einschwört, in dem sie sie Dinge gefühlten tausendstenmalig laut wiederholt und wiederholen lässt.In die Köpfe wird ihnen eingeschrieben, was der westliche Feind dem nordkoreanischen Volk alles antun werde, womit "der Westen" das Volk bedrohe.
Mit einer tief ins mitfühlende Mark schneidenden letzten Aufnahme schließt der Film nach 110 Minuten schließlich in höchster Intensität und ich verlasse das nordkoreanische Theater. Ich stelle fest, dass die Robotisierung des Menschen im nördlichen Teil des geteilten Koreas noch wesentlich heftiger ist als im südlichen Teil, beides aber auf seine Art nur schmerzlich zu beobachten ist.
#dokdok #DOK140 Monotoner absurder Führerkult formt verlorene Robotermenschen. Aber Tränen lügen nicht. "Under the Sun"
Nach kurzem, 20-minütigen Sonnetanken, startet auch schon der nächste starke Programmpunkt. Die menschliche Psyche steht jetzt im Mittelpunkt. Zunächst eingeleitet mit einem kurzen, 6-minütigen, intensiven, wirren, aber nachvollziehbaren Animadok aus der Innenperspektive einer medikamentös behandelten Depressionskranken in "Procedere“ , führt mich der Blick danach als Zuschauer hinter die Kulissen des stationären Alltags in einer Jugendpsychiatrie in Österreich. "Wie die anderen" macht mir Eindrücke jenseits der Klischees von Heilanstalten und deren Darstellung in Kinofilmen sichtbar. Das Anliegen der Doku ist es, die Menschen und ihr Agieren von beiden Seiten, die des Patienten sowohl auch die der Ärzte, zu beleuchten. Ich begegne komplexen Zwickmühlen, sehe realen Schicksalen und realen Problemen und wohne Beratungsgeprächen innerhalb der Ärzteschaft, wie natürlich auch Patientengesprächen bei. Mir wird recht schnell bewusst, was hier gemacht wird ist für die Betroffenen oft überlebenswichtig. Es geht um essentiell wichtige Hilfe für die einzelnen Individuen, die gerade auch aus Schutz vor psychischem Stress oder gar Missbrauch durch das Umfeld besteht, nicht zuletzt weil die sozialen Umgebungsfaktoren fast immer der Auslöser für einen psychischen Knacks oder eine Entwicklungsstörung sind. Zwischendurch erinnere ich mich an die Situation der Menschen aus der sporadischen mexikanischen Heilanstalt von gestern und mir wird der Unterschied im Umgang mit ihnen sehr deutlich. In unseren Breiten wird diese verantwortungsvolle Aufgabe vom System geschultert und größtenteils darauf geachtet, dass sich jemand der Sache richtig annimmt. In Mexiko fällt man stattdessen schnell heraus, aus dem Sichtfeld der Gesellschaft.
Auch Medikamente spielen in der Psychiatrie eine Rolle, die Medikamentation und deren negativen oder positiven Auswirkungen genauer unter die Lupe zu nehmen, ist jedoch nicht anliegen der Doku. Das Thema wird jedoch auch nicht links liegen gelassen und zum Beispiel das große Medikamentenregal eindrücklich mit der Kamera eingefangen. (Eine sehr, sehr gute Dokumentation zum Verhältnis Patient-Medikamentation ist Nicht alles schlucken.)
Insgesamt waren die Filmer mehr als ein halbes Jahr vor Ort und haben stundenlang Material
gesammelt, um sich wirklich in den Alltag in der Klinik einzufühlen. Dies und noch andere interessante Details liefert mir das ausführliche Interview mit dem Regisseur im Anschluss an den Film. Ich gehe mit starken Eindrücken in eine kurze Pause, die ich auch nutze, um mich rege mit anderen DOK-affinen Freunden über unsere Favoriten auszutauschen.
#dokdok #DOK140 Hautnaher Patienten + Pflegerkontakt zeigt ausgewogen Psychatriealltag und dessen Schwierigkeiten. Wichtig! #WieDieAnderen
Auf den nächsten Film bin ich schon besonders gespannt, weil ich nicht wirklich weiß, was mich erwarten wird. Das Setting ist höchst spannend. 7 Kinder, die in New York aufgezogen wurden in einer Wohnung mit spärlichem Außenkontakt, dafür jede Menge Bewegtbilderkonsum. WTF! Das klingt nach einem sehr schrägen Experiment und erinnert ansatzweise an Kaspar Hauser , wenn es auch nicht ganz so drastisch zu sein scheint. Zunächst gibt es wie so oft einen kurzen Vorfilm. Diesmal ist es mit "Teeth" ein sehr schräger Animationsfilm, in dem sehr eigensinnige Geschichte eines Zahnlebens erzählt wird. Autsch, wenn ich gerade nochmal drüber schreibe, spüre ich noch eine Art Phantomschmerz. Doch! Sehr gelungen! Kurzes Interview auch mit dem Macher der Kurzwerkes, dann der Hauptfilm The Wolfpack. In an diesem Samstagabend voll besetzte Kinosaal bin sicherlich nicht nur ich gespannt, was uns jetzt erwartet. Was werden wir für Kinder sehen? Kann man fast nur innerhalb von doch recht übersichtlich großen Wänden einer Wohnung aufgewachsen, halbwegs normal daherkommen? Wird man nicht automatisch total schräg und anders und komisch? Die Fragen sind recht schnell beantwortet. Irgendwie sind die 6 Jungs alle recht normal. (Über die Schwester erfährt man recht wenig, sie ist mit einer leichten Behinderung geboren, erfahre ich im Gespräch danach.) Klar sie haben in ihrer Freizeit im Zimmer, etliche Drehbücher aufgeschrieben und es ist eines ihrer größten Hobbies auf schräge Art und Weise Spielfilmszenen nachzuspielen, aber hey, irgendwie mussten sie ja ihre Zeit kreativ nutzen. So schräg ist das auch wieder nicht. Nein eigentlich wirken die Jungs, sogar alle ziemlich eloquent und selbstbewusst, wie ziemlich smarte aufgeweckte Jungs eben. Gut mit einem bisschen weniger Ahnung als der Rest der Welt, von dem wie sich die Außenwelt insgesamt so anfühlt, wie es ist an eine Schule mit vielen anderen zunächst unbekannten Menschen zu lernen und wie es zum Beispiel ist sich frei durch die Straßen der Stadt oder am Strand im Urlaub zu bewegen. Ja vieles kennen die Jungs nicht oder nur sporadisch und so ist es für sie eine der größten Sachen, als riesige Filmfans zum ersten mal zu sechst alleine in die Stadt zu ziehen und sich in einem Kino einen Film auf der großen Leinwand anzuschauen. Ein bisschen schräg sind sie dann schon, zusammen ziehen sie in Bluesbrothers anzügen mit Sonnenbrille an einem ihrer ersten Tage durch die City. Für sie ganz normal, für den Außenstehenden sicherlich schon ein recht stranger Anblick. Schaden tut diese Eigenart jedoch nichts, im Gegeneil, es stellt sich als perfekte Aufmachung heraus, um Kontakte zu knüpfen. Und so sind sie dann auch ganz schnell an eine Dokumentarfilmerin geraten, die diese merkwürdige Lebensgeschichte der 6 Jungs in ein wirklich sehenswertes Portrait umgesetzt hat. Wir hören der Geschichte des Vaters zu, lernen die noch viel wichtigeren Mutter kennen, die ihre Kinder in zertifiziertem Heimunterricht, viele lehrreiche Dinge beigebracht hat und natürlich bekommen wir schon auch etwas über psychische Probleme der Jungs mit. Eine Kindheit in quasi Gefangenschaft, dass geht dann doch nicht ganz spurlos an einem vorbei. Zerstörtes Verhältnis zum Vater inbegriffen. Klar! Auf jeden Fall ist "The Wolfpack" eine wahnsinns Doku und eine willkommene unterhaltsame Abwechslung vom überwiegend harten Stoff, den ich die Tage in den anderen Dokus aufsaugen durfte. P.S. Wie ich gerade sehe hat die Doku, der diesjährige Sundance den Preis der großen Jury in seiner Sektion gewonnen. Na ,das ist doch mal was!
#dokdok #DOK140 Es klingt wie ein makabres Experiment, dabei ist es reiner Überprotektionimus. Wahnsinns Story, mit HappyEnd. #TheWolfpack
#dokdok #DOK140 Betreten übernatürlichem Terrains ist immer ein Balanceakt. Aber oft ergibig für affine Spurensucher. Topp!
Sonntag 01.11.2015
Der letzte Tag steht an und ich lass es zum Ausklang ganz ruhig angehen. Heute also nur noch zwei Programme. Leider das erste um 11Uhr und ich handel mir nochmal eine ordentliche Portion Schlafdefizit ein, was mich nacher noch zu einem kurzen Schlummermoment verleiten wird. Jetzt bin ich jedoch hellwach und schau in "Gayby Baby " vier australischen Kinder, drei Jungs und einem Mädchen, beim alltäglichen heranwachsen mit zwei gleichgeschlechtlichen Eltern zu. Ja und im Prinzip ist alles wie bei anderen Familien auch, nur man hat eben zwei Daddies oder zwei Mummies. Es gibt schöne Momente, es gibt schwierige Momente, aber es spielt eben keine Rolle wer sich um einen sorgt, hauptsache es ist jemand da, wenn man Probleme hat. Schon allein die schiere Normalität und die im Grunde nicht bestehenden Diskrepanzen zu traditionellen Familien, macht diesen Film sicherlich zu einem politischen Film. Dezente Statements der Kinder unterstreichen dabei, dass sie die letzten sind die mit dieser ungewöhnlichen Situation ein Problem haben. Gefühlt schau ich gerade hauptsächlich einen Film über die Alltagswelten von Kinder, der unaufgeregt mit einer GayEltern Thematik umwoben ist und schlussendlich geh ich mir dem Gefühl aus dem FIlm, dass man beim Kinderwunsch gleichgeschlechtlicher Paare einfach Toleranz walten lassen und ihnen keine größeren Steine in den Weg legen sollte. Die Doku mit ihren Portraits ist ein wirklich gelungenes Plädoyer für die Vielfältigkeit von Familienstrukturen.
Die letzten Streifen schicken mich über 25 Jahre zurück in die Vergangenheit, mit Geschichten aus der DDR. Zunächst begeb ich mich auf eine sehr eindrücklich Tagestour von Sachsen an die Ostsee Küste mit dem Trabi im AnimaDok "Die Weite Suchen" . Um genauer zu sein mit einem animierten Trabi. Und dann eine Wochen Strand und Meer. Wirklich eine schöne kurze Geschichtsstunde wird mir hier geboten, in der ich lerne was Verzicht hieß in der ehemaligen Zone. Aber auch, dass eine gute Improvisation und Weitblick, alles halb so schlimm sein ließ. Eine kleine Weltreise dieser Sommertrip an die Küste. Mein Konzentration sinkt dann aber auch schon langsam. Hab ich mich zwischen der ersten und zweiten Vorstellung heute doch auch nochmal ordentlich sportlich betätigt. Was definitv gut gegen das Sitzfleisch ist, aber auch schlecht für die übermüdeten Augen. So passiert es mir nach während des nun folgenden Filmes "Als wir die Zukunft waren ", dass ich bei einer der ingesamt fünf DDR-Jugendgeschichten wegdöse und sie komplett verpasse. Wie ihr euch denken könnt, blieb dann ingesamt nicht mehr soviel von den sehr persönlichen Geschichten hängen. Für mich waren in den Episoden, aber auch nicht so wahnsinnig viele aufschlussreiche neue oder aufregende Dinge dabei, insgesamt blieben diese Zeitdokumente jedoch ganz nett anzuhören. Mehr Meinung ist zum letzen Film einfach nicht mehr drin, Sorry! Jedenfalls war mein eigenes DOK Programm danach gelaufen und ich schon fast im warmen Bettchen.
Was bleibt mir zum Schluss noch zu schreiben. Viele Realitäten gab dieses Jahr wieder. Aus allen Ecken der Welt haben mich die Bilder zum Nachdenken über den Menschen, seine Beziehungen, seine Problem und seine Wege gebracht. Sie werden meinen Alltag sicherlich noch eine Weile begleiten und mich nicht vergessen lassen, dass den Ausschnitt den ich in meinen Täglichkeiten wahrnehme, nur ein kleiner Teil dessen ist, was die Welt, ihre Gessellschaften und die Dynamiken der Schicksale Einzelner prägt. Mir ist vor allem nochmal bewusst geworden, wie sehr Umgebungen und Einflüsse jedne einzelnen bestimmen und ich bin bestärkt darin, weiter nach den besseren und richtigeren Wegen und Einflüssen Ausschau zu halten, damit ich irgendwann auf die große Doku meines Lebens zurückblicken kann, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.
Wir lesen uns hoffentlich im nächsten Jahr wieder, auch wenn es dann wohl wieder einen etwas kompakteren Bericht geben wird. Alle hier in der MP-Communty aktiven denen mein Tagebuch gefallen hat, dürfen natürlich gern ein Herzchen drücken und/oder eine kurzen Kommentar hinterlassen. Der Autor dankt es euch.
Bis dahin! Euer Jimi Antiloop!
P.S: Der diesjährige DOK-Trailer sah übrigens so aus....