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Automatisierte Menschen, alte Tücher und Heroin im Sumpf

31.10.2015 - 09:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Mensch vs. Robotermensch
Animas-Film
Mensch vs. Robotermensch
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In der Fortsetzung meines Berichts vom DOK Leipzig Festival für Dokumentar- und Animationsfilm führt es mich nach Südkorea, Louisiana, Bulgarien, in eine Automatenwelt, auf die Krim, in eine Höhle und zu einem alten Tuch mit einer noch älteren Geschichte.

1. Teil: Blicke in die oft verborgenen Winkel der Menschheit

Dienstag 27.10.2015

Der letzte Film des Tages, trotz 1 Stunde Mittagsschlaf fühl ich mich schon etwas matt. Vier Programme am Tag ist auch grad so die Grenze, die ich in den letzen Jahren als erträglich ausgemacht habe. Man will ja das Gesehene eigentlich auch immer noch ein bisschen nachwirken und die Frage- und Antwortrunden der fast immer anwesenden Regisseure nochmals durch den Kopf gehen lassen. Eigentlich sind 3 Programme pro Tag also ideal.

Egal. Die Reise geht jetzt erst einmal nach Südkorea, eine der führenden Wirtschaftnationen in der Welt. "Factory Complex"  heißt die Doku. Die Thematik: Arbeitsbedingungen des einfachen Arbeiters, dem wohl schwächsten Glied in den allermeisten Gesellschaften. Im Kopf habe ich noch, etwas mit Textilarbeiterinnnen gelesen zu haben. Da kenn' ich gerade aus den letzten Jahren schon einige gute Dokus, aber trotzdem besteht weiteres Interesse. Die Umstände in der Welt kann man sich eigentlich nicht genug bewusst machen, damit man nicht irgendwelchen überflüssigen Schwachsinn konsumiert und dabei bleibt das Beste zu versuchen, vermeidbaren Anschaffungen aus dem Weg zu gehen und zumindest auf faire Arbeitsbedingungen und geringe Umweltbelastung zu achten. Im Film geht es dann auch nicht nur um Textilarbeiterinnnen, sondern auch um Stewardessen, Beschäftigte in großen Elektronikfirmen und außerdem um das Outsourcing nach Bangladesh mit Bildern aus diesem sehr armen Land.

#dokdok #DOK140 Komfortzonen verlassen und der hochentwickelten Wirtschaftswelt in ihre hässliche Fratze blicken. "Factory Complex"

Das Andersartige, im Blick auf die Dokumentationen, welche mir bereits bekannt sind, ist der sehr starke Focus des Filmes auf die Menschen, ihre Situation ihre Gefühlswelt und ihr Proteststreben für Verbesserungen. Es ist festzustellen, Südkorea ist kein Vergleich zu Deutschland. Bei uns wird Arbeitsschutz schon immer groß geschrieben, Betriebsräte sind eigentlich größtenteils Standard und auch die Umweltrichtlinien nicht zu lasch. Als der Film kurz vor Mitternacht zu Ende geht, merke ich eine Traurigkeit in mir, denn ich habe gerade in den Spiegel der ach so hochentwickelten Ökonomie der Welt geschaut und den durchaus vermeidbaren Schmerz von Menschen gesehen. Aber die Traurigkeit ist auch völlig ok. Dann bleiben mir die Dinge nicht egal! Was denke ich noch so? Fabrikprozesse müssen so weit, wie es geht, automatisiert werden. Kein Mensch braucht monotone Roboterarbeit. Ja auch Textilien lassen sich bestimmt automatischer herstellen als bisher. Abbau von Arbeitsplätzen? Ach Mensch, wir müssen doch sowieso mal 'n bisschen umdenken, was den Support der kleinsten Einheit des Staates und die Arbeitsteilung anbelangt. Ok, nach weiteren 30 Minuten höchst interessanten Zusatzinfos beim Q&A (Questions & Answers), obwohl ich schon echt müde bin, ist der erste volle DOK-Tag gelaufen. Er hat mich nicht enttäuscht.

#dokdok #DOK140 Traurige individuelle Massenopfer, die für das Prinzip stehen, an dem noch immer zu wenig verbessert wird. "Factory Complex"

Mittwoch 28.10.2015

Ein bisschen zu kurz geschlafen (das wird nachgeholt), aber trotzdem euphorisch wie am ersten Tag, sitz' ich um 11 auch schon wieder im Kino. Idealerweise beginnt der Tag mit einer sehr ähnlichen Thematik wie der Vorherige. Aber auch ganz anders. Der für mich erste reine Animationskurzfilm des Festivals wird noch vor dem Hauptfilm gescreent. Und was soll ich sagen? Ich bin einfach nur begeistert und hin und weg. "Automatic Fitness"  kommt bunt, etwas schrill, mit zunehmender Länge rasant und vor allem mit großartiger Satire daher. Absolut gut, um richtig wach zu werden und die Gehirnwindungen auf volle Touren zu bringen. Da fliegen 100Matic-Geldscheine durch die Gegend, da schrillen Wecker und man sieht 20 Minuten allen falschen Dingen beim falsch laufen zu. Das muss man wahrlich gesehen haben.

#dokdok #DOK140 Absolut geniales, genial animiertes und sinnbildliches Abbild falsch automatisierter Gesellschaften. "Automatic Fitness" 8D


Dann kommt der Hauptfilm und ohne es bewusst geplant zu haben, bin ich schon wieder in Südkorea. Sehr gut! Aber auch gar nicht so verwunderlich, schließlich steht es im diesjährigen Länderfokus des Festivals. Nach dem mich gestern Abend die Unterschicht beschäftigte, gibt es heute morgen um die Nachwuchselite des Landes. "Reach for the SKY"  lässt mich in die absurde Welt des Megahypes um den alljährlichen Hochschuleignungstest eintauchen. Abistress war ein Klax zu dem was diese Schüler durchmachen müssen. Alle wollen auf die Eliteunis oder zumindest noch auf eine gehobene Uni, aber die Anforderungen sind fast durchweg fehlerlose Perfektion. Während der Vorstellung musste ich oft lachen über die wirklich absurden Ausmaße des Phänomens, obwohl dieser Wahn eigentlich sehr traurig stimmt. Die Automaten aus dem Kurzfilm davor begegnen mir hier quasi in Fleisch und Blut, denke ich das ein oder andere Mal. Schön fängt der Film auch die allzu menschlichen Einwände und leicht kritischen Überlegungen der Schüler sowie der Eltern ein. Der Wahn bleibt aber auch in diesen Situationen immer deutlich spürbar.

#dokdok #DOK140 Professionell unterstütztes Hecheln nach der Spitze. Absurdes gesellschaftliches Schauspiel in "Reach for the SKY".

Wieder etwas Pause. Sehr gut, Zeit ein bisschen Sonne draußen zu tanken und geistigen Freiraum zu schaffen für das nächste Highlight. Wieder im Kino, dann aber zunächst ein weiterer kurzer sehr außergewöhnlich animierter Film aus Frankreich, "8 Bullets" . Die Handlung ist sehr abstrakt, es geht um einen in sich zerrissenen Menschen. Das Ganze ist ziemlich surreal gehalten. Einen Eindruck könnt ihr euch im Trailer  verschaffen.

Im Anschluss dann folgender wirklich herausragende Film. Als Filme-Gern-Schauer, der auch vor härtere Kost nicht zurückschreckt, ist man doch einiges gewohnt, was Drogen oder Gewalt anbelangt. Aber eine Doku kann wegen ihrer Authentizität bei mir irgendwie einfacher sehr intensive Gefühlsreaktionen hervorrufen. In diesem Fall wie Ekel, Antipathie oder die Fähigkeit mit zu leiden. Der Film "The Other Side"  schaffte dies wirklich mit Leichtigkeit durch seine extreeeem intime Nähe, die er zu einem Junkieliebespaar in Louisiana aufbaut. Deren Geschichte füllt die ersten 2 Drittel des Filmes aus, bei dem es um die nicht wirklich unkontrollierten oder chaotischen, nein(!), eher geordneten Alltäglichkeiten im Leben der 2 Protagonisten und ihres Umfeldes geht. Man ist wirklich bei allem dabei. I mean it! Das ist so unglaublich und auch so unglaublich gut und abschreckend, dass kann man eigentlich nicht in Worten beschreiben. Trotzdem entwickeln die Geschehnisse auch einige Symphatien für ihre Protagonisten und irgendwie wollte man ihnen aus ihrem Schlamassel am liebsten heraushelfen, nur das Wie ist wohl eine schwierig zu beantwortende Frage. Und dann, dann steckt man da plötzlich im letzten Drittel des Filmes drin, welches fast wie ein andere Doku zu seien scheint und trotzdem sehr passend ist. Man wohnt einer weiteren Parallelgesellschaft in Louisiana bei, einer bürgerkriegsparanoiden waffenaffinen Gruppe junger und mitteljunger Männer, die ihre Ansichten frei herauslassen und auch ausleben. Einige in durchgängig genialer Optik präsentierte WTF-Momente später sitze ich leicht kopfschüttelnd im Kinosessel und die Bilder der letzten 90 Minuten rotieren noch ordentlich im Kopf herum.

#dokdok #DOK140 "The Other Side" Abgründe Lousianischer Hinterwäldler. Extreme Intimität und animalisch Abstoßendes. Highlight!

Liebe macht blind. ...und Drogen erst!

Als nächstes begebe ich mich auf die Krim. Ich habe mir die Doku " Back Home" mit ins Programm genommen, weil ich einmal unabhängig von unseren Medien und dem Internet mehr Klarheit für mich schaffen wollte, was die einheimische Bevölkerung mit der recht abrupten Veränderung der nationalstaatlichen politischen Situation eigentlich anfängt, wie sie dazu steht. Die Entscheidung war goldrichtig. Nach der Doku bin ich mir sicher, einen wahrhaften Eindruck vom Geschehen auf der Krim , dem Vorgehen Russlands und der Stimmung vor Ort zu haben. Inna Denisovas Ansatz der Doku, war dabei eher privater Natur, auch wenn den Umständen entsprechend natürlich ein politischer Film daraus geworden ist. Sie, die sie als Kind mit 11 Jahren aus ihrer geliebten Heimat, "der Krim", durch den Umzug der Eltern nach Moskau entrissen wurde, wollte einfach nachspüren, ob den Menschen dort gerade auch ihre Heimat verloren geht. Da sie selbst kein Ukrainisch spricht und russische Staatsbürgerin ist, kann man bei ihrer Berichterstattung wahrlich von einem neutralen Beobachter ausgehen. Wie sie selbst sagt, ist sie weder pro-ukrainisch noch pro-russisch, sondern pro-menschlich. Details der Doku möchte ich an dieser Stelle auch gar nicht anführen, sollten es doch dem Zuschauer überlassen bleiben, diese für sich selbst zu erkunden. In der Frage- und Antwort-Runde nach dieser Weltpremiere, werden noch einige zusätzlich im Film zu sehende Details aus den anwesenden Protagonisten (ursprüngliche, nun weggesiedelte Krimbewohner) herausgekitzelt. Nur soviel, trotz anfänglichen wohlgeheißenem Russlandanschluss der Mehrheit der Krimbewohner ist diese durch eine Mediensuggestion entstandene positive Stimmung mittlerweile einer herben Ernüchterung gewichen und selbst die Alten, welche noch die vorherige Zeit unter Russland kannten, ändern mittlerweile ihre eher pro-russische Einstellung. Dieser Film markiert mein erstes zeitaktuelles politisches Highlight dieses Festivals.

#dokdok #DOK140 Einheimische bringen die authentischsten Eindrücke über den Stand der Dinge. Emotionale Zeitgeschichtsstunde in "Back Home"

Bis hierher war es schon ein wahnsinnig toller voller DOK-Tag, jeder Film ein Volltreffer. Eigentlich könnte ich jetzt schon Schluss machen, dank leichtem Schlafdefizit würde es mir mein Geist und Körper danken. Aber ich hab ja noch ein Ticket für den heutigen Tag in petto. Dieses hab ich mir eher so auf Verdacht hin ausgewählt. Denke mir nun, ich schau einfach, was die ersten 30 Mintuten bringen und falls es mir nicht zusagt, schnell ab nach Hause. Also sitze ich schon leicht schlaftrunken um Viertel nach 10 in meiner letzten Vorstellung des Tages. Der Saal ist recht groß und zu dieser Uhrzeit auch nicht mehr ganz so gefüllt wie am Rest des Tages. Na gut, die Thematik ist auch recht speziell. Dazu aber gleich mehr. Wie gewohnt läuft zuerst ein kurzer Film, von einem Regisseur der nach erstmaliger erfolgreicher DOK-Einreichung (Achtung!) irgendwann in den 60ern nun seinen zweiten Kurzfilm präsentiert, im stolzen Alter von 88 Jahren. Kurzweilig werden in einer echten Höhle Wandmalereien lebendig und versetzen den Zuschauer zurück in Urzeiten. "Signum"  gefällt dabei vor allem durch sein Ende. Denn beim Schritt aus der Höhle landen wir überraschend in einer Großstadt und schauen auf raffiniert gestaltete "Graffiti Character". Diese Brücke ist sehr gelungen und der Bogen zur nun folgenden ungleich bedeutungsschwangeren Malerei gezogen.

Denn in der folgenden Weltpremiere "Fastentuch 1472"  geht es um eine zum Zwecke des Bilderfastens eingeführte Stoffverhängung in einer Kirche in Zittau, auf der mit der Zeit die markantesten biblischen Legenden aufgemalt worden. Uralter von Bedeutung gepimpter Stoff trifft auf mittelalterlichen Stoff sozusagen. Wie ich schon meinte, Bibelmythologie ist wirklich ein recht spezielles Thema. Von mir kann ich auch nur behaupten, durch unseren geprägten Kulturraum natürlich schon das ein oder andere Element daraus vernommen zu haben. Wer kennt nicht die Kreuzigung Jesu oder dessen Wiederauferstehung, die Vertreibung aus dem Paradies, Noah oder das Jüngste Gericht? Da auch ich sonst nicht kirchlich geprägt bin, kenn' ich die Details somit auch nicht so wirklich. Was mich aber mitlerweile immer interessiert, sind allgemein alte Geschichten, Legenden, Mythen, woher auch immer. Gerade auch wenn es um Götter geht. Will man das Weltenspiel zutiefst verstehen, dann ist ein offenes Interesse meines Erachtens extrem wichtig. Tatsächlich besteht die Fastentuchdoku zu ca. 60% aus der Nacherzählung der gemalten Szenen der biblischen Mythologie. Das Tuch an sich stellt damit einhergehend eine der ersten comicartigen langen Bildergeschichten der Welt dar. Comics. Ach cool! So! Es ist an der Zeit zu erwähnen, dass mich die Mythen dermaßen zum metaphysisch  transzendenten  Assozieren angeregt haben, dass ich natürlich noch bis zum Ende dabei geblieben bin. Manches Detail korrespondierte einfach so mit meinem autodidaktisch entworfenen komplexen und doch sehr speziellen Weltbild. Ich war sehr fasziniert! Das Durchhalten fiel auch deshalb leicht, da die einzelnen Episoden der Geschichte von interviewten Monologsequenzen umkleidet waren, in denen einerseits Erläuterungen zur Zeit der Entstehung des Tuches, dessen Besonderheiten und vor allem philosophische Betrachtungen und Einsichten gegeben wurden. Einer der dabei in den Raum gestellten Sätze ging ungefähr so: "Wenn man ein Bild permanent vor der Nase hat, dann erkennt man es irgendwann nicht mehr." In unsrer bildreichen Kultur sicher kein übler Ideenanstoß. Nun und in der Doku nicht der einzige. Auch das Sounddesign des Filmes sollte an dieser Stelle Erwähnung finden, sehr eigen und düster unterstrich dieses unterschwellig genial den mystisch göttlichen Reigen. Reich belohnt endete somit für mich ein Tag voller Highlights, mit einem riesigen Paukenschlag für mein persönliches Weltgefühl.

#dokdok #DOK140 Der Film hat viele wahrhaft transzendente Momente. Bei dem alten Stoff aus dem "Fastentuch 1472" gewoben ist, kein Wunder!


Hier lest ihr den dritten Teil: Starre, zerbrechliche und wandelbare Menschen


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