Midsommar und Wir: Die Oscars versagen, wenn es um Horror geht

02.02.2020 - 16:00 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
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Auch bei den Oscars 2020 wird das Horrorgenre unter den Teppich gekehrt und filmische Meisterwerke und beeindruckende Schauspielleistungen mal wieder ignoriert.

Vor 2 Jahren schlug Jordan Peeles Horrormeisterwerk Get Out hohe Wellen. Gemeinsam mit Guillermo del Toros Shape of Water wurde dem Genrefilm bei den Oscars endlich die gebührende Aufmerksamkeit zuteil. Eine Renaissance des Horrors blieb allerdings aus. Zwei Jahre später fällt ein Blick auf die Oscar-Nominierungen 2020 äußerst niederschmetternd aus.

Zwischen griechischen Mythen und sexuell aufgeladenem Seemannsgarn sorgte das intime Spiel von Robert Pattinson und Willem Dafoe in Der Leuchtturm für eine wahnsinnige, beklemmende Atmosphäre. Obwohl der beste Horrorfilm 2019 eine Nominierung in der Kategorie Beste Kamera erhielt, wurde die herausragende Schauspielleistung ignoriert.

Masturbierende Leuchtturmwärter, schnittige Doppelgänger und verstörende Orgien im Blumenbukett: das vergangene Jahr hatte zahlreiche Horror-Highlights zu bieten, die über ihr Genre hinaus vor allem durch handwerkliche Klasse und tiefe metaphorische Unterbauten überzeugten und von den Oscars gnadenlos ausgeschlossen wurden.

Kein Oscar für Midsommar: Florence Pugh wurde für den falschen Film nominiert

Florence Pugh in Midsommar

Eine Beste Nebendarstellerin-Nominierung für Florence Pughs Darbietung in Little Women ist vollkommen verdient. Jedoch bleibt ein bitterer Beigeschmack, denn in Ari Asters Midsommar kotze Pugh förmlich ihre Seele auf die Leinwand und brachte uns eine der eindringlichsten Leistungen des vergangenen Kinojahres.

Das gleiche Schicksal teilte bereits Toni Collette, die in Asters Debütfilm Hereditary ebenfalls sämtliche menschliche Emotionen in einem verstörenden Horrorwerk unterbrachte und durch ihre Nicht-Nominierung bei den Oscars 2019 unter Horrorfans für Empörung sorgte.

Midsommar gebührt jede Anerkennung. Zwar lässt der albtraumhafte Schweden-Trip ein wenig die Unberechenbarkeit von Hereditary vermissen, doch wird hier gekonnt verstörendes WTF-Stakkato mit einem rohen Beziehungsdrama verheiratet.

Künstlerisch und raffiniert verwebt Aster zahlreiche Metaphern und Prädestinationen in seine Bildkompositionen, die uns unaufhaltsam auf den feurigen Ausgang der toxischen Beziehung zusteuern lassen.

Florence Pughs gibt in Midsommar alles und hätte mit einer Nominierung als Beste Hauptdarstellerin Scarlett Johanssons Netflix-Scheidung locker den Rang ablaufen können.

Jordan Peeles Wir: Zu gruselig für die Oscars?

Lupita Nyong’o in Wir

Zahlreiche Filme mit herausragenden Darstellern werden jedes Jahr übersehen, da sie schlicht zu klein sind und ihnen keine angemessene Auswertung beschert wurde. Im Falle von Wir gibt es allerdings keine Ausreden. Mit einem Einspiel von weltweit 255 Millionen Dollar war Jordan Peeles Zweitwerk der erfolgreichste Original-Horrorfilm 2019.

Während Get Out seine sozialkritische Message sehr offensiv auf die Leinwand brachte, ist diese in Wir etwas tiefer unter der Horrorfilm-Oberfläche versteckt. Peele beweist auch hier sein Können, durch geschickte Manipulation Unbehagen und Grusel in unsere Köpfe zu pflanzen. Mit Subversion bekannter Genretropen und grandiosen Comedy-Szenen legt Wir den Finger tief in die Wunde des gegenwärtigen Amerikas.

Thematisch weist Wir zahlreiche Ähnlichkeiten zu dem mit 6 Nominierungen gekürten Thriller Parasite aus Südkorea auf, der allerdings nur dezente Berührungspunkte mit dem Horrorgenre teilt. Ja, Parasite ist der bessere Film und zwei zu ähnliche Filme hätten der Vielfalt der Oscarnominierungen geschadet. Vollkommen unverständlich ist für mich aber, dass nicht wenigstens Lupita Nyong'o für ihre schauspielerische Leistung beachtet wurde.

Nyong'o schafft in Wir die ultimative Immersion und Illusion. Ihre Doppelrolle lässt uns vergessen, dass diese zwei diametralen Charaktere ein und die selbe Person sind. Ihrer bösen Doppelgängerin mit kehlenzerreißender Stimme verleiht sie einen tief verankerten Schmerz, der noch lange nach dem Ende des Films zu spüren ist.

Warum hat die Academy Angst vor Horror?

Zu skandalös? Der goldene Handschuh

Die erwartete Renaissance des Horrors nach Get Out ist ausgeblieben. Zumindest wenn wir auf die Anerkennung des Genres bei den Oscars blicken. Aber das sind Horrorfans schon seit Jahrzehnten gewohnt. Horror galt schon immer als schwarzes Schaf unter den Filmgenres und nicht zuletzt durch die Hays Code-Ära, Video Nasties und dem späteren Zensurwahn wurde das Genre oft zu einem Feindbild verklärt.

Horror konnte nie aus seinem eigenen Schatten treten. Der Oscar-Sieg des Das Schweigen der Lämmer als Bester Film entblößte die öffentliche und beschämte Wahrnehmung von Horror, als dem Film zuvor sein eigenes Genre abgesprochen wurde. Nein, das wandelbarste und vielfältigste aller Genres hat die ständigen "Ist das überhaupt Horror?"-Diskussionen nicht verdient.

Horror hat in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, dass das Genre vielschichtige und anspruchsvolle Werke hervorbringt, die zugleich gruseln, schockieren als auch durch bitterböse Sozialkritik zum Nachdenken anregen. In den Augen der Academy sind wir Horrorfans aber immer noch Punks, die im Sternerestaurant der goldenen Trophäen unerwünscht sind - ich esse sowieso lieber Pizza.

Seid ihr enttäuscht, dass Horrorfilme bei den Oscars übergangen werden?

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