Ryu (Rinko Kikuchi) ist eine Einzelgängerin, deren zerbrechlich-schöne Erscheinung in krassem Gegensatz zu ihrem Doppelleben steht: Sie arbeitet nicht nur nachts auf Tokios Fischmarkt, sondern nimmt tagsüber auch Aufträge als Profikillerin an. Eines Tages verliebt sich Ryu in ihr potentielles Opfer, den spanischen Weinhändler David (Sergi López), und lässt sich auf eine leidenschaftliche Affäre mit ihm ein. Ein Toningenieur, beseelt von den Klängen Tokios und fasziniert von der geheimnisvollen Ryu, wird Zeuge der Liebesgeschichte, die jenseits aller Regeln ihren Lauf nimmt.
Vor dem Hintergrund der schillernden Kulisse der japanischen Hauptstadt erzählt die
spanische Regisseurin Isabel Coixet mit Eine Karte der Klänge von Tokio eine dramatische Geschichte über widersprüchliche Leidenschaften und die Abgründe
menschlicher Gefühle, über die tiefe Einsamkeit der Großstadtmenschen, den Abschied
von geliebten Menschen und über die Möglichkeiten des Trosts.
Im Interview spricht Isabel Coixet über Gummistiefel, frisch geschlachteten Thunfisch und ihre dunkle, hoffnungslos romantische Seite.
Wie kam es dazu, dass Sie einen Film in Tokio gedreht haben?
Ich habe einige Zeit in Tokio verbracht. Wie viele Touristen bin ich eines Tages auf den
Tsukiji Fischmarkt gegangen und habe dort fotografiert. Ich sah ein hübsches junges
Mädchen, das mit einem Wasserschlauch das frische Blut eines großen Thunfisches
beseitigte. Als sie bemerkte, dass ich Fotos von ihr machte, wurde sie wütend und fing an
mich anzuschreien, also hörte ich auf. Auf dem Weg zurück ins Hotel dachte ich darüber
nach, warum sie so wütend war. Ich fing an, mir in meiner Fantasie eine Geschichte über
dieses Mädchen auszumalen. Ich dachte an ihre Gummistiefel zwischen dem
geschmolzenen Eis und dem Blut von frisch geschlachtetem Thunfisch. Auf einmal wurde
mir klar, dass ich diese Geschichte erzählen wollte. Die Geschichte einer harten,
zurückgezogenen, geheimnisvollen und verletzten Frau, die ein Doppelleben führt: eine
Fischmarkt-Arbeiterin, die putzt, Kisten schleppt und zeitweise Aufträge als Profikillerin
annimmt.
Welche Aspekte haben Sie an Tokio am meisten interessiert?
Ich mag den Kontrast zwischen großen, modernen Gebäuden und der Tatsache, dass
man an jeder Ecke Tempel und Friedhöfe finden kann. Auch diese Mischung aus
Popkultur und hoher Kunst ist für jemanden wie mich, mit meinem widersprüchlichen
Geschmack, unwiderstehlich. Ich kann morgens Hardcore-Mangas lesen und abends
Flaubert und Goethe.
Was hatten Sie für ein Verhältnis zur japanischen Kultur und zum Film vor dem Dreh? Sie
haben ihre erste Produktionsfirma immerhin Misswasabi genannt…
Ich liebe japanisches Essen und bin süchtig nach Wasabi, ich esse es sogar zu Paella!
Also habe ich meine Firma Misswasabi genannt – nach mir! Ich bin ein großer Fan von
Yasunari Kawabata, Haruki Murakami, Tanizaki und Banana Yoshimoto. Ich mag auch
klassische und zeitgenössische japanische Filmemacher wie Kore Eda und Naomi
Kawase…
Inwieweit spielen Raum und Schauplatz eine Rolle wenn Sie Filme drehen, insbesondere
in einer globalisierten Welt?
Das Schöne ist, dass ich inzwischen die Möglichkeit habe überall auf der Welt zu drehen.
Das Filmemachen ist für mich ein Abenteuer und eine Entdeckung von Landschaften und
Charakteren, die ich mir durch die Kamera aneignen kann. Ich empfinde es auch als eine
eigenartige Freiheit außerhalb meines Landes und meiner Stadt zu drehen, weil ich das
Unbekannte und Unerwartete daran liebe. Ich bin glücklich, Ideen unabhängig von
Sprache und Hintergrund umsetzen zu können.
Betrachtet man die drei Hauptcharaktere von Eine Karte der Klänge von Tokio,
was macht sie besonders interessant und welchem fühlen Sie sich als Filmemacherin am
nächsten?
Ich bin allen drei Charakteren sehr nahe. Ich denke ein Teil von mir steckt in dem
Toningenieur, als jemand, der durch die Leben Anderer lebt. Ein anderer Teil ist dem
Charakter von Sergi López sehr ähnlich – ich liebe Essen, Wein und Sex. Und ein sehr
dunkler und hoffnungslos romantischer Teil von mir steckt auch in Rinko Kikuchis Rolle.
Die Auftragsmörderin ist eine klassische Filmfigur, nicht nur im Film Noir… Wie haben Sie recherchiert um Ryus Charakter zu gestalten?
Es gibt einige junge Frauen, deren Väter Yakuza-Killer sind und die sich selbst in dem
Milieu bewegt haben. Manche von ihnen sind ausgestiegen (meistens aus Liebe) und
haben Autobiographien geschrieben, die ich gelesen habe. Aber ich wollte Ryus Handeln
nicht erklären oder rechtfertigen. Ich wollte eine neue Art Femme Fatale schaffen: jemand
der tief drinnen weiß, dass es falsch ist, was sie tut und nach Erlösung sucht.
Wie würden Sie die Beziehung zwischen David und Ryu beschreiben?
Ich würde nicht unbedingt sagen, dass die Beziehung der beiden aufrichtig ist, aber sie ist auf jeden Fall sehr real. Die Tatsache, dass sie für ihn stirbt, dass er niemals wissen wird, was wirklich passiert ist und sie ihn für den Rest seines Lebens in seiner Erinnerung heimsucht finde ich sehr berührend.
Wie kamen die Schauspieler zu ihren Rollen?
Ich habe Davids Rolle Sergi López auf den Leib geschrieben, weil ich wusste, dass er den Charakter perfekt und mühelos transportieren würde. Sergi López ist einer der unterschätztesten europäischen Schauspieler, er wirkt immer als würde er sich selbst spielen, aber ich kenne ihn mittlerweile sehr gut und kann nur sagen: Es stimmt nicht. Für die anderen Rollen habe ich ein Casting in Tokio gemacht. Rinko Kikuchi war umwerfend, sie ist einfach ein faszinierender Mensch. Die restlichen Schauspieler sind in Japan alle sehr bekannt, und ich finde sie haben ihre Sache wirklich gut gemacht.
Der Film beginnt mit einer “Nyotaimori”-Szene, dem auf Frauenkörpern angerichteten
Sushi. Können Sie uns erklären was es damit auf sich hat?
Nyotamori ist in Japan sehr umstritten, aber ob es den Leuten gefällt oder nicht, es ist eine Tatsache. Für mich ist diese Szene deshalb wichtig, um zu verstehen, dass es für Midoris Vater, Nagara-San, eine sehr unangenehme Situation ist und seine heftige Reaktion auf die Nachricht von Midoris Tod in filmischer Hinsicht an Dramatik gewinnt. Ich war der
Ansicht es wäre auch ein guter Weg den Film mit einer Szene zu beginnen, die zeigt wie
verkehrt die Wahrnehmung Japans durch Außenstehende oftmals ist.
Wie würden Sie ihre Art Filme zu machen und Ihre Einflüsse beschreiben?
Ich glaube ich bin eine zwanghaft neugierige Person, was mich auch zu einer
zwanghaften, neugierigen und furchtlosen Filmemacherin macht. Meine Einflüsse waren
immer eher literarisch als filmisch. Aber zu meinen Lieblingsfilmen zählt alles von Kore-
Eda, Naomi Kawase, Arnaud Desplechin, Alexander Payne, den Coen-Brüdern (Ethan Coen, Joel Coen)… Ich bin
auch ein großer Fan von Christopher Guest Filmen: Das sind die besten Komödien!
Was sind ihre Ziele als Filmemacherin?
Ich möchte weiterhin lernen. Weiterhin mit großartigen Schauspielern und Crews arbeiten.
Weiterhin das Gefühl haben, dass meine Filme manchen Menschen etwas bedeuten und
sie auf ganz besondere Art berühren.
Sie haben einmal gesagt: “Das Kino fängt da an, wo das Glück endet.“ Könnten Sie das näher erläutern?
Das habe ICH gesagt? Da muss ich wohl betrunken gewesen sein.
Mit Material von Alamode