Im frühen 20. Jahrhundert wurde die Filmindustrie von Skandalen rund um ungewöhnlich offene Filme und eine noch viel offenere Schauspielszene geplagt. Der Vergewaltigungsskandal um Fatty Arbuckle, die tödliche Überdosis von William Desmond Taylor und, besonders schlimm, die Blitzscheidung von Mary Pickford und nur kurz darauffolgende Heirat mit Douglas Fairbanks. Die Öffentlichkeit war empört. Es wurde nach Kontrolle der Filmindustrie geschrien, angefangen schon beim heute lächerlich harmlos wirkenden Kiss (1896, William Heise und Thomas Edison). Was folgte, waren mehr oder weniger koordinierte Zensurversuche, die 1934 in der Durchsetzung des Motion Picture Production Codes (Hays Code) mündeten.
Schlechte Zeiten für die Filmindustrie
Um das Jahr 1915 herum, befindet sich das Lebensumfeld der Filmindustrie in einem unhaltbaren Zustand. Ein Urteil des Obersten Gerichtshofs sprach dem neuen Medium den Kunststatus ab, Meinungsfreiheit galt also nicht für die Filmproduktion. Je nach Bundesstaat verteilte die Polizei oder die Politik Vertriebslizenzen, oft nur nach eigenem Gusto. Auch frühe Versuche der Selbstzensur schlugen wegen zu großer moralischer Willkür der Kontrolleure fehl (zum Beispiel beim New Yorker National Board of Review). Als Reaktion auf die Schreie nach fairer Koordination wollte der Amerikanische Kongress ein bindendes Zensurgesetz verabschieden. Sowas ist natürlich immer eine schlechte Idee. Deswegen gründete sich 1922 die Motion Picture Producers and Distributors of America Association (MPPDA), die sich später in Motion Picture Association of America (MPAA) umbenannte. Erster Präsident war William Harrison Hays, erzkatholisches Oberhaupt des Republikanischen Nationalkommitees. Die MPPDA sollte den Ruf der Industrie reinwaschen und ironischerweise rigorose Zensur verhindern. Deswegen wurden die noch nicht definierten Moralkriterien anfangs kaum angewendet. Der Production Code enstand erst 1930 und sollte “objektive” Filmbewertung anhand fester Kriterien ermöglichen.
12 Kategorien für eine weiße Weste
Die Regelungen des Hays Code umfassten 12 illustre Kategorien: Kriminalität, Sex, vulgäres Verhalten, Obszönität, Profanität, Kostüme, Tänze, Religion, Orte, Nationalgefühl, Titel und abstoßende Themen. Wichtig war hierbei immer, dass Religion, Nationalgefühl, Gesetz und der auf religiösen Regelwerken aufgebaute Moralapparat positiv dargestellt werden. Sex um seiner selbst willen war nicht mehr darstellbar, nichtmal leidenschaftliche Küsse oder suggestive Tänze sollten ihren Weg in die Kinos finden. Doppelbetten, Schwangerschaft, Geburten, Drogen, Prostitution: Nein, danke.
Fluchen vor der Kamera war ein No-Go, was auch den “Missbrauch” von Gottes Namen beinhaltete. Anstatt “Oh, God!” war es also “Oh, Boy!”. Bei den auf den christlichen Werten ihrer Verfasser beruhenden Regeln wurde nicht selten die Grenze zum Rassismus übertreten. Weiße Sklaverei durfte niemals dargestellt werden und eine Mischung der weißen und schwarzen “Rassen” sollte unter keinen Umständen im Film zu sehen sein. Die Darstellung krimineller Handlungen war komplett untersagt, außer zu aufklärerischen Zwecken. In dieselbe Richtung zielte das Verbot, die amerikanische Flagge und Kultur negativ hinzustellen oder offen zu kritisieren. Das Gesetz musste kritiklos respektiert werden. Das ergab paradoxe Problematiken: Wie sollte man die Boston Tea Party darstellen, wenn sie gegen damals geltens Recht verstieß?
Der Hays Code begründete seine eigene Strenge damit, dass Filme entgegen juristischer Festlegung eine Kunstform seien und deswegen moralische Pflichten hätten. Denn: “Kunst kann moralisch böse Effekte nach sich ziehen.” Die Verteidigung des Guten wurde aber erst 1934 mit voller Inbrunst verfolgt.
Regime mit fester Hand
In der Großen Depression lag es vielen Filmschaffenden am Herzen, Realität und Probleme Amerikas filmisch darzustellen. Filme wie Anna Christie, Sie tat ihm unrecht (Mae West), Night After Night, Marokko – Herzen in Flammen, Red Headed Woman oder Monte Carlo befassten sich mit bis dato unüblich selbstständigen Frauenfiguren und sprachen Themen wie Prostitution oder Vergewaltigung offen an. Auch Gangsterfilme wie Der kleine Cäsar oder Narbengesicht boomten und zogen rigorose Kritik nach sich. Der Hays Code war praktisch wirkungslos. Insbesondere der Druck seitens christlicher Interessengruppen wie der Catholic Legion of Decency auf führten 1934 zur Bildung der Production Code Administration unter Joseph Breen. Regelverstöße wurden fortan mit einer Strafe von 25.000 Dollar bestraft. Die Filme konnten trotzdem veröffentlicht werden, allerdings nicht in den der MPPDA unterstehenden Kinos. Eine Freigabe war für den wirtschaftlichen Erfolg also zwingend.
Einerseits war die neue Strenge sehr einengend, andererseits konnten Produzenten anhand einfacher Richtlinien leicht verdauliches Popcornkino in Massen auf die Leinwand bringen. Zusätzlicher Wirtschaftsfaktor war die Einführung der ersten Tonfilme (unter anderem Der Jazzsänger). Das Kino wurde zum optimalen Fluchtmedium im Angesicht der Großen Depression und des Krieges, mit Filmen wie King Kong und die weiße Frau, Ist das Leben nicht schön? oder Meuterei auf der Bounty, die natürlich nichtsdestotrotz Meisterwerke sind. Karrieren wie die der damals zu lasziven Mae West wurden beendet, aber einige Filme fanden Wege um den Production Code. So blieb der Satz “Frankly my dear, I don’t give a damn.” in Vom Winde verweht, wofür David O. Selznick 5.000 Dollar zahlen musste. Auch andere Werke,darunter Rebecca von Alfred Hitchcock, mussten ihr Ende entsprechend den Vorstellungen der Production Code Administration verharmlosen.
Das System war also nicht vollkommen unumgänglich. Ab den 1950er-Jahren machte sich der internationale Einfluss von Filmschaffenden wie Ingmar Bergman (Die Zeit mit Monika, Das siebente Siegel) bemerkbar. Nur die Produktion unterlag Beschränkungen, nicht der Vertrieb, so dass die ungehemmteren Auteur-Filme der europäischen Nouvelle Vague durchaus in amerikanische Kinos kamen. Der wirtschaftliche Druck, die Konkurrenz zum neu aufkommenden Medium Fernsehen und die Anerkennung des Mediums Film als Kunstform führten schließlich zur Liberalisierung des Production Codes im Jahr 1968. Ein Rating-System wurde eingeführt, dass dem der heutigen Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) ähnelt, deren Grundidee übrigens vom Production Code entliehen war.
Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1934 bewegte:
Sechs Filmleute, die geboren sind
22. Januar: Bill Bixby, Tim O’ Hara in Mein Onkel vom Mars
26. März: Alan Arkin, unter anderem in Little Miss Sunshine und Get Smart
28. September: Brigitte Bardot, dessen Mythos sich in Filmen wie Die Verachtung begründete
20. September: Sophia Loren, die mit Filmen wie Weiße Frau in Afrika berühmt wurde und auch in aktuelleren Filmen wie Nine dabei ist
9. Dezember: Judi Dench, die M in James-Bond-Filmen wie James Bond 007 – Ein Quantum Trost verkörpert
28. Dezember: Maggie Smith, die in Eine Leiche zum Dessert Dora Charleston spielte
Gestorben
30. Januar: Dorothy Dell, die für Shoot to the Works mit Mae West verglichen wurde
28. Juli: Marie Dressler, gewann 1930-31 den Academy Award für die beste Schauspielerin für ihre Rolle in Die fremde Mutter
1. März: Wilhelm Diegelmann, nebst Marlene Dietrich als Kapitän in Der blaue Engel
Drei Ereignisse der Filmwelt
26. Januar: Samuel Goldwyn kauft die Rechte zu Der Zauberer von Oz für 40.000 Dollar
11. Dezember: Fox bringt Bright Eyes heraus, ein Musical mit der Kindsschauspielerin Shirley Temple. Wer kennt schon “On the Good Ship Lollipop” nicht?
9. Juni: Erster Auftritt von Donald Duck in Die Kleine Henne
Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
1. Januar: Das amerikanische Gefängnis Alcatraz nimmt nun Gefangene auf Bundesebene an
14. Juni: Hitler ist auf Staatsbesuch in Italien und knüpft Bündnisse mit dem faschistischen Benito Mussolini
27. Oktober: 100.000 Kommunisten laufen unter Führung von Mao Zedong im “langen Marsch” durch das komplette China